Bücherwurmloch

„Lassen wir den Inhalt beiseite, reden wir über Emotionen. Du hast viel zu viele“
Die Männer sind abwesend. Die Männer sind im Krieg oder wurden verhaftet, sie sind tot und in ihrer Abwesenheit dennoch präsent, aber den Alltag bestreiten die Frauen allein: In einem alten Haus in Lemberg, das sich durch eine besondere Glasmalerei auszeichnet, lebt die Ich-Erzählerin mit ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter. Die Mutter, Marianna, ist eine gefragte und bekannte Opernsängerin, die sich in der aufwallenden Revolte der 1990er-Jahre für die Unabhängigkeit der Ukraine einsetzt. Sie wird auf offener Straße erschossen und fortan müssen die drei verbliebenen Frauen versuchen, nicht nur mit der großen Lücke umzugehen, die Marianna hinterlassen hat, sondern auch eine Antwort zu finden auf die Frage, ob sie für die richtige Sache gestorben ist – ob es so eine Sache überhaupt gibt, ob Politik es jemals wert sein kann, den Tod in Kauf zu nehmen. In nicht chronologischem Wechsel wird erzählt von Kindheit und Jugend sowie von der späteren Affäre mit dem Liebhaber von Marianna, auf die die Protagonistin sich vermutlich einlässt, um die Mutter auf diese Weise bei sich zu haben.

Zwar kann ich die Idee des Mannes als Stellvertreter, als Platzhalter für die Liebe zur Mutter, die ins Leere geht, verstehen, und doch war dies der Teil, der mir an Żanna Słoniowskas Roman weniger gefallen hat, weil ich die „Dreiecksgeschichte mit der toten Mutter“, wie es im Buch genannt wird, eher befremdlich fand. Die erste Hälfte dagegen hat mich vor allem sprachlich beeindruckt, Żanna Słoniowska findet großartige Bilder für diese tragische Geschichte, für diese Zeit der Frauen, die jetzt, durch die Geschehnisse in der Ukraine, an neuer Aktualität gewonnen hat. Die Autorin selbst nennt Russisch, Polnisch und Ukrainisch als ihre Muttersprachen, und ihre eigene Biografie zeigt, wie eng diese Länder immer schon verbunden waren: nicht nur durch die Sowjetunion, sondern durch die Menschen, die länderübergreifend verliebt waren, zusammengearbeitet und Familien gegründet haben. In „Das Licht der Frauen“ stehen eben nicht die vermeintlichen „Helden“ im Mittelpunkt, die an der Front kämpfen, es legt den Fokus auf ein Beziehungsgeflecht von Frauen, es ist eindrucksvoll, melancholisch und traurig.

Im Video auf der Website des Verlags sagt Żanna Słoniowska, dass Poesie und Literatur in der Ukraine und in Russland zum Alltag gehören, dass sie zu ihrer Mutter, die Journalistin war und immerzu gelesen hat, nur durchdringen konnte, indem sie mit ihr über Bücher sprach. Literatur ist Leben, sagt sie, das sind keine zwei getrennten Dinge.

Das Licht der Frauen von Żanna Słoniowska ist erschienen bei Kampa.

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„Motherhood could make some women whitewash anything“
Durch einen Zufall bin ich auf dieses Buch von Hilma Wolitzer aufmerksam geworden und habe es – wie schon Send Nudes von Saba Sams – allein aufgrund des Titels gekauft. Die Autorin kannte ich nicht, und erst ihre Kurzbio hat mir Aufschluss gegeben, dass sie die Mutter einer Schriftstellerin ist, die hierzulande vermutlich bekannter ist: Meg Wolitzer (mit deren Romanen, ich gestehe es, ich wenig anfangen kann). Auf dem dazugehörigen Foto hat Hilma graues Haar, sie ist mittlerweile 92 Jahre alt. Die in diesem gelben Band mit der Handgranatenzitrone versammelten Kurzgeschichten wurden alle zwischen 1966 und 1987 veröffentlicht, beispielsweise im Esquire oder in der Saturday Evening Post. Die letzte Geschichte stammt aus dem Jahr 2020 und greift zwei Figuren wieder auf, von denen einige der Storys handeln, wie eine Art Weiterführung bzw. Abschluss.

