Snacks für zwischendurch

Für gewöhnlich bekommt ihr hier nur das zu sehen, worüber ich mehr als ein, zwei Sätze zu sagen habe – doch das soll sich ändern. In Wahrheit lese ich nämlich viel mehr. Ab sofort möchte ich euch meine monatliche Lektüre mit kurzen Kommentaren dazu zeigen. Keine neue Idee, ich weiß, das macht ihr ja fast alle so – neu aber immerhin für mich. Ich freu mich natürlich, wenn wir darüber diskutieren und uns austauschen!

Franziska Wilhelm: Meine Mutter schwebt im Weltall und Großmutter zieht Furchen
Großartig verrücktes Buch über eine junge Frau, die ein Verhältnis mit ihrem Onkel hat (ja, es ist so schräg, wie es klingt) und mit einem Fremden in einem Bulli quer durchs Land fährt. Roadtrips ergeben einfach immer die besten Geschichten. Darüber werdet ihr auf jeden Fall bald noch mehr lesen können.

Eve Harris: Die Hochzeit der Chani Kaufman
Hat mich wahnsinnig aufgeregt, dieses Buch. Da habe ich gemerkt: Ich habe kein Verständnis mehr für das, was im Namen der Religion Menschen angetan wird. Und vor allem den Frauen. Es macht mich einfach nur noch wütend. Ich konnte das nicht als schrullige jüdische Geschichte lesen, für mich war es in erster Linie eine Geschichte von Unterdrückung und Frauenverachtung.

Lukas Lindner: Der Letzte meiner Art
Beginnt irgendwie lustig, bleibt es aber nicht unbedingt – die Satire ist in meinen Augen nicht ganz gelungen. Manchmal hab ich geschmunzelt, viel öfter aber hab ich mich gewunden und fremdgeschämt. Es ist wie mit einem Witz, der nicht so richtig zündet. Eigentlich ist es eher traurig, aber nicht mal darüber kann man sich erfolgreich lustig machen.

Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall
Ich vergöttere Daniela Krien wegen ihrer großartigen Bücher „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ und „Muldental“. Als sie zu meiner Wohnzimmerlesung in Leipzig kam, war ich ein aufgeregtes Fangirl. Über ihren neuen Roman, der so herrlich anders ist als die Vorgänger, erzähle ich euch nach dem Erscheinungstermin mehr.

Siri Hustvedt: Die unsichtbare Frau
Eine herbe Enttäuschung, ich weiß nicht, was dieses Buch mir sagen will. Ich habe versucht, es zu ergründen, aber es ist wirr, unzusammenhängend, mit seltsam bedeutungslosen Botschaften. Und das, wo Siri Hustvedt eine so überragende Autorin ist. Irgendwann hab ich nur noch quergelesen.Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit
Im ersten Drittel war ich begeistert. Diese langsame, detailverliebte Sprache, dieser Rhythmus, diese landschaftliche Fremdartigkeit! Dann habe ich, wie es oft passiert, mehr und mehr das Interesse verloren. Es war immer noch schön und melodisch, aber ein bisschen pointless.

Thomas Hettche: Pfaueninsel
Ein tolles Setting: Ein zwergwüchsiges Mädchen namens Marie, das im Jahr 1810 auf die Pfaueninsel in der Havel bei Potsdam kommt und dort Schloßfräulein wird. Manchmal lustwandeln die Preußenkönige in dem künstlich angelegten Paradies mit Palmen und exotischen Tieren. Thomas Hettche beeindruckt durch eine formvollendete Sprache, er lässt die damalige Zeit aufleben, bleibt sehr nah bei seiner Figur. Gut zu lesen, interessant, bisschen langweilig.

Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat
Es gibt einen Grad an Verrücktheit bei Figuren, der ist charmant, der ist kurios. Ist er überschritten, kann man nicht mehr folgen – den Handlungen nicht, dem Innenleben auch nicht. Das ist hier der Fall: Der Protagonist ist wirr im Kopf, und derart wirr sind seine Erzählungen, dass man als Leser Verständnis und Geduld verliert. „Tauben fliegen auf“ habe ich gefeiert, das hier war mir zu gewollt, ich habe keinen Zugang gefunden.

Nana Ekvtimishvili: Das Birnenfeld
Sie wachsen in einem Waisenhaus auf: Die inzwischen volljährige Lela und zahlreiche andere Kinder. Von deren Leben am Rand der Gesellschaft erzählt die georgische Autorin, die auch Filme dreht, in schnellen Schnitten und harten Szenen. Nicht hart genug aber, um wirklich zu erschüttern. Es sind Momentaufnahmen, Freundschaftsmomente, Streitmomente. Auch gut zu lesen, aber nicht sehr aufregend.

Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen
Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Stellenweise hab ich dieses Buch gefeiert und seine Autorin für ihre kluge Ausdrucksweise. Dann wieder war ich extrem genervt, habe Seiten überblättert, auf denen die Handlung keinen Schritt voranging. Die nicht nachvollziehbaren Perspektivenwechsel haben mich gestört, mehr noch aber dass die Grundidee – eine Frau gesteht einen Mord, den sie nicht begangen hat – so seltsam lieblos umgesetzt wurde. Alles ist bereits zu Beginn bekannt, nichts ist spannend.

Harald Jöllinger: Marillen & Sauerkraut
Da hab ich mir viel erwartet, das klang richtig gut: Gschupfte und grantige Geschichten – perfekt für meine österreichische Seele! Noch an dem Tag, an dem das Buch bei mir ankam, hab ich angefangen, es zu lesen, und: Naja. Oder um es auf Österreichisch zu sagen: Ja, eh. Manche Storys sind herrlich böse, gschissen, grantig, mit anderen konnte ich genau gar nix anfangen. Sehr viel innerer Monolog, sehr viele Beobachtungen, die noch viel spitzer hätten sein dürfen – siehe Verlagskollegin Petra Piuk.

Eva Menasse: Tiere für Fortgeschrittene
2017 hat Eva Menasse für dieses Buch den Österreichischen Buchpreis bekommen. Es enthält Geschichten, gebündelt unter dem großen Nenner „Tiere“. Manche Sätze sind unglaublich treffend, großartige Alltagsbeobachtungen, die möchte man sich einrahmen. Die Storys selbst sind manchmal eigenartig zerfranst, ohne harten Kern, ohne Wumms.

