Gut und sättigend: 3 Sterne

Christophersen„Er und sie, der Weggeher und die Zuhausebleiberin“
„Liebe Gesa, ich habe eine Entdeckung gemacht, die Dich sehr wahrscheinlich nicht überraschen wird: Ich ertrage keine Schlüsse. Anfangen ist immer leicht, Schlussmachen schwer. Vermutlich deshalb meine Begeisterung fürs Echo? Das Unvermeidliche noch etwas hinauszögern, indem man es verlängert und langsam ausklingen lässt …“ Das schreibt Tom 2004 an Gesa, auf einer seiner Postkarten, von denen er über die Jahre viele geschickt hat seit jener ersten von der polnischen Ostsee 1989. Damals war Tom 15 und Gesa 17, er spielte schon leidenschaftlich gern und gut Gitarre, sie fand ihn anfangs lästig, dann interessant. Während Gesa zuhause in Flensburg eine Familie gründet und Tom mit seiner Band tourt, halten sie ihre Freundschaft aufrecht. Eine Freundschaft, die erst durch die Distanz zu funktionieren scheint, denn Tom ist in der Nähe verschlossen und unkommunikativ. Darunter leidet in all den Jahren besonders Aga, die sich an der Ostsee in ihn verliebt hat, und auch Gesa bekommt seine Kälte zu spüren – nach einem Zwischenfall bei ihrer eigenen Hochzeit …

Der deutsche Autor Jan Christophersen, der mich mit seinem Debüt Schneetage von 2009 außerordentlich beeindruckt hat, ist ein sparsamer Schriftsteller. Er wirft weder mit Worten noch mit Gefühlen um sich, er schreibt leise und vorsichtig, klug und bedacht. In seinem zweiten Buch Echo porträtiert er eine Freundschaft, die seltsamerweise umso enger zu sein scheint, wenn die Freunde einander nicht sehen. Tom, der erfolgreiche Gitarrist, drückt sich durch seine Musik aus, und Gesa, die ihn gut kennt, hört zu und versteht. Ist Tom da, ist er schweigsam und verweigert Umarmungen, offenbart nichts Wichtiges, macht Smalltalk mit Gesas Mann. Er inszeniert sich als Einzelgänger und vermeidet Bindungen an andere Menschen. Gesa gibt nie zu, wie sehr sie das verletzt – bis es eines Tages nicht mehr weitergeht mit dieser Einbahnstraße einer Freundschaft.

Thematisch haben die beiden Romane von Jan Christophersen nicht das Geringste miteinander zu tun, und doch kann ich beim Lesen das Vergleichen nicht vermeiden: Ich vermisse in Echo das Tiefgehende, das Mystische und Bewegende von Schneetage. Da der Autor das Buch so aufgebaut hat, dass er von fast allen Ereignissen erst berichtet, wenn sie schon vorbei sind, und ich sie somit nicht miterleben kann, wirkt der ganze Roman selbst auf mich wie ein Echo. Er ist der Nachhall einer Geschichte, die längst erzählt wurde, und deshalb ein wenig blass, am Ausklingen. Andererseits spiegelt die Dynamik des Buchs die Dynamik der Geschichte wider: Tom ist einer, der nie da ist, einer, von dem es nur das Echo gibt, und so gesehen ist das Zusammenspiel von Form und Inhalt sehr gut gelungen. Perfekt dazu passt auch das Cover – einmal mit, aber eigentlich irgendwie ohne Tom. Ich habe das ganz subjektive Gefühl, dass der Autor an der Figur von Tom näher dran ist als an jener von Gesa, obwohl sie den Erzählpart bestreitet. Das ist aber vermutlich für mich deshalb momentan heikel, weil ich ein bisschen Gesa bin, nämlich Mutter von zwei Minirabauken, und bei der Beschreibung ihres Gemütszustands den Eindruck bekomme, dass sich ein Mann das eben so vorstellt, wie es sein muss, wenn man rund um die Uhr ein Baby stillt und sich vor lauter Überforderung beinahe selbst verliert. Wirklich eingefangen und abgeholt fühle ich mich davon nicht.

Sehr schön sind die Postkartentexte, die Einblick geben in das Chaos, das in Tom herrscht und das er nie zeigt, außer in seiner Musik. Er ist als Mensch zerbrechlich wie Glas, schrammt ganz bewusst haarscharf an der Liebe vorbei, erweist sich aber stets als treuer Freund. Jan Christophersens Buch ist seltsam und anrührend, wie das Duett zweier Stimmen, die harmonieren, obwohl sie nicht dasselbe singen. Was also tun mit Echo? Am besten lesen und sich selbst eine Meinung bilden über diesen Roman rund um verpasste Chancen, die zerstörerische Kraft des Schweigens und das Erwachsenwerden.

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Echo von Jan Christophersen ist erschienen im mare Verlag (ISBN 978-3-86648-204-3, 224 Seiten, 18 Euro).