„The worst thing, she was certain, was not human misery, but its nakedness.“

Was mich fasziniert an dem, was Frauen vor Jahrzehnten geschrieben haben: dass die Themen sich nicht geändert haben, dass sie aktuell geblieben sind. In der titelgebenden Geschichte beispielsweise geht es im Kern um Mental Load: Da steht eine Frau im Supermarkt und kann vor lauter Überlastung nicht mehr weiter. Die anderen Storys handeln von Schwangersein und Mutterschaft, von Sexlosigkeit und den Erwartungen an Frauen. Sie sind gewitzt, frech, ein bisschen aufmüpfig, manchmal ein wenig gruselig und dabei stets überaus schlau. Sie bringen mich mehrmals zum Schmunzeln, vor allem eine Geschichte hat es mir angetan: Ein „sex maniac“ treibt dabei sein Unwesen in einem großen Haus mit vielen Wohnungen, und die Ich-Erzählerin flüchtet nicht, wie die anderen Hausfrauen, vor ihm, sondern hofft, ihm zu begegnen, denn es war „a long asexual winter“. Nicht alle Storys haben mich begeistert, aber insgesamt hatte ich viel Spaß mit Hilma Wolitzers originellen Einfällen und scharfen Beobachtungen sowie den smarten Frauenfiguren, die den Männern stets überlegen sind. Pretty hot für die 60er und 70er!

„Fuck love, I thought.“

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„We have one final trick, they said, and then they jumped“
Ich gebe es zu: Dieses Buch war ein reiner Titelkauf. Es ist mir irgendwo im Internet untergekommen, und ich dachte, das klingt doch gut – worum es geht, darauf hab ich gar nicht geachtet. (Wie gut hört sich außerdem der Name der Autorin an und ist das Cover nicht auch cool?) Volles Risiko also, und: Es hat sich ausgezahlt! Saba Sams hat mich mit ihren Kurzgeschichten absolut begeistert. Bis auf eine, die ich zu lang fand und irgendwie auch ein wenig sinnlos, haben sie die verrücktesten Gefühle in mir ausgelöst: Ekel, Verwunderung, Irritation, Empathie, bei der letzten hab ich fast geweint. Sie handelt von ein paar Stunden im Lockdown, erzählt aus der Sicht eines Kindes, das mit der Mutter in der Wohnung eingeschlossen ist. Ich weiß, viele Lesende in meiner Bubble betonen, dass sie nichts von der Pandemie in Büchern lesen wollen, aber ich bin der Meinung, dass alles, was wir wegen und in den Shutdowns erlebt haben, seinen Weg in die Literatur finden wird und muss. Dass da großartige, zeitgeistige Geschichten auf uns warten. „Send nudes“ ist 2022 erschienen, da ist es absolut legitim, dass eine Story die Pandemie als Hintergrundkulisse hat. Die anderen Geschichten spielen nicht in diesem Rahmen, in der ersten verliebt eine sehr junge Frau sich mehr in den Hund ihres Tinder-Dates als in ihn selbst, in der titelgebenden Story geht es um Körperlichkeit und Dating-Apps, und dann sind da noch die Zirkusmädchen und die Pflegekinder. In zehn Storys zeigt die Autorin aus Brighton eine erstaunliche Bandbreite, und nachdem ich sie alle gelesen habe, wünsche ich mir dringend einen Roman von ihr. Große Empfehlung!