Katharina Mevissen: Ich kann dich hören
Das ist einer dieser Romane, bei denen man denkt: Oh, ja, das hätte was werden können. Das ist nur ganz knapp vorbei. Da spüre ich das Herz, da spüre ich das Talent – allein, es berührt mich (noch) nicht. Viele schöne Szenen, im Großen und Ganzen aber ein bisschen blutleer, zerstückelt, eine Nuance zu distanziert.

Das also in aller Kürze zu meinen literarischen Ausflügen im ersten Monat des Jahres 2019 – Blogbeiträge werden daraus wohl nur zwei, vielleicht drei entstehen. Alle anderen Bücher, ihr wisst ja, ich lebe in der Hinsicht minimalistisch, dürfen ihr neues Zuhause in der Bücherei beziehen. Habt ihr einen der Titel gelesen und seid ihr der gleichen Meinung wie ich? Oder seht ihr das ganz anders?

 

 

 

 

 

Snacks für zwischendurch

BronskyAlina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Rosalinda hält nicht viel von ihrer Tochter Sulfia, sie findet sie hässlich, blass und dumm, wirklich gestraft ist sie mit diesem Kind, aber was soll man machen. Als Sulfia selbst eine Tochter bekommt, wundert Rosalinda sich, wie es sein kann, dass überhaupt jemand mit ihr schlafen wollte. Und ist nicht vorbereitet auf die Zuneigung, die sie für ihre Enkelin Aminat empfindet. Doch damit fangen die Probleme erst an: Da sie Sulfia als Mutter für ungeeignet hält, würde Rosalinda die kleine Aminat am liebsten selbst aufziehen. Nur hat sie die Rechnung ohne ihre Tochter gemacht. Die beiden erschweren einander für viele Jahre das Leben, ob zuhause in Russland oder später in Deutschland, und zwar in allen Belangen und Bereichen. Rosalinda hält sich für unfehlbar, für schlau, gewitzt, gutaussehend und hilfsbereit, und da der gesamte Roman aus ihrer Sicht erzählt ist, dringt nur schwach durch, dass die Menschen in Rosalindas Umgebung ein ganz anderes Bild von ihr haben: Sie mischt sich in alles ein, ist herrisch, selbstverliebt, arrogant und besserwisserisch, ein Feldwebel von einer Frau. Das sorgt für eine Diskrepanz, die zuweilen sehr amüsant ist, mich insgesamt aber auch ziemlich genervt hat. Ich hätte mir ein Gegengewicht gewünscht, eine andere Perspektive, eine Sicht von außen auf Rosalinda, die den Roman ausbalanciert und vielschichtiger gemacht hätte. So fand ich das Buch zwar erheiternd, aber auch anstrengend, ich habe lange dafür gebraucht und es immer seltener zur Hand genommen. Alina Bronskys andere Romane, Scherbenpark und Baba Dunjas letzte Liebe, fand ich persönlich wesentlich besser. 

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche von Alina Bronsky ist als Taschenbuch erschienen bei KiWi Paperback (ISBN 978-3-462-30189-2, 320 Seiten, 8,99 Euro).

PoulainCatherine Poulain: Die Seefahrerin
„Ich will, dass mich ein Schiff adoptiert“
Sie macht sich auf den Weg nach Alaska, weil sie fischen will: Eine kleine, schüchterne Frau sehnt sich danach, auf dem Meer zu sein, weg zu sein von ihrer Familie in Frankreich, und es gelingt ihr tatsächlich, auf einem Kutter anzuheuern. Die Arbeit ist hart, natürlich, sie schuftet Tag und Nacht, ist Wind und Wetter ausgesetzt, verletzt sich und muss das Schiff verlassen. Was ihr sehr schwerfällt, weil sie dort draußen, auf dem Wasser, ihre Sehnsucht erfüllt sieht. Daran kann auch ein Mann nichts ändern, den sie beim Fischen kennenlernt und der möchte, dass sie mit ihm sesshaft wird.

Sich anheuern lassen heißt, mit dem Kutter verheiratet zu sein, solange du auf ihm schuftest. Du hast kein eigenes Leben mehr, nichts, was nur dir gehört. Du musst dem Kapitän gehorchen. Sogar wenn er ein Arsch ist. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich weiß nicht, woher das kommt, dass man derart leiden möchte, für nichts und wieder nichts, im Grunde genommen. Es fehlt einem an allem, an Schlaf, an Wärme, auch an Liebe.

Dieses Buch hat mich in einen Zwiespalt geworfen. Ich wollte es lesen, weil ich fasziniert war von der Geschichte, von dieser außergewöhnlichen Frau, denn auch die Autorin hat zehn Jahre auf den Meeren Alaskas verbracht. Zehn Jahre! Die ersten hundert Seiten habe ich gefressen, ich mochte den rauen, wilden, merkwürdigen Stil, irgendwie eckig, unrund, anstrengend. Doch dann, nun ja, hat es angefangen mich zu nerven, weil es halt immer dasselbe ist, was soll schon groß passieren auf einem Fischkutter. Sie erzählt, wer Kaffee kocht, wer Wache hält, wie viel Fisch sie fangen. Das Buch hat allerdings über 400 Seiten, irgendwann ist das ermüdend. Haben sich Autorin und Verlag wohl auch gedacht, deshalb kommt plötzlich, sehr spät, eine Liebesgeschichte daher, die wie ein Fremdkörper wirkt und mich ein bisschen geärgert hat: Muss man einer Frau, die frei sein und auf dem Meer fischen will, die arbeitet wie ein Bär, wirklich so eine Lovestory mit einem Typ andichten, der sie zum Hausweibchen machen will? Das fand ich reichlich dämlich und enttäuschend. Schade, denn die Geschichte an sich, über die Seefahrerin, über die Wasser Alaskas, wäre, auf halb so viel Seiten, sehr gut gewesen.

Die Seefahrerin von Catherine Poulain ist erschienen bei btb (ISBN 978-3-442-75739-8, 416 Seiten, 21 Euro).

