Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

WalkerSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
„There was no footage to show on television, no burning buildings or broken bridges, no twisted metal or scorched earth, no houses sliding off slabs. No one was wounded. No one was dead. It was, at the beginning, a quite invisible catastrophe.” Und diese unsichtbare Katastrophe besteht darin, dass die Erde sich langsamer um sich selbst dreht, sie verliert an Geschwindigkeit. Tage und Nächte werden länger, sehr viel länger, Pflanzen und Tiere sterben, die Menschen versuchen, mit dem neuen Rhythmus zurechtzukommen. Für die elfjährige Hanna hängt mit der globalen Krise eine tiefgehende Umwälzung in ihrem unmittelbaren Umfeld zusammen: Sie verliert ihre beste Freundin, ihr Vater hat eine Geliebte, und sie verliebt sich zum ersten Mal. Und die ganze Zeit über weiß niemand, was geschehen wird – mit dem Planeten und ihnen allen.

Hat’s gemundet?
Durchaus. Karen Thompson Walker hat sich ein sehr originelles und spannendes Szenario ausgedacht: eine Naturkatastrophe, so neu und unbeeinflussbar wie gefährlich. Welche Auswirkungen hätte es auf das uns bekannte Leben, würde die Drehgeschwindigkeit der Erde sich verlangsamen? Die Autorin gibt der elfjährigen Ich-Erzählerin eine solide, gar nicht naive Stimme, die älter wirkt und der ich gern lausche. Ihr ist eine ausgewogene Mischung aus weltweiter Endzeitstimmung und zerbrochenem Glück im Privaten gelungen. Etwas schade finde ich, dass der Roman am Ende ein wenig versickert. Insgesamt jedoch ein lohnendes Buch.

Wer soll’s lesen?
Freunde von klugen Ausgangsideen und kindlichen Protagonisten.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

AbbottSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Henry Cage, ein erfolgreicher Unternehmer, geht in Pension. Und plötzlich reiht sich ein unangenehmes Ereignis ans andere: In der Silvesternacht wird er Opfer von Gewalt, seines Lieblingscafés wird er verwiesen, weil er Frauen anglotzt, er wird bedroht und bestalkt, seine Exfrau Nessa ist todkrank und er erfährt erst nach Jahren, dass er einen Enkelsohn hat. Ganz schön viel für den ruhigen, abgeschottet lebenden Henry, der mit Müh und Not versucht, nicht in den Wellen unterzugehen, die das Schicksal über ihm zusammenschlagen lässt.

Hat’s gemundet?

Ja und nein. Ja, weil dies ein ausgezeichnetes, stilsicheres, bewegendes Buch ist. Und nein, weil es ein Ereignis enthält, das mir das Herz bricht und mir in seiner Wucht sämtliche Kräfte raubt. David Abbott stellt ein Geschehnis an den Anfang seines Romans, das chronologisch gesehen ans Ende gehört und das mir stets vor Augen hält, wozu alles, was passiert, führen wird. Das ist ebenso genial wie grausam. Besonders den Schlusssatz kann ich in dieser Hinsicht kaum ertragen. The upright piano player ist schwermütig, traurig, exzellent und sehr klug. Ein wirklich gutes Buch.

Wer soll’s lesen?

Alle, die klassische Romane mögen und eine volle Dosis Wehmut aushalten können.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

DrvenkarSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Du bist der Reisende. Du bist ein Mörder ohne Plan und Ziel. du tötest sehr methodisch und wenn es dich überkommt.
Du bist eins, zwei, fünf junge Mädchen, die durch Zufall mit einem gestohlenen Auto und kiloweise Heroin im Kofferraum durch ganz Deutschland rasen – auf der Flucht vor einem Drogenboss.
Du bist ein Verbrecher, ein Drogendealer, ein skrupelloser Typ, dem ein Menschenleben nichts bedeutet.
Du bist der Sohn eines Mannes, dessen Zuneigung du zu gewinnen suchst, indem du so mörderisch wirst wie er.
Du bist jung, du bist alt. Du bist auf der Flucht, du bist der Verfolger, du bist verzweifelt, du bist tot.