Was ihr tun könnt:
Jan Christophersen beim Lesen zuhören und zusehen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.
Sophies Rezension zu Schneetage lesen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Kolbe„Wenn die Frauen nur deinen Namen hören, kriegen sie schon feuchte Höschen“
„Bei der Scheidung der Eltern durch das Amtsgericht hätte die Geschichte von Harry alias Hadubrand Einzweck, meine Geschichte als unabhängige Person beginnen können. Das wäre nicht zu viel verlangt gewesen für einen Vierjährigen.“ Wo auch immer sie beginnt, Harry hat in seiner Geschichte durchaus einiges vorzuweisen: schnelle und große Erfolge als Komponist schon in jungen Jahren, das Mentoring des Meisters Sebastian Kreisler und Frauen über Frauen über Frauen. Sogar der Geheimdienst ist interessiert an ihm – denn Harry lebt in der DDR. Während die meisten versuchen, auszureisen, gibt er sich ab und zu rebellisch, hält aber in letzter Instanz stets den Mund, um sein eigenes Vorankommen nicht zu stören. Zum Vater, der als Kulturfunktionär die Kunstszene ausspioniert, hat er nur sporadisch Kontakt, die Lebensbahnen laufen parallel, kreuzen sich von Zeit zu Zeit. Neben all dem Persönlichen steht ihnen auch die Politik im Weg, denn da der Vater einst aus Überzeugung in den Osten ging, muss der Sohn nun in einer Diktatur leben. Und denkt man an das germanische Hildebrandslied, sind die Namen der Figuren wohl bezeichnend.

Die Lüge von Uwe Kolbe ist ein verstörendes, politisches und für mich sehr männliches Buch. Seite um Seite folge ich dem Ich-Erzähler Hadubrand Einzweck in seiner nicht chronologischen Selbstdarstellung, bis ich mich plötzlich bei dem Gedanken ertappe: Was für ein Arschloch. Dann wird es auf einmal einfacher, das Buch zu lesen. Vielleicht, weil sich eine Schublade geöffnet hat, in der der Protagonist es sich mit all seinen Eigenschaften gemütlich macht: Eingebildet ist er, eitel, präpotent. „Ich genoss die Popularität, die damit einherging, verlegen wie schamlos zugleich.“ Die Frauen – Linda, Rebekka, Katharina, Vera, Susanne und wie sie alle heißen – wechselt er in rasantem Tempo und hinterlässt dabei Kinder sowie gebrochene Herzen. Und obwohl er den Vater selten sieht, gleicht er ihm in diesen Verhaltensweisen, hat er doch selbst haufenweise Stiefgeschwister und (Ex-)Stiefmütter. Über den Vater sagt er: „Er kommt vorbei, hält seinen Schwanz rein, an dem ein paar Privilegien hängen, und dann zieht die Karawane weiter.“ Während Harry überzeugt ist, mit kleinen Aufmüpfigkeiten den Obrigen Ärger zu bereiten und sich ab zu einen Tadel einfängt, zappelt er in Wahrheit brav im Netz und ist folgsam wie ein Lemming. Inwiefern sich das mit Uwe Kolbes Erlebnissen deckt, wäre interessant zu erfahren, heißt es doch, dass der Roman, der in den Jahren 1976 bis 1984 spielt, autobiografische Züge trägt.

Ich hatte von Uwe Kolbe, der selbst in Ostberlin geboren und dort als Lyriker berühmt geworden ist, eine viel poetischere Sprache erwartet und bin überrascht von seinem nüchternen, verqueren Stil. Manch Formulierung wirkt auf mich in ihrer Ernsthaftigkeit und Korrektheit „typisch deutsch“, auch wenn dies freilich kein adäquater Ausdruck bei der Beschreibung eines Schreibstils sein kann: „… kam es immer wieder zum Abhören von zwei, drei Schallplatten“ oder „… unter stechenden Schmerzen entleerte sich mein sonst sehr deutsches, verstocktes Gedärm“. Allerdings passt das Formale perfekt zum Inhalt, und das Gesamtpaket aus Einblick in die deutsch-deutsche Vergangenheit, Porträt eines rücksichts- und skruppellosen Mannes und das seines ebenso wenig charakterstarken Vaters sowie schnörkelloser, griffiger, irgendwie verdrehter Sprache ist stimmig. Es fiel mir jedoch mehr als einmal schwer, mich im Geflecht aus verschiedenen Zeitebenen und Perspektivenwechseln zwischen Vater und Sohn zurechtzufinden. Dies ist kein gefälliges Buch, sondern eher eins, das den Leser ins Wadl beißt, dabei grimmig knurrt und sich nicht so schnell abschütteln lässt. Auf interessante Art beeindruckend.

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Die Lüge von Uwe Kolbe ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-040221-9, 384 Seiten 21,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Einen Ausschnitt aus dem Roman bei den FAZ.net-Lesezeichen lesen.
Das Buch über ocelot.de bestellen.