ZehrerKlaus Cäsar Zehrer: Das Genie
„Die Überheblichkeit ist die engste Freundin der Ignoranz, man trifft die beiden stets gemeinsam an“
Auch so ein Buch, das mich unentschlossen zurückgelassen hat: Klaus Cäsar Zehrer hat eine Art fiktive Biografie über William James Sidis geschrieben, einen der angeblich klügsten Menschen aller Zeiten, er wurde dafür mit dem Debütpreis 2017 ausgezeichnet und alle, also wirklich alle Leser waren restlos begeistert. Nur ich nicht. Anfangs habe ich den Roman gern gelesen, man folgt zuerst Williams Vater Boris, der Ende des 19. Jahrhunderts mittellos in New York ankommt und sich aufgrund seiner beeindruckenden Intelligenz schnell einen Namen macht, er schließt mehrere Studiengänge ab, lernt und unterrichtet und entwickelt mit seiner Frau Sara die Sidis-Methode, nach der sie ihren Sohn William erziehen. Die Art, auf die sie das tun, ist mir jedoch völlig unverständlich: Wie können zwei angeblich so kluge Menschen ihr Kind derart versauen? Sie füllen William ab Tag eins mit Wissen an, das funktioniert auch, schon im Alter von elf Jahren hält er einen Vortrag vor Harvard-Professoren. Doch er ist ein Sozialdepp. Sind daran die lieblosen Eltern schuld, die ihm nichts beibringen, was er im Leben braucht? Oder entspricht man als Genie automatisch dem Klischee vom lebensuntauglichen Nerd? Das bleibt unklar. Wie so vieles in diesem Buch, denn der Autor rauscht durch Williams Leben wie ein D-Zug. Er scheint es sehr eilig zu haben, handelt alles äußerst emotionslos ab, braucht aber dennoch über 600 Seiten dafür, auf denen ich mich letztlich schrecklich gelangweilt habe. Etwa ab der Hälfte hab ich nur noch quergelesen. Es muss einem erst mal gelingen, derart viel über eine einzige Person zu schreiben, die noch dazu historisch belegt ist, aber auf eine Art, dass dieser Mensch nicht greifbar wird, blass und eindimensional bleibt, wie der Schatten einer Figur. Ich konnte mit William nicht das Geringste anfangen, mit dem leblosen Stil, der allerorts als so fesselnd beschrieben wird, auch nicht. Ich fand das Buch langweilig, platt, unzugänglich, pathetisch, das Gegenteil von subtil und raffiniert. Ich wollte es nicht mal in die Ecke pfeffern, so einschläfernd war es, mir hätte die Kraft gefehlt. Einfach nur schnarchig.

Das Genie von Klaus Cäsar Zehrer ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-06998-3, 656 Seiten, 25 Euro).



Snacks für zwischendurch

AzzouziFikry El Azzouzi: Wir da draußen
„Man muss mit Stil und Selbstbewusstsein unterwegs sein hier auf der Straße“
Es kann schon mal vorkommen, dass Ayoub zuhause rausfliegt und sich dann die Nacht auf der Straße um die Ohren schlagen muss. Aber zum Glück bleibt er nie lang allein, den anderen Drarries geht es auch so, den Jungs, die aus Maghreb stammen, und sie hängen zusammen im Waschsalon ab oder essen Döner oder suchen eine Frau, der sie ein bisschen Angst machen können. Drei beste Freunde hat Ayoub, den Wichtigtuer Fouad, der ständig seine Muskeln aufpumpen will, den Halbafrikaner Maurice, der bei einem Junkie wohnt, und Kevin, der konvertiert ist, sich Karim nennt und sich noch wahnsinniger aufführt als die echten Drarries.

Meine Freunde und ich haben in diesem zurückgebliebenen Kaff die größte Klappe von allen. Auf alles haben wir eine Antwort. Wir sind die größten Besserwisser. Blitzschnell, scharfsinnig, witzig. Notfalls auch aggressiv. Gespräche sind uns zu mühsam, so als hätten wir das nie gelernt.

Fikry El Azzouzi ist selbst marokkanischer Herkunft und gehört, so heißt es, zu den wichtigsten Stimmen Belgiens. Seine Romane sind politisch, drastisch, authentisch. Das gilt auch für diesen, der hart ist und rau, absurd, verstörend. Er handelt von jungen Männern, die immer irgendwo draufhauen müssen, die gefrustet sind und in einem Zwischenstadium, nicht fremd und auch nicht integriert, voller Hormone, voller Träume. Etwas klischeehaft finde ich die Zuspitzung auf die Radikalisierung, eh, als hätte das halt sein müssen, als fiele all diesen jungen Menschen mit Migrationshintergrund nichts anderes ein, das kam sehr künstlich daher. Ansonsten aber ein lesenswertes, gut gemachtes Buch, das ein Fenster des Verständnisses öffnet bei einem Thema, bei dem die Wogen hochgehen.

Wir da draußen von Fikry El Azzouzi ist als Taschenbuch erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-9829-9, 224 Seiten, 10 Euro).

 

FrankArno Frank: So, und jetzt kommst du
Ich hatte so viele begeisterte Stimmen gehört, dass ich dieses Buch einfach lesen musste. Und es hat sich gelohnt, den Empfehlungen zu folgen, denn dieser Roman – nach einer wahren Geschichte, wie betont wird – ist tatsächlich hochgradig faszinierend. Arno Frank erzählt darin von seinem Leben und dem Leben seiner Familie, von seinen Eltern, die mit drei Kindern auf der Flucht vor den Behörden waren, quer durch Europa. Ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Kinder, ohne Rücksicht auf die Gefahren, die Entbehrungen. Der Vater ist ein charmanter Schwindler, ein Trickser, ein Betrüger. Der Sohn, als Ich-Erzähler, ist immer wieder aufs Neue überrumpelt von der Art des Vaters, dessen Weisheiten und Sprüchen, die er nur zur Hälfte versteht.

Mein Vater ist eine geologische Gegebenheit. Gemeinsam bilden die Eltern eine Einheit, die sich jeder Frage entzieht – wie man einem Gebirge keine Fragen stellt.

Und doch türmen die Fragen sich mit der Zeit auf, denn bei dem Lebensstil der Eltern reicht das erbeutete Geld nicht lange, die Familie gerät in arge Bedrängnis, und Arno Frank merkt: Um nicht ins Gefängnis zu müssen, würde der Vater alles tun, wirklich alles. Das ist spannend und mitreißend erzählt, immer wieder grüble ich über den Antrieb, der die Eltern dazu bringt, so etwas zu tun, lese mit staunend großen Augen und fürchte mich vor dem Moment des Absturzes, der, so scheint es, unweigerlich kommen muss. Gut gemacht, ich stelle mich in die Reihe jener, die dieses Buch empfehlen!