Hat’s gemundet?
Ja. Du ist ein packender und vor allem origineller Thriller, denn jedes Kapitel ist in der zweiten Person Singular geschrieben. Das ist ungewöhnlich, funktioniert aber überraschend gut. Der Erzählton ist rau, sarkastisch, fies, wie das folgende Beispiel zeigt: „Kleiner, das Schicksal ist ein Typ mit Syphilis und einem Stahlschwanz, der dich in den Arsch fickt, sobald du mal in die falsche Richtung schaust.“ Ich lese extrem selten Thriller und habe diesen hier letztes Jahr beim Bücherwichteln bekommen. Und er hat mich glänzend unterhalten, ich habe mitgefiebert, bin den red herrings gefolgt und habe gestaunt über die hervorragend konstruierte Geschichte. Das Sprachniveau ist dem Genre angepasst, und das ist völlig in Ordnung. In jedem Fall ein außergewöhnliches Leseerlebnis. Danke, Bettina!

Wer soll’s lesen?
Alle Thriller-Fans, ich glaube – ohne es beurteilen zu können – dass Zoran Drvenkar zu den Könnern des Genres zählt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

CunninghamSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Um den New Yorker Galeristen Peter und seine Frau Rebecca, die in Manhattan leben. Die Tochter ist aus dem Haus und meldet sich selten, Geld ist genug vorhanden, und so widmet sich Peter der Kunst und Rebecca dem Magazin, das sie herausgibt. Die beiden haben es sich gemütlich gemacht an der Seite des jeweils anderen. Ein wenig Leben in die Bude kommt mit der Ankunft von Mizzy – „the mistake“ –, wie Rebeccas viel jüngerer Bruder Ethan von allen genannt wird. Er ist klug, jung, schön, hat Potenzial und nutzt es nicht, er ist ein Verlorener. Angeblich seit einiger Zeit clean, wird Mizzy von Peter beim Drogenkonsum erwischt. Und da Peter Rebecca nichts erzählt, teilt er nun ein Geheimnis mit Mizzy – und da kommen noch mehr …

Hat’s gemundet?

Ja. Michael Cunningham, der mit „The Hours“ den Pulitzer Preis gewonnen hat, schreibt außerordentlich gut. Inhaltlich dem Roman von Paula Fox, den ich direkt davor gelesen habe, sehr nahe, gefällt By nightfall mir aber um ein Vielfaches besser, das Buch ist ausgefeilt, klug, witzig und überraschend. Ich hatte einen sehr verblüffenden „Damit hab ich nicht gerechnet“-Moment und finde auch das Ende gar nicht mal so vorhersehbar. Wie ein kleiner Bach plätschert dieser Roman ruhig vor sich hin, erzählt und murmelt ein bisschen, reißt niemanden vom Ufer mit, hat aber durchaus einen spürbaren Sog. Ein Buch, das nicht fordert, nicht brennt und nicht schockiert, aber sehr lesenswert und interessant ist.

Wer soll’s lesen?

Alle, die sich für Kunst interessieren und zwischendurch mal Lust auf was Ruhiges haben.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

NolteSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Jonathan Schotter ist Mitte vierzig, als es ihn – nachdem er seinen lukrativen Job als Werber verloren hat und von seiner Frau verlassen wurde – nach Berlin verschlägt. Dort kommt er durch Zufall in der S-Bahn an den Laptop einer jungen Frau, die sich Roula Rouge nennt. Ohne zu zögern durchwühlt Jonathan die Festplatte, gräbt sich hinein in die Geheimnisse ihrer Besitzerin, stöbert in Fotos, Musik und privaten Dateien. Es wird für ihn zur fixen Idee, Roula Rouge zu finden – allerdings hat er nicht die Absicht, ihr den Computer zurückzugeben. Als es ihm gelingt, sie aufzutreiben, verliebt er sich ernsthaft. Dass sie ihm auf die Schliche kommt, ist von nun an seine größte Sorge. Dabei ahnt er nicht, in welche Abgründe Roula, die ihren einst aus der DDR geflüchteten Vater sucht, ihn ihrerseits noch ziehen wird …

Hat’s gemundet?
Und wie! Roula Rouge ist ein Buch, das man mit einem Haps verschlungen hat. Mathias Nolte hat einen „Liebeskrimi“ geschrieben, der flüssig genug formuliert ist, um runterzugehen wie ein leckerer Eisshake. Er entführt mich nach Berlin und setzt mich neben einen Protagonisten, der sich beim Durchsuchen eines fremden Computers äußerst skrupellos verhält. Datenschutz, die Offenheit unserer digitalen „Geheimnisse“ und Identitätsklau sind sehr aktuelle Themen, die der Autor auf hervorragende Weise in eine Lovestory verpackt. Dazu kommen noch zahlreiche doppelte Spielchen und Rätsel, die Jonathen und Roula einander aufgeben. Keiner ist ehrlich zum anderen, und doch ist ihre Verliebtheit echt. Dieses Buch ist ein bisschen wie ein Zauberkästchen mit einem Geheimfach, von dem man nie wissen kann, ob man es als Einziger entdeckt hat oder ob man hereingelegt wurde. Auf jeden Fall bietet es Unterhaltung auf hohem Niveau und eine wirklich spannende Geschichte.