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Anya ist mit ihrem Freund Luke im Urlaub und hat das Gefühl, dass die Beziehung eigentlich am Zerbrechen ist. Zwar kommunizieren sie noch, reden aber oft aneinander vorbei. Anya, die mit ihrer Schwester aus Ex-Jugoslawien geflüchtet ist, trägt schwer an dieser Vergangenheit, Luke ist allerdings ebenfalls unzugänglich und launisch. Doch zu Anyas Überraschung macht Luke ihr einen Antrag, und sie kehren als Verlobte nach London zurück. Bald darauf machen sie sich zum ersten Mal gemeinsam auf den Weg in Anyas ehemalige Heimat, wo sie zunächst auf die Hilfe einer früheren Freundin angewiesen sind, weil Anya ihr Notizbuch und ihr Handy im Flugzeug vergisst und die Adresse ihrer Eltern nicht weiß. Nach dem Besuch in Kroatien reisen sie nachhause zurück, und es stellt sich heraus, dass Anyas ursprüngliches Gefühl doch nicht so falsch war.

Olivia Sudjic hat ein seltsam zerfranstes, melancholisch-langsames Buch geschrieben, das im ersten Drittel meine Neugier noch aufrechtgehalten, mich dann aber immer mehr gelangweilt hat. Die Lobeshymnen kann ich nicht nachvollziehen, denn: Von der Schlagkraft, die die Autorin in ihrem Debüt Sympathie gezeigt hat, ist hier nichts zu spüren, stattdessen ist „Asylum Road“ ein Mischmasch aus vielem, nichts davon ist richtig ausgearbeitet. Da ist zum einen die fade, leidenschaftslose Beziehung zwischen Anya und Luke, bei denen man sich fragt, warum sie überhaupt zusammen sind, und naja, letztlich bleiben sie es nicht, doch nicht einmal das geht einem nahe, weil es so „egal“ beschrieben ist. Dann werden Heimatlosigkeit und Migration zwar angeschnitten, aber nicht tiefgehend genug thematisiert, um irgendeine Art von Emotion zu erzeugen. Die Protagonistin ist passiv, uninteressant und einigermaßen blutleer. Als dann auch die Begegnung mit den Eltern zu schlicht und ergreifend gar nichts führt, ist meine Laune endgültig Richtung Enttäuschung gekippt. Ein Roman, der ausnahmsweise mal so absolut gar nichts in mir ausgelöst hat außer das Gefühl, ihn nicht rechtzeitig abgebrochen zu haben.

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„Die künstliche Bewertung menschlicher Arbeit bringt die Frau in eine ausgesprochen ungünstige Position“
Zuerst einmal: Was bedeutet eigentlich Female Choice? 80 Prozent der Weibchen akzeptieren überhaupt nur 20 Prozent der Männchen. Im Naturreich ist dies die gängigste Methode zur Fortpflanzung, Männchen müssen Leistung erbringen und sich „bewerben“, das Weibchen entscheidet. Es ist kein Naturgesetz, weil es einige wenige Ausnahmen gibt, aber kommt recht nah an eines heran. Umgelegt auf die Menschen, zeigt die Biologin und Evolutionsökologin Meike Stoverock, wie und warum wir vom Zeitpunkt der Sesshaftwerdung bis heute in dem System gelandet sind, in dem wir im Moment leben. Sie schildert Hierarchien und Alpha-Merkmale, bindet religiöse Anschauungen und politisches Machtdenken mit ein. Ihre Ausführungen machen deutlich, aus welchem Grund und auf welche Weise Frauen davon abgehalten wurden und werden, Geld und Besitz zu haben oder über den eigenen Körper zu bestimmen. Diese Heranführungen sind fast zwingend logisch, vieles davon wusste ich bereits, finde es aber sehr gut ausgearbeitet und verständlich erklärt.