So, und jetzt kommst du von Arno Frank ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3-608-50369-2, 352 Seiten, 22 Euro).

 

FlohrMarkus Flohr: Alte Sachen
Rieke trifft durch einen Zufall auf Lior, den geheimnisvollen, dunkelhaarigen Lior aus Israel, es ist Sommer, sie hat gerade Abitur gemacht, sie zieht mit ihrer besten Freundin Iza durch die Clubs, und was die Zukunft bringen soll, das weiß Rieke nicht genau. Das ist der Auftakt dieses Romans, der dann jedoch in eine ganz andere Richtung führt: Wir gehen zurück in die Dreißigerjahre, und jeder weiß, was das bedeutet, es bedeutete Pogrome, Judenverfolgung, Gefahr. Das alles erlebt der junge Otto, der in Selma verliebt ist, die Jüdin Selma, der nicht glauben will, was da geschieht in seiner Heimatstadt. Otto, der Beobachter, selbst kein Jude, aber emotional verstrickt, ein Heranwachsender in einer extremen Zeit. Das ist interessant, natürlich, gut geschrieben ist es auch, nur hätte ich mir mehr Wechsel gewünscht, schnellere Schritte, das Buch wird plötzlich zäh, langatmig, beschwerlich. Was sich zwischen Rieke und Lior abspielt, verkommt zur reinen Rahmenhandlung, wird mit einem Mal abgekanzelt und zu einer reinen Spurensuche umgewidmet, denn dass Otto und Selma etwas zu tun haben mit Liors Vorfahren, das ist schnell klar. Ich habe sehr gekämpft mit diesem Roman, fand ihn stellenweise schön, wollte ihn dann wieder abbrechen, habe letztlich bis zum Ende durchgehalten und habe einen enttäuschten Nachgeschmack behalten. Sehr schön ist aber, das muss ich erwähnen, das Cover mit dem gestickten Etikett in Anlehnung an den Inhalt, denn die Juden, um die es in der Geschichte geht, waren Schneider.

Alte Sachen von Markus Flohr ist erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN 978-3-463-40653-4, 496 Seiten, 19,95 Euro).

Snacks für zwischendurch

CanalAnne von Canal: Whiteout
Sie sind drei Kinder, aber sie haben nur einen Schatten, so scheint es, nur eine Seele: Hanna, ihr Bruder und ihre Freundin Fido. Das ist lange her, Hanna ist längst erwachsen, und Fido ist tot. Das erfährt sie, als sie gerade in der Antarktis ist, auf einer anstrengenden, gefährlichen Expedition, die ihr auch ohne dieses Wissen an die Nieren geht. Ein Sturm zieht auf, mit den Bohrungen im Eis gibt es Probleme, und Hanna kann nicht verhindern, dass ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern, zurück zu Fido, der Pfarrerstochter, die wild war und anders und besonders. Freundschaft kann wie Liebe sein, kann der Liebe sehr ähnlich sein, einhergehen mit Herzklopfen und Sehnsucht und vor allem: mit einem gebrochenen Herzen. Denn Hanna weiß nicht, was geschehen ist, warum Fido sie eines Tages ohne ein Wort verlassen hat. Anne von Canal ist eine raffinierte Schriftstellerin, eine genaue Beobachterin, die auf den Feinheiten der Sprache spielt wie auf einer Harfe, virtuos, begabt, mit Gefühl. Schon ihr Debüt Der Grund hat mich herausgefordert und beeindruckt. Whiteout ist ebenso gut, ein schmales, kraftvolles, lesenswertes Buch über Freundschaft und Verrat, über Trauer und Ratlosigkeit – und über das endlose Weiß in der Antarktis.

Whiteout von Anne von Canal ist erschienen bei mare (ISBN 78-3-86648-247-0, 192 Seiten, 20 Euro).

 

DorianAda Dorian: Schlick
Mit ihrem Debüt Betrunkene Bäume hat Ada Dorian aufhorchen lassen, und ich habe es nicht gelesen, irgendwie aus Trotz nicht, aus Prinzip nicht, weil alle es hatten. Neugierig war ich dann aber auf ihr aktuelles Buch, das zweite – auch wenn es heißt, die emsige Autorin habe vier Romane in der Pipeline –, das Buch nach dem Hype, das jetzt vielleicht nicht mehr alle haben. Es geht darin um zwei Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten leben, und um das Haus, in dem sie sich aufhalten. Beide sind aus unterschiedlichen Gründen auf sich gestellt, ohne ihre Männer, die eine im Krieg, die andere in der trägen Langeweile des Friedens. Was sie verbindet, ist ein Foto. Svea findet ein Bild in diesem Haus und wird neugierig, will etwas herausfinden über die Familie, die darauf zu sehen ist, über Helene, die hier einst gelebt hat. Helene dagegen, siebzig, achtzig Jahre früher, will nur überleben. Sich selbst und ihre Tochter durchbringen, vergessen, was sie getan hat.

„Mut ist etwas, das sich wie eine Narbe auf einer Wunde bildet. Je tiefer die Wunde, desto wulstiger die Narbe.“

Ada Dorian ist sehr sicher in ihrem Schreiben, gefestigt, unerschütterlich. Ich mag ihre klaren Sätze, die tönen, die aber auch zart sein können. Ich mag auch die unaufgeregte, geradlinige Geschichte. Bestes Zitat:

„Das Leben ist ein Glücksspielautomat. Du wirfst etwas hinein, so lange, bis du etwas gewinnst. Was du dabei verloren hast, ist schnell vergessen.“

 

StancanelliElena Stancanelli: Die nackte Frau
„Keine Beziehung ist besonders. Die Liebe ist nie etwas Besonderes“
Ich bin der Meinung: Das Internet ist noch viel zu wenig präsent in der Literatur, genau wie das Smartphone. In Büchern wird nicht so gestalkt und gechattet und gesurft wie im echten Leben, das finde ich realitätsfern, ein bisschen altbacken, verschämt. Umso interessierter war ich an diesem Buch, denn es handelt von einer Frau, die ihren Freund nicht einfach ziehen lassen kann, die ihn im Internet ausspioniert, seine Accounts hackt, seine Mails und Nachrichten liest, sich selbst fertigmacht mit dem, was sie findet.

