„Das, was vor mir lag und Zukunft hieß, war eine Ansammlung hässlicher Wahrscheinlichkeiten“
Johanna stammt aus der DDR, aber eigentlich auch nicht. Sie war erst zwei Jahre alt, als die Mauer fiel, und hat keine Erinnerung an das Leben hinter dieser Mauer. Die DDR-Witze ihres Ausbildners Reiner findet sie deshalb nur bedingt lustig. Reiner bringt Johanna das Straßenbahnfahren bei, und das will sie eigentlich bloß lernen, weil ihr sonst nichts einfällt – und weil ihre Mutter es nicht gut findet. Die hat Johanna allein aufgezogen, nachdem der Vater Jens ohne ein Wort verschwunden ist. Hat er rübergemacht? Hatte er eine zweite Familie? Wieso hat er nie von sich hören lassen? Das sind Fragen, die Johanna ihm nun, so viele Jahre später, endlich stellen könnte, denn Jens hat angerufen. Zeit dafür bleibt ihr allerdings kaum noch, denn ihr Vater hat Krebs im Endstadium. Sie kann ihn also nur finden, um ihn gleich wieder zu verlieren. Und manche Fragen bringt man einfach nicht über die Lippen …
Wer die Story-Outline von Familie der geflügelten Tiger hört, könnte denken: Ach, schon wieder. Der verschwundene Vater, eine Leerstelle, der sich plötzlich meldet – weil er stirbt. Und dann auch noch die DDR! Alles schon so oft dagewesen. Aber: weit gefehlt! Die junge Autorin Paula Fürstenberg, die am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert hat, umschifft in ihrem Debütroman gekonnt die Klischees. Dazu bedient sie sich eines Kniffs, der mich erst überrascht, dann aber beeindruckt. Ohne zu spoilern, sei nur so viel gesagt: Von ihrem Vater kann Ich-Erzählerin Johanna die benötigten Antworten nicht bekommen. Dies ist ein Buch über das Suchen – die Suche nach der eigenen Geschichte, nach einem Weg für die Zukunft, nach Aha-Momenten und nach der Liebe. Manches davon wird gefunden, anderes nicht.
Ich habe Paula Fürstenberg auf der Frankfurter Buchmesse kennengelernt – zumindest aus der Ferne. Denn der KiWi Verlag hat ein Bloggertreffen organisiert, bei dem sie – wie auch Nele Pollacek – aus ihrem Roman gelesen hat, den ich zu diesem Zeitpunkt bereits zuhause hatte. Das hat sie ganz wunderbar gemacht, und man hat ihr die Zuneigung zu ihren Figuren angemerkt. Daran hab ich mich erinnert, und diese Zuneigung hab ich dann beim Lesen gleich übernommen. Als Österreicherin hab ich zur DDR noch weniger Bezug als Protagonistin Johanna, aber ich hab mich von diesem Buch trotzdem abgeholt und geleitet gefühlt. Es ist klug, gewitzt, interessant und voller unerwarteter Wendungen. Ich möchte es euch hiermit unbedingt empfehlen. Gut gemacht, liebe Paula.
Familie der geflügelten Tiger von Paula Fürstenberg ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04875-9, 240 Seiten, 18,99 Euro).