Schwieriger wird es dann mit dem hinteren Teil des Buchs bzw. dem Ausblick. Die Schlussfolgerungen, die die Autorin evolutionsgeschichtlich aus dem Zusammenspiel der Hormone, des Sexualtriebs und der männlichen Aggression ableitet, mögen ebenfalls logisch sein, sind aber meiner Meinung nach unmöglich umzusetzen. Und es ist auch fraglich, wie sehr wir auf Pornografie und Prostitution setzen können und wollen – immer den Triebabbau vor Augen – in einem System, das exakt in diesen Bereichen den Frauenhass aufs Schlimmste auslebt. Ich gebe ihr Recht, dass das Problem der heutigen Zivilisation der Androzentrismus ist und die Verdrängung der Frau in den Privathaushalt, ich sehe auch komplett die Vorteile ein, die eine Menschheit ohne Gott hätte (siehe die christofaschistischen Auswüchse aktuell in den USA), halte es aber für mehr als unwahrscheinlich, dass die Menschen zu diesem Erkenntnisschritt gelangen können und mehr noch, dass sie sich daran machen, aktiv zu Female Choice zurückzukehren. Wir sehen ja bereits an den Incels, wie Männer sich verhalten, die tatsächlich nicht von den Frauen für die Fortpflanzung in Betracht gezogen werden. Andererseits ist mir bewusst, dass alles sich permanent verändert und entwickelt, und es ist durchaus möglich, dass die Natur irgendwann erkennt, dass wir im jetzigen System alle leiden, dass es uns schlecht geht, dass wir sterben – und dass es geändert werden muss. Darauf können wir hoffen, miterleben werden wir es sicher nicht. Auf jeden Fall ist Female Choice ein Buch, das aufklärt und anregt – denn manches kann man auch im Kleinen besser machen, wenn man darüber Bescheid weiß.

Female Choice von Meike Stoverock ist erschienen bei Tropen.

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„Wenn man Frauen nicht mit in den Blick nimmt, ergibt sich ein verzerrtes Bild der Menschheit“
Sehr anschaulich und mit vielen Beispielen erklärt die schwedische Autorin Katrine Marçal, die bereits mit „Who cooked Adam Smith’s dinner?“ einen internationalen Bestseller gelandet hat, in diesem Buch, wie wir uns als Gesellschaft selbst ausbremsen, indem wir Ideen und Technologien in unsere binären Schemata pressen – und nur das als förderungswürdig und wichtig einstufen, was wir als männlich codieren. Für alle, die sich bereits mit patriarchalen Strukturen beschäftigt haben, klingt das nicht überraschend, und vieles, was sie beschreibt, wusste ich bereits – vieles aber auch nicht. Von Forschung, die darauf hinweist, dass steinzeitliche Funde keine Waffen, sondern Grabstöcke von Frauen waren, über die ersten Computer, die von weiblichen Programmiererinnen bedient wurden, bis hin zu künstlicher Intelligenz, von der wir fürchten, sie könnte uns Menschen bald überlegen sein, weil wir sie nur mit dem vergleichen, was für männliche Wissenschaftler als menschlich gilt, führt Katrine Marçal aus, wo wir in unserer Geschichte wieder und wieder falsch abgebogen sind und aus welchen Gründen.

„Wenn das, womit Frauen sich beschäftigen, von vornherein nicht als Technologie gilt und sich Männer zunehmend auf militärische Innovationen spezialisieren, dann legen wir in der Betrachtung der Technikgeschichte zu viel Gewicht auf Gewalt und Tod.“

Sie berichtet von den Elektroautos, die es vor hundert Jahren gab, ordnet den Erfindungen unsere Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit zu und zeigt, wie schlecht es für uns alle ist, dass wir die „weiblichen“ Aspekte des Lebens ignorieren und abwerten. Ein kleiner Mangel des Buchs ist, dass es seltsam ungeordnet daherkommt, ich konnte keine richtige Struktur erkennen, die Kapitel wirken ein wenig zusammengewürfelt. Inhaltlich aber sind sie regelrecht mindblowing: Dieses Buch lässt aufhorchen, es macht wütend, immer wieder musste ich sofort jemandem laut daraus vorlesen, weil ich nicht wusste, wohin mit all den Gefühlen, die dieses neue Wissen in mir ausgelöst hat.