„Das war keine Liebesgeschichte mehr zwischen uns, sondern ein psychotischer Apparat, der mich in einem fort erniedrigte.“

Davide hat eine andere, nicht nur eine, und Anna weiß das, doch beiden gelingt es nicht, die Beziehung zu beenden, sie drehen sich in einer Abwärtsspirale. Anna isst nicht mehr, klickt und wischt und sucht, drückt alle drei Minuten auf ihr Handy, um den Punkt der Smartphone-Suche von Davide zu verfolgen.

„Es ist eine Krankheit. Sie hat sogar einen Namen: Anankasmus. Du glaubst nachzudenken, und stattdessen verstrickst du dich immer mehr.“

Sprachlich ist dieses Buch gut, solide, keine Glanzleistung, ein wenig wirr und – typisch italienisch – überzogen, dramatisch, inhaltlich aber sehr interessant, schonungslos und, wie ich finde, wichtig. Denn oft tun wir Menschen Dinge, die wir selbst kaum verstehen, die nicht logisch erscheinen, die furchtbar schmerzen.

Die nackte Frau von Elena Stancanelli ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1347-7, 224 Seiten, 18 Euro).

Snacks für zwischendurch

LjubicNicol Ljubić: Ein Mensch brennt
„Im Boxsport heißt es, nur der Schlag, den man nicht kommen sieht, kann einen umhauen“

Hanno ist acht Jahre alt, als Hartmut Gründler als Untermieter ins Haus seiner Eltern einzieht. Gründler, ein unbeugsamer Politkämpfer, einer, der sich engagiert für eine Sache, von der andere nicht einmal ahnen, der Briefe schreibt, Hunderte Briefe, an den Bundeskanzler, an die Presse, ist einer, den niemand so recht ernst nimmt. Außer Hannos Mutter. Sie scheint Hartmuts Stimme als eine Art Weckruf wahrzunehmen.

„Die Geschichte, die ich über Hartmut erzähle, ist eine andere als die, die meine Mutter erzählt hätte.“

Und dann gibt es da noch den Vater, einen dicken, gemütlichen Mann, der gern hätte, dass alles so bleibt, wie es ist, der es nicht brauchen kann, dass seine Frau politische Ideen verfolgt – und sich emanzipiert. Hartmut Gründler hat es wirklich gegeben, und er war tatsächlich ein sehr politischer Mann, der sich, um ein Zeichen zu setzen, selbst verbrannt hat. Dieses Buch widmet Nicol Ljubić ihm wie eine Art Denkmal, das in erster Linie sehr trocken und nüchtern erzählt, was sich abgespielt haben könnte im Leben dieses Mannes, das aber auch davon handelt, wie schnell er vergessen wurde und wie unwichtig sein Zeichen heute scheint. Das ist makaber, traurig, sehr irritierend. Inhaltlich eine gute, interessante Geschichte, eine Chronik, die ich jedoch merkwürdig emotionslos fand, und das, obwohl sie aus der Sicht eines Kindes geschildert wird. Besonders überrascht hat mich das in Hinblick darauf, wie intensiv Nicol Ljubić Buch Meeresstille ist.

Ein Mensch brennt von Nicol Ljubić ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-28130-0, 336 Seiten, 20 Euro).

 

CamilleriAndrea Camilleri: Berühre mich nicht
Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich Krimis verschlungen. Noch nicht mal zwanzig war ich da, ein großer Fan spannender Geschichten, und ja – Camilleri war natürlich ein Muss. Auch wenn ich das Genre heute meide wie eine Katze das Wasser, erinnere ich mich gern an Commissario Montalbano, an den Witz, das gute Essen, die interessanten Fälle. Ich bewundere Camilleri, der 1925 geboren ist, für seine Fähigkeit, sich im hohen Alter, in dem andere längst im wohlverdienten Ruhestand die Füße hochlegen, noch immer neue Geschichten auszudenken. Sein aktuelles Buch handelt von einer Frau, die verschwunden ist, und der talentierte, gewiefte Camilleri erzählt davon ausschließlich durch Gespräche. Keine einzige Beschreibung gibt es in diesem Roman, keine klassische Handlung, sondern Dialoge, Presseausschnitte, Nachrichten, Briefe. Aus diesen kleinen Schnipseln setzt sich die Story zusammen, das Rätsel um die schöne Laura, die mit einem berühmten Schriftsteller verheiratet ist und viele Affären hat, die vielleicht mit einem der Männer durchgebrannt ist oder entführt wurde oder alles nur inszeniert hat, um Aufmerksamkeit für ihr eigenes Buch zu bekommen, das bald erscheinen soll. Ein mit nicht mal 160 Seiten schmaler Roman, sehr gut zu lesen, ein kleines, originelles Highlight in der Flut der ewig gleichen Masse der Kriminalliteratur.

Berühre mich nicht von Andrea Camilleri ist erschienen bei den Hanser Literaturverlagen (ISBN 978-3-312-01034-9, 160 Seiten, 18 Euro).

 

MulitzerThomas Mulitzer: Tau
Das ist ein Buch, in dem ich mir viele Seiten markiert habe, neun an der Zahl, viele Sätze, die gut sind, die klar sind und meisterhaft geformt. Es ist aber auch ein Buch, bei dem ich am Ende denke: echt jetzt, bei dem ich das Gefühl habe, dass wir uns verzettelt und verloren haben, das Buch, der Autor und ich. Da gibt es einen, der zurückgeht in sein Bergdorf, in das Gasthaus seiner Großeltern, das einst Schauplatz war von einem Thomas-Bernhard-Roman, der Schimpf und Schande über das Dorf gebracht hat. Er will was herausfinden über damals, über den Schriftsteller, über das Buch, aber so recht gelingt ihm das nicht, eigentlich gelingt ihm gar nichts so recht, er ist ein ruheloser, unsicherer Mensch, unstrukturiert, leicht abzulenken. „Bis jetzt hatte ich so gut wie nichts erreicht“, sagt er auf Seite 144. Und das ist auch der Ton, das ist auch die Struktur, die den Roman des Österreichers Thomas Mulitzer, der zudem Musiker ist und Texter, bestimmt. Etwas seltsam Ruheloses, Zerfahrenes, das sich nicht recht greifen lässt. Aber die Sätze, die teile ich mit euch:

Das Schreiben besteht ja nicht nur aus dem Hirnwichsen und den Bewegungen der Hand, aus dem ewigen Grübeln, dem Zermartern und Zweifeln, es besteht wirklich nicht nur aus der stolzen Einsamkeit und dem Flüchten in eine Fantasiewelt.