Was andere über dieses Buch denken:
„Kolbe, selbst einst als Literatur-Wunderknabe der DDR gefeiert und von seinem Vater Ulrich für die Stasi ausspioniert, liefert mit „Die Lüge“ einen Schlüsselroman, ein komplexes Sittenbild aus der Mitte der Stasi-Hölle der DDR“, erklärt die Frankfurter Neue Presse.
„Kolbe will es dem Leser nicht zu einfach machen, seine Prosa hat keinerlei Liebreiz und kennt keine falsche Harmonie. Damit spiegelt sie den Stoff“, heißt es auf spiegel.de.
„Der Erzähler Kolbe will einfach sehr viel, manchmal zu viel. Er arbeitet mit Vor- und Rückblenden, mit Zeitsprüngen, denen zu folgen nicht immer einfach ist“, schreibt die Welt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Musik, oh wundersame Musik
“Musik war für die Frau, wie für ein ganz junges Kind, das perfekte Medium, um ihrer Innenwelt Ausdruck zu verleihen.” Und in den Goldberg-Variationen von Bach findet die Frau, die sich zur Pianisten ausbilden ließ, eine Möglichkeit, die Finger zu beschäftigen, während sie ihre Gedanken der Tochter widmet, die auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Jede der Variationen ist eine Herauforderung am Klavier, ist mit einem Thema kombiniert und mit einer Erinnerung verbunden – an die Tochter als junges Mädchen, als Studentin, als erwachsene Frau. Die Mutter schreibt ihre Gefühle auf, wendet sich der Musik und zugleich der Sprache zu: “Die Worte waren ein Netz zum Einfangen der Tochter.” “Die Frau war noch nicht wirklich das, was man eine alte Frau nennen würde, aber ein gutes Stück dem Ende entgegengekommen war sie schon.” Und dass sie nun den Rest des Weges ohne ihre Tochter gehen muss, ist für die Frau unerträglich. Auch die Beschäftigung mit Bach und seiner goldenen Musik kann den Schmerz nicht lindern.

“Musik lehrt einen eigentümliche Dinge über die Zeit, dachte die Frau, als sie kurz mit den Händen im Schoß auf die nackten Noten starrte. Musik führte aus der Zeit heraus und schuf einen inneren Zustand, in dem von Zeit noch keine Rede war. Musik erfüllte so sehr, dass Uhren aufhörten zu ticken. Und doch gab kein anderes Medium das Verstreichen der Zeit so präzise an.” Es ist Anna Enquists hochgelobter Roman Kontrapunkt, der mich – nicht zum ersten Mal in meinem Leben – wünschen lässt, ich hätte Ahnung von Musik. Eine Leidenschaft für Musik habe ich nie entwickelt, zu groß war seit jeher die alles verzehrende Liebe zur Literatur. Aber Anna Enquist, selbst Pianistin, verknüpft in diesem Buch Musik ganz eng mit Sprache. Für Musikliebhaber muss Kontrapunkt ein wahrer Lesegenuss sein, ich dagegen kann die beschriebenen Melodien nicht erklingen lassen, kann sie nicht hören, manche Passagen über die Musik sind mir so unzugänglich, als wären sie in einer Kunstsprache geschrieben: “Die Frau spielte die tragische Variation und fühlte sich in die verschiedenen Stimmen ein. Die Mittelstimme mit ihren klagenden Sekundenschritten. Den Bass, der dabei mitmachte. Die zerbröckelte, aufs Äußerste gedehnte Melodie, die zum Schluss bei vollem Bewusstsein in die Tiefe stürzte. Die scheußliche Dissonanz im letzten Takt vor der Wiederholung des zweiten Teils: ein fis und ein g, knallhart, gleichzeitig, dicht beisammen, um eine Lösung ringend.” Wissen über Musik hätte sicher zu meinem Verständnis dieses Romans beigetragen, aber auch so kann ich die Schwingungen spüren, die Stimmungen erfühlen (und ich kann die Goldberg-Variationen über youtube kennenlernen). Und diese Stimmungen sind in erster Linie Trauer, Schmerz und Wut.

Der Verlust hat in die Frau hineingeschnitten wie ein blitzendes Skalpell, Fingerübungen, Noten, Klänge und das Schreiben sind der Verband, der die Blutung stoppen soll. Etwas merkwürdig finde ich, dass es stets nur “die Frau” und “die Tochter” heißt, das macht den Erzählton sehr distanziert und durchzieht ihn mit einer unangebrachten Kühle. Vermutlich aber soll dieser erzählerische Schachzug die Universalität der Geschichte verdeutlichen. Bestsellerautorin Anna Enquist hat mit Kontrapunkt ein würdevolles, gramerfülltes Klagelied vom Abschiednehmen verfasst und eine Melodie über das Muttersein komponiert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr ruhiges, dunkles Cover mit einer Hand, die sich auf einem Klavier spiegelt. Eventuell hätte man die ebenfalls gespiegelte Steckdose wegretuschieren können.
… fürs Hirn: viel Wissenswertes über das Klavierspielen und Bach.
… fürs Herz: Schmerz. Nie sollte eine Mutter ihr Kind begraben müssen.
… fürs Gedächtnis: die Notenzeilen am Beginn der Kapitel.