„Dass über 97 Prozent des Wagniskapitals an Männer vergeben wird, bedeutet auch, dass unsere Software, unsere Apps und Social-Media-Netzwerke, künstliche Intelligenz und Hardware von Männern sowohl erfunden als auch entwickelt und finanziert werden. Gegen Männer an sich ist nichts einzuwenden. Aber sehr wohl gegen ein System, das Frauen ausschließt.“

Mit jedem feministischen Sachbuch, das ich lese, erkenne ich, dass die Probleme, die wir geschaffen haben, noch viel größer sind, als ich bisher angenommen habe. Auf jeden Fall ein sehr wichtiges Buch.

„Das Schlimmste ist der Erfindungsreichtum, der dadurch brachliegt.“

Die Mutter der Erfindung von Katrine Marçal ist erschienen bei Rowohlt.

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„Dass dich ein nahestehender Mensch verrät und ein Fremder rettet“
Es ist so: Als Mikitas alleinerziehende Mutter stirbt, nimmt ihr Bruder, sein Onkel Slawa, ihn bei sich auf, damit er nicht zur Großmutter muss. Slawa lebt mit Lew zusammen, und der ist alles andere als begeistert. So wächst Mikita in einer Art Ersatzfamilie auf, in der sich niemand ausgesucht hat, mit den anderen zusammenzuleben, und als ihm im Grundschulalter langsam dämmert, dass keiner aus seiner Klasse zwei Papas hat, beginnt ein abgrundtiefer, schwelender Hass in ihm zu wuchern. Der sollte sich eigentlich gegen das System richten, gegen die russische Gesellschaft, in der eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft keine Option ist, stattdessen richtet er sich gegen Slawa und Lew sowie gegen Mikita selbst.

Die Lüge von Mikita Franko hat ein aufsehenerregendes Setting: ein schwules Paar mit einem Kind im homophoben Russland. Das ist aber das einzig Aufsehenerregende daran. Wie Mikita in der Schule kämpft, wie seine eigenen Vorurteile ihn drangsalieren, wie er blind vor Wut durchs Leben stürmt, zieht sich über viele, viele Seiten, auf denen der Roman auf der Stelle tritt und nicht vom Fleck kommt. Auch wenn ich absolut nicht der Meinung bin, dass man die Figuren eines Romans mögen können muss, ist es auf Dauer anstrengend, ausschließlich aus der Sicht eines so wahnsinnig unsympathischen Jungen zu lesen: Mikita ist ein Arschlochkind mit schwulen Eltern. That’s it. Er tritt jene, die ihn lieben, und ja, natürlich kann man sich küchenpsychologisch zusammenreimen, warum er das tut – aber er selbst kommt erst sehr spät (ich habe eher das Gefühl: nie) zu der Erkenntnis. Und jenen Verteidigungsmechanismus, dass Kinder sich nun mal scheiße verhalten, wenn sie zuhause Probleme haben, finde ich generell schwierig: Das ist ein Grund, aber keine Entschuldigung. Mikita Franko hat die Stimme erhoben und ein wichtiges Buch geschrieben über Anfeindungen, Angst und den Schmerz, nicht so leben zu dürfen, wie man leben möchte. Das finde ich extrem gut und deshalb freut mich der Erfolg des Romans, auch wenn mir die Umsetzung nicht gefallen hat.

Die Lüge von Mikita Franko ist erschienen bei Hoffmann und Campe.