Wenn man in diesem Land geboren wird, hat man naturgemäß eine Affinität zum Dunklen, Feuchten, Modrigen, man strebt nie nach oben, auch wenn es für Außenstehende so aussehen mag, sondern immer nach unten, tief, tief unten, die Leute steigen ja niemals Karriereleitern hoch, sie schürfen an ihrem Fundament und schaufeln ihr Grab, sie stecken ihren Kopf in ein Erdloch und lassen sich in den Arsch ficken.

Oktober ist mein Lieblingsmonat, er zieht verblühten Flieder in die Erde, mischt Gedächtnis und Begierde und tränkt das Land mit spätem Regen.

Österreich, in deinem dunklen Bauch schlummert immer noch der Holocaust.

Am Ende bereitet einem jeder Mensch Kummer.

Ich hab mir die Realität da draußen angeschaut und weiß nicht recht, ob sie mir lieber ist als die Realität in meinen Büchern.

Wenn man ein Buch von ihm gelesen hat, dann hat man alle Bücher von ihm gelesen. Das kann ich bedenkenlos sagen, denn ich habe alle gelesen.

Ich hab gespürt, wie sich mein Schädel ausdehnt, um dem Schmerz irgendwie Platz zu schaffen, aber der Schmerz hat ja nie genug Platz, darum breitet er sich mit der Zeit auf alle Bereiche aus, die er erwischen kann.

Nichts war so tödlich wie die Frauen und der Frost.

Tau von Thomas Mulitzer ist erschienen bei Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-01080-1, 288 Seiten, 22,90 Euro).

 

 

Bücherwurmloch, Snacks für zwischendurch

thumb_IMG_6900_1024Kurze Meldungen zu 8 Büchern
In den letzten Wochen habe ich einige Bücher gelesen, über die ich nicht unbedingt schweigen will, zu denen ich aber auch nicht allzu viel zu sagen habe. Das bedeutet nicht zwangsweise, dass sie mir nicht gefallen haben – meine Gedanken dazu reichen nur ganz einfach nicht aus für eine umfassende Besprechung. Daher serviere ich euch hier ein paar Kurznotizen dazu und freu mich natürlich über Meldungen von eurer Seite: Kennt ihr einen der Romane? Und wie ist eure Meinung dazu?

 

  1. Jonathan Löffelbein: Besucher. Kladdebuchverlag, 180 Seiten, ISBN 978-3-945431-10-8, 19 Euro.

Jonathan Löffelbein ist erst 24 Jahre alt und hat bereits ein Buch veröffentlicht. Seit er ein Kind ist, steht er auf diversen Bühnen. Er ist jung und wild und kreativ – und hat sich für sein Debüt nicht zurückgehalten. Gleich der Teufel ist es, den er auftreten lässt: Protagonist Thomas, der sich eben noch umbringen wollte, bekommt Besuch von einer merkwürdigen Gestalt, die ihn zwingen will, sich nicht selbst zu töten, sondern jemand anderen. Was folgt, ist ein wirrer Reigen aus Wahnvorstellungen und unerklärlichen Ereignissen, aus verrückten Dialogen, Neid, Missgunst und Vorträgen über die Moral und/oder Scheinheiligkeit. Einerseits hat dieser Roman mich mit seiner Kraft und Kompromisslosigkeit beeindruckt, andererseits hat mich all der Irrsinn zum Teil derart überfordert, dass ich kaum weiterlesen konnte. Ein hochgradig merkwürdiges, bemerkenswertes, absurd krasses Buch.

  1. Richard Flanagan: The narrow road to the deep North. Man Booker Prize 2014, auf Deutsch: Der schmale Pfad ins Hinterland, Piper Verlag, 448 Seiten, ISBN 978-3492057080, 24 Euro.

Dies ist ein Buch über den Krieg. Dorrigo Evans ist gefangen in einem japanischen Lager, wo die Soldaten beim Bau der „Line“ – der Strecke für die Eisenbahn – am Burma Death Railway verheizt werden. Sie sterben im Namen des Kaisers wie die Fliegen, ohne dass Dorrigo, der als Arzt arbeiten soll, etwas dagegen tun kann. „A happy man has no past, while an unhappy man has nothing else“: Noch Jahrzehnte später denkt Dorrigo an die Erlebnisse im Gulag. Und er denkt immer noch an Amy, die Frau seines Onkels, in die er rasend verliebt war, bevor er in den Krieg musste. Nie hat er erfahren, was aus ihr geworden ist. Dieses Buch ist wahnsinnig traurig und deprimierend und brutal, es zeigt die Grausamkeit des Krieges in all seinen trostlosen Details. Stellenweise war es mir viel zu langatmig. Lieblingszitat: „A good book leaves you wanting to reread the book. A great book compels you to reread your own soul.“

  1. Martin Kordić: Wie ich mir das Glück vorstelle. Hanser Verlag, 176 Seiten, ISBN 978-3-446-24529-7, 17,40 Euro.

Ebenfalls dem Krieg widmet sich dieses Buch, das den Leser mitnimmt ins ehemalige Jugoslawien. Erzählt wird die Geschichte von einem Jungen, Viktor, der sich ganz allein durchschlägt – er sucht in zerbombten Städten nach Essen, er weicht den herumsirrenden Kugeln aus, er tut sich mit Weggefährten zusammen, die er später wieder verliert. Alles an diesem Buch ist furchtbar, jede Seite tropft vor Blut, jeder Satz weint vor Einsamkeit. Viktor hat die schrecklichste Kindheit, die man sich vorstellen kann – und die viele Kinder in der Realität tatsächlich erleben. Ich hatte während der ganzen Lektüre einen Kloß im Hals. Ein Roman, der mitten ins Herz schneidet.

  1. Simon van Booy: Die Illusion des Getrenntseins. Insel Verlag, 207 Seiten, ISBN 978-3-458-17592-6, 18,95 Euro.

„Liebe ist auch eine Verletzung und kann nicht ungeschehen gemacht werden“, schreibt Simon van Booy in diesem Buch, das ebenfalls den Krieg zum Thema hat. Es geht darin um einen Mann, der als Baby mitten in einem Getümmel voller Nazis von einer mutigen Frau gerettet wurde. Um ein blindes Mädchen, das sein Leben sehr selbstständig führt und die Liebe findet. Um einen Mann, dem im Krieg der halbe Kopf weggeschossen wurde und der nie mehr als der lebte, der er eigentlich war. Gut geschrieben ist dieser Roman, wenn auch ein wenig verwirrend in seinem steten Zeiten- und Personenwechsel. „Wir werden alle durch etwas bestimmt, das wir nicht ändern können.“ Im Fall des Krieges ist das auf jeden Fall wahr.

  1. Gudrún Eva Mínervudóttir: Alles beginnt mit einem Kuss. Btb Verlag, 384 Seiten, ISBN 978-3442746095, 9,99 Euro.

Bücher aus Island haben stets etwas merkwürdig Geheimnisvolles. Zumindest gilt das für jene, die ich bisher gelesen habe – wie etwa dieses hier. Es geht darin um eine Frau, die Adoptivmutter des Erzählers David, die ihrer Meinung nach einen Musenkuss erhalten hat. Er hat sie zur Künstlerin gemacht, und sie kann ihn weitergeben. Doch als sie das tut, geschehen verrückte Dinge, die schließlich den Tod bringen. Jahre später versucht David endlich herauszufinden, was damals geschehen ist. Das ist alles mehr als seltsam, aber interessant und unterhaltsam zu lesen. Am coolsten und zugleich am schrägsten in diesem Buch sind die Comics und Zeichnungen.

  1. Germán Kratochwil: Scherbengericht. Picus Verlag, 312 Seiten, ISBN 978-3-85452-682-7, 22,90 Euro.

2012 war dieses Buch für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Autor, der in Österreich geboren ist, wanderte als Kind nach Patagonien aus. Dort spielt auch sein Roman, in dem er zwölf Leute zu einer Geburtstagsfeier versammelt. Doppelbödig soll das sein, schwarzhumorig und konfliktträchtig. Viel kam davon jedoch nicht bei mir an, weil mich die Geschichte absolut nicht gepackt hat. Ich hab versucht, mich durchzuwühlen, konnte aber keinen Gefallen daran finden. Es war mir zu langweilig, leiernd, nichtssagend.

  1. Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen. Nagel & Kimche, 176 Seiten, ISBN 978-3312004980, 8,99 Euro.

Dafür, dass dieses Buch ein völlig unspektakuläres Thema behandelt, hat es für recht viel Aufsehen gesorgt. Die Autorin erzählt darin auf sehr persönliche Weise von einer ebenso schweren wie mysteriösen Krankheit, die sie für sehr lange Zeit ans Bett gefesselt hat. Die einzige Ablenkung in dieser Zeit war für sie eine Schnecke auf einer Topfpflanze, die sie geschenkt bekam und fortan beobachtete. Davon berichtet sie – gemischt mit viel Wissen über die Schnecke an sich. Dieses Buch ist kurzweilig und interessant, für mich aber kein Highlight. Was man durch die Lektüre lernen kann: Entschleunigung.

  1. Sandra Weihs: Das grenzenlose Und. Frankfurter Verlagsanstalt, 192 Seiten, ISBN 978-3627002206, 19,90 Euro.

Vor einer Weile hab ich die ersten 50 Seiten dieses Buchs als Manuskript bekommen, ein wenig redigiert und mit Feedback zurückgeschickt. Als ich dann auf der Leipziger Buchmesse von dieser Story erzählt bekam, dachte ich: Moment – das kommt mir doch bekannt vor! Die Österreicherin Sandra Weihs hat den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung bekommen und ihr Debüt veröffentlicht. Ich war natürlich sehr darauf gespannt, zu lesen, was aus dem Manuskript geworden ist. Auf den ersten Seiten war sofort klar, dass es viel, viel besser ist – kraftvoller, lebendiger, witziger. Sandra Weihs hat auf jeden Fall Talent. Ein wenig schade finde ich, dass das Buch in der zweiten Hälfte schwächer wird und in vorhersehbaren Kitsch abdriftet. Für einen Erstling ist das ganz in Ordnung, der große Clou ist es noch nicht.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

WaughSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs trifft Militärkommandant Charles Ryder in Brideshead ein – und erinnert sich beim Anblick des verlassenen Anwesens an die goldenen Zeiten, die er dort verbracht hat. In Oxford lernte er den exzentrischen Sebastian kennen und freundete sich mit ihm an, begeistert war er auch von Sebastians katholischer Familie voll schräger Vögel. Der Vater lebte mit seiner Geliebten in Rom, die Mutter ignorierte das nach Kräften, Sebastians Schwester Julia verzauberte Charles mit ihrer fast schon ruppigen Art. Als Sebastian dem Alkohol verfiel, konnte Charles dem besten Freund nicht helfen. Jahre später – Charles war verheiratet, Vater zweier Kinder und als Künstler in der Welt unterwegs – traf er erneut auf Julia. Doch letztlich sollte für Charles alles, was er sich rund um die Brideshead-Familie ausgemalt hatte, nicht so enden wie gedacht.

Hat’s gemundet?
Ja. Das von Evelyn Waugh – übrigens ein Mann – 1945 veröffentlichte, angeblich autobiografisch geprägte Buch ist ein Klassiker, sehr nostalgisch und ziemlich antiquiert. Das hat mich zwischendurch beim Lesen ein wenig gequält, da gestelzte Ausdrücke in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist, natürlich doppelt anstrengend sind. Ich mag aber die Schwerfälligkeit des Romans, die Nonchalance, dieses Lässige, das der Krieg später von allen abschüttelt. Die reichen Studenten in Oxford fühlen sich wie junge Götter, denen Prüfungen und Alkohol nichts anhaben können. Dann fallen sie vom hohen Ross, und Evelyn Waugh gibt diesem Wandel eine sehr wehmütige Stimme. Überrascht haben mich dabei die oftmals religiösen Interpretationen der Ereignisse.