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„Die Toten haben viel mehr Macht als diejenigen, die auf der Erde zurückbleiben“
Es beginnt mit Giacomo und Viollca im Jahr 1800: Er gehört zu den Bewohnern von Stellata, sie zum fahrenden Volk, das wegen sintflutartiger Regenströme nicht weiterziehen kann. Die beiden verlieben sich und bekommen einen Sohn, der oft zum Friedhof geht, weil er mit den Toten sprechen kann. Hier nimmt die Geschichte der Casadios ihren Anfang, denn nachdem der schwermütige Giacomo auch von der wilden Viollca nicht am Leben erhalten werden kann, sieht sie in ihren Karten noch mehr Unglück für die Familie voraus. In den Jahrhunderten, die folgen, werden sich viele Nachkommen fragen, ob an Viollcas Vorahnung etwas dran ist, ob die Casadios verflucht sind – oder ob das, was ihnen zustößt, schlicht den jeweiligen Umständen geschuldet ist. Viele werden geboren und andere sterben, es gibt schlechte Zeiten und Krieg, Hunger, Ausgrenzung und Neid, aber auch Liebe, Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung.

„Was sollen wir armen Alten denn sonst noch hier machen, als an Märchen zu glauben?“

In diesem ausufernden, recht gewitzten Schmöker entfaltet Daniela Raimondi anhand einer Familie aus dem kleinen Ort Stellata die italienisch-europäische Geschichte von 1800 bis 2013. Beide Weltkriege, Faschismus und Kommunismus im Großen, Eheschließungen, Affären und Familiendramen im Kleinen: Aus diesem Stoff ist ein Buch entstanden, das ich – obwohl es so dick ist – richtig gern gelesen habe. Nichts daran ist neu oder originell, aber zum einen ist das Figurenensemble sympathisch und wächst einem ans Herz, zum anderen ist der Stil der Autorin schön rund, feinsinnig und flüssig. Ich hatte mit „An den Ufern von Stellata“ den idealen Roman für den Start in den Sommer gefunden, gute Unterhaltung mit Niveau für den Strand und fürs Freibad. Am Ende hatte ich längst vergessen, wie die Urahnen vom Anfang hießen, die Sache mit der Vorahnung fand ich unnötig, weil sie immer nur zur Sprache gebracht wurde, wenn es grade gepasst hat, doch ansonsten hat diese Familiengeschichte mit einem starken Fokus auf den Frauenfiguren mich absolut zufriedengestellt.

An den Ufern von Stellata von Daniela Raimondi ist erschienen bei Ullstein.

 

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„Na, Liebes, dann hast du doch alles getan, was du konntest?“
Kayleigh schreibt einen Brief an einen Anwalt, einen langen, ausführlichen Brief. Denn dieser Anwalt klagt im Namen von Kayleighs Ex-Kolleg:innen ihren früheren Auftraggeber Hexa. Kayleigh will bei dieser Klage nicht mitmachen und beschließt, zu erzählen – wie sie bei dieser Firma gelandet ist, worin ihre Arbeit bestand, was passiert ist zwischen ihr und Sigrid und den anderen. Sie haben digitale Gewalt gesichtet, einsortiert und gelöscht: Selbstverletzung und Tierquälerei, Kindesmissbrauch und Pornografie, Videos und Fotos und Sprüche. Es gab dabei strenge Richtlinien, und sie mussten in Sekundenschnelle entscheiden. Pausen durften sie kaum machen, der Druck war enorm hoch. Kein Wunder also, dass sie viel tranken und wenig schliefen, die Bilder haben sie überallhin verfolgt. In Sigrid hat Kayleigh sich verliebt, aber letztlich konnte in einem solchen Umfeld nichts Positives Bestand haben. Und am Ende zeigten sich unschöne Wahrheiten …

Die niederländische Autorin Hanna Bervoets entfaltet auf gerade mal 100 Seiten ein Psychogramm der Neuzeit, das zugleich eine scharfe Gesellschaftskritik darstellt: Sie beleuchtet eine moderne Tätigkeit, eng verwoben mit dem Hass im Netz. Denn was wir an der Oberfläche mitbekommen – jemand wird gesperrt, ein Post wird gelöscht, ein Account eingeschränkt –, geschieht an der Basis durch menschliche Arbeit. Jemand sitzt da und muss alles, was gemeldet wird, anschauen und beurteilen. Da sind unvorstellbar grausige Dinge dabei. Auch Berit Glanz hat sich in ihrem neuen Roman Automaton dieser Beschäftigung gewidmet, bei ihr waren es allerdings eher „ereignislosere“ Videos von Überwachungskameras, die kontrolliert werden mussten. Was Literatur hier schafft, ist, einen Einblick zu geben in die prekären Umstände, unter denen Menschen arbeiten, wie austauschbar sie sind, wie das System ausbeutet, psychisch zugrunde richtet und, wenn sie nicht mehr können, durchwechselt. Dieser Beitrag wurde entfernt mag ein schmaler, fiktiver Roman sein, gleichzeitig ist die Geschichte so viel mehr: Sie berichtet von Kapitalismus und menschlichen Abgründen, von der Suche nach Zusammenhalt und dem Absturz in Süchte als Realitätsflucht. Sehr beeindruckend, unbedingt lesenswert.

Dieser Beitrag wurde entfernt von Hanna Bervoets ist erschienen bei Hanser.

Bücherwurmloch

„In jener Zeit gehörte das, was einmal meins war, nicht mehr mir. Zuallererst mein Körper“

„Jedes Mal, wenn die Erinnerung wiederkam, und das passierte ständig, wiederholte ich dieses Mantra, ich bin am Leben.“

Eines Nachmittags joggt die Architektin Joana zum Vista Chinesa, als ein Mann sie mit vorgehaltener Waffe in den Dschungel zerrt und vergewaltigt. Dieses Buch ist ihr Bericht, ein langer Brief an ihre Kinder, die es, wenn sie schon jemals davon erfahren müssen, von ihr erfahren sollen. Oder wissen sie, die in ihrem Bauch, in ihrem Körper gewachsen sind, ohnehin Bescheid? Der von Marianne Gareis aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzte schmale Band beruht auf wahren Ereignissen, ist Erinnerung und Anklageschrift zugleich. Die Polizei bemüht sich, den Täter zu finden, hat aber eher die eigene Erfolgsstatistik im Auge als Joanas Befinden. Ohne Rücksicht auf ihr Trauma wird sie wieder und wieder befragt, das Phantombild verschwimmt, hatte er wirklich so eine Nase oder war sie breiter, waren seine Handschuhe schwarz oder blau, wie groß war er tatsächlich? Es wird deutlich, dass die Gesellschaft klare Vorstellungen von einem perfekten Opfer hat, die Joana nicht immer erfüllt. Besonders gut fand ich, wie ihr Verhalten ausgeleuchtet wird: dass man eben stillhält und sich nicht wehrt, weil man überleben will, dass man sich den Schmutz und den Schmerz abwäscht, obwohl das die Spuren zerstört, dass man sich an vieles deutlich erinnern kann und an anderes nicht.

Tatiana Salem Levy, die Joanas Geschichte aufschreiben durfte, hat sich ihr auf sensible Art genähert, gleichzeitig ist der Text gehetzt, atemlos, fast panisch, und das passt – als müsste man von etwas Traumatischem sehr schnell berichten, um es hinter sich zu bringen. Ich bewundere alle Frauen, die an diesem Buch mitgearbeitet haben, dass sie es in die Welt gebracht haben, dass sie ihre Stimmen erheben, dass sie sich nicht mundtot machen lassen. Es braucht mehr Tatsachenberichte wie diesen, denn durch die Opfer-Täter-Umkehr drängen wir Überlebende sexualisierter Gewalt stets in eine Rechtfertigungsposition. Sie sollen aber die Möglichkeit haben, so darüber zu sprechen, wie sie möchten und können, ohne dass ihnen Vorschreibungen und Vorhaltungen gemacht werden.

Vista Chinesa von Tatiana Salem Levy ist erschienen bei Secession.