Wer soll’s lesen?
Umgekehrt formuliert – sollte man wohl gelesen haben.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

KhadraSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Younes wird in Algerien als Kind armer Bauern geboren, deren gesamte Ernte einem absichtlich gelegten Feuer zum Opfer fällt. Der Vater bringt die Familie in die Stadt Oran und versucht mit eisernem Willen, dem Elend zu entkommen, scheitert jedoch schrecklich. Um wenigstens dem Sohn ein gutes Leben zu ermöglichen, überlässt er ihn seinem Bruder, einem Apotheker, und Younes wird im europäischen, reichen Teil der Stadt zu Jonas. Schnell findet er drei beste Freunde, deren Schicksal sich später rund um die schöne Émilie dreht, die jeder Einzelne von ihnen liebt. Der Krieg macht ihnen in jeder Hinsicht einen Strich durch die Rechnung, und viele Jahrzehnte später erinnert Younes sich voller Wehmut an das, was er getan und das, was er versäumt hat zu tun.

Hat’s gemundet?
Ja. Allerdings waren die Erwartungen vermutlich ein wenig zu groß. Denn der Klappentext spricht von einer Liebe zwischen Younes und Émilie, einer „Sehnsucht, in der sich über die folgenden Jahrzehnte hinweg das schwierige Verhältnis von Orient und Okzident spiegelt“. Das ist zu hoch gegriffen, denn eine solche Liebe gibt es nicht, und in all den Jahrzehnten besteht zwischen den beiden Figuren gar kein Kontakt. Das hat mich ein wenig irritiert. Ansonsten aber ist Die Schuld des Tages an die Nacht des algerischen Autors Mohammed Moulessehoul, der unter dem Pseudonym Yasmina Khadra schreibt, ein intelligentes, eindrucksvolles Buch über das Leben in Algerien in der Zeit von 1930 bis 1960, das Porträt eines von Unruhen gebeutelten Landes. Es geht um Leid und Unglück, um Schicksal und die Machtlosigkeit, mit der man ihm gegenübersteht. Gut und flüssig zu lesen, zwischendrin vielleicht ein wenig langatmig.

Wer soll’s lesen?
Jeder, der gern in fremde Länder reist und mitfiebert, ob ein Protagonist es schafft, seinem vermeintlich vorgezeichneten Schicksal zu entkommen.

Bestes Zitat:

„Hör auf zu jammern, mein Junge. Es gibt nur einen Gott auf Erden, und der bist du. Wenn dir die Welt nicht gefällt, denk dir eine neue aus, und lass nicht zu, dass der Kummer dich von deiner Wolke holt. Das Leben lächelt dem zu, der es ihm mit gleicher Münze heimzahlt.“

Prost Mahlzeit: 1 Stern, Snacks für zwischendurch

BowmanSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?

Die mitwirkenden Personen:
Ein Teamleiter, der sich vor allem durch Naivität auszeichnet
Ein Bergführer, der sich ununterbrochen verirrt
Ein Arzt, der ständig krank ist
Ein Dolmetscher, der nur diskutiert und blutige Aufstände auslöst
3000 Yogistani Träger

Der Ort:
Rum Doodle, mit 40.000 ½ Fuß der höchste Berg der Welt

Die Mission:
Auf den Gipfel zu kommen

Hat’s gemundet?
Absolutely not! Bowmans Roman ist eine „Bergsteigersatire aus den 50er-Jahren“, die 2013 neu entdeckt und als „das lustigste Buch, das Sie je gelesen haben“ angepriesen wurde. Well. It’s not. Wir wissen ja alle, wie heikel das ist mit dem Humor – und Klamauk entspricht nicht meinem Stil. Ich finde alles, was in diesem Roman schiefgeht, einfach nur überzogen und dumm. Statt 3000 Trägern (die gebraucht werden, weil jeder für einen anderen etwas zu essen tragen muss) kommen wegen eines Kommunikationsfehlers des Dolmetschers 30.000, als ein Teammitglied in einer Gletscherspalte festsitzt, wird ein weiteres hinuntergeschickt – dann sitzen beide fest und verlangen nach Champagner, das geht so lange, bis mehrere sturzbetrunkene Männer unten singen. Ja. Witzig? Nein. Erinnert ihr euch an Filme wie „Die nackte Kanone“? Die fand ich immer schon sehr, sehr schlimm. Weil Dinge geschehen, die unrealistisch und clownesk sind. Damit ich lache, muss die Ironie mich beißen, und der Sarkasmus muss mir in den Hintern treten. Beides ist hier nicht der Fall. Viele Rezensenten schreiben, sie hätten sich totgelacht. Ich hab mich totgelangweilt.

Wer soll’s lesen?
Wer klamaukige Parodien mag.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

TruebaSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Um die 16-jährige Sylvia, die sich zum ersten Mal verliebt, und zwar in einen jungen Fußballstar aus Argentinien, der leider nicht lang in Madrid bleibt. Abschied nehmen muss auch Sylvias Großvater Leandro, denn seine Frau liegt im Sterben. Ablenkung findet er im Bordell, bei einer jungen, dunkelhäutigen Hure, die sich vor seinem Altmännerkörper ekelt, der er aber dennoch all seine Ersparnisse in den Rachen wirft. Sein Sohn Lorenzo, Sylvias Vater, bei dem sie nach dem Weggang der Mutter lebt, hat ebenfalls finanzielle Probleme: Nach der Pleite des Unternehmens, das er mit Geschäftspartner Pablo führte, bleiben ihm nur Gelegenheitsjobs. Also bringt er in seiner Verzweiflung Pablo einfach um.

Hat’s gemundet?
Jup. Ich hab wegen des Titels und des Covers zu dem Buch gegriffen, von dem ich nie zuvor gehört hatte, und hab den ersten Absatz gelesen – da war ich sofort angetan.
imageDas hat sich zum Glück bis zum Ende aufrechtgehalten. Der Klappentext verwendet die Adjektive „komisch, tieftraurig und anrührend“, was ich absolut bestätigen kann. Ein feines, unterhaltsames, nettes, aber niveauvolles Buch über kleine Fehler und große Geheimnisse. Bis auf die Ähnlichkeit der Namen Leandro und Lorenzo, die ich während der Lektüre dauernd verwechsle, habe ich nichts daran auszusetzen. Sehr gut gemacht, lesenswert!

Wer soll’s lesen?
Freunde von feinsinniger, nicht zu schwerer Unterhaltungsliteratur.