Wer soll’s lesen?
Alle, die auf der Suche nach einem guten Unterhaltungsroman sind, die gern Liebesgeschichten lesen, die es mitreißend und originell mögen und die eine Vorliebe für Berlin haben.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

StellySnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Um das 20. Jahrhundert in Deutschland: Jahrzehnte voll bewegter Geschichte. Ausgangspunkt ist die Geburt von Anton Bluhm und Franz Münzer im Jahr 1924. Der eine wächst mit dem Vorhaben auf, allem Wunderglauben abzuschwören, weil sein Vater das Familienvermögen an einen betrügerischen Goldmacher verloren hat, der andere glaubt an die Wunderwaffe, die der überlegenen Rasse der Arier den Weltsieg bringen soll. In der Hitler-Jugend treffen sie aufeinander, dann verlieren sie sich für Jahre aus den Augen, bis der Zufall sie wieder zusammenbringt. Anton und Franz werden Freunde. Die beiden Männer führen ein völlig unterschiedliches Leben – als erfolgreicher Hamburger Zeitungsmacher der eine, als vielfacher Familienvater auf dem Land der andere – und ähneln sich doch darin, dass es ihnen schwerfällt, mit der Entwicklung Deutschlands Schritt zu halten. Als 1968 die jungen Menschen der älteren Generation wütende Vorwürfe machen, sehen sich Anton und Franz auf verlorenen Posten. Zwar kehrt mit dem Alter in den 1990er-Jahren Ruhe ein, aber ihr bewegtes Leben hat sie beide sehr mitgenommen.

Hat’s gemundet?
Es war hervorragend! Die deutsche Autorin Gisela Stelly hat zwei Männer in die Wirren jener Zeit verpflanzt, in der sich in Deutschland viel getan hat: Die Geschichte reicht von 1924 bis 2001. Der erste Teil, in dem Anton und Franz noch jung sind, in dem Krieg ist und jeder auf seine Art versucht zu überleben, hat mich regelrecht mitgerissen und begeistert. Im zweiten Teil, in dem es ein wenig gemächlicher zugeht bzw. die Zahl der Nebenfiguren und Randgeschichten zunimmt, ist mir ein wenig die Puste ausgegangen. Gut zu lesen, spannend, originell und intelligent ist der Roman aber bis zum Schluss. Die Schriftstellerin zeigt an den Porträts zweier unterschiedlicher Charaktere sehr anschaulich die Auswirkungen der jüngeren deutschen Geschichte, und man kann sich richtig hineinleben in ihre Darstellung.

Wer soll’s lesen?

Ohne Einschränkung jeder, der etwas für klassische, weitreichend aufgebaute und ausgezeichnet geschriebene Romane übrighat.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

JoinsonSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
“Kashgar opens its secrets to an English lady cyclist”: Die Beschäftigung mit dem Land erfolgt nicht unbedingt nur freiwillig. Ich-Erzählerin Evangeline English wird nämlich im Jahr 1923 zusammen mit ihrer Schwester Lizzie und der Missionarin Millicent nach dem Tod einer jungen Mutter bei der Geburt ihres Kindes hier festgehalten. Evangeline ist überhaupt nicht gläubig, aber sehr reiselustig, und sie wollte Lizzie, die der seltsamen missionarischen Kraft Millicents verfallen ist, nicht allein reisen lassen. Hier in diesem fremden Land versuchen die drei Frauen, Zugang zu finden zur andersartigen Kultur und Religion, um sie zu unterminieren und die Seelen dem katholischen Glauben zuzuführen. Damit bringen sie sich freilich in höchste Gefahr. Im London der Gegenwart lernt dagegen Frieda einen Flüchtigen kennen, und auch mit diesen beiden treffen Fremdheit und Andersartigkeit aufeinander. Es entsteht eine verwunderliche Verbindung, die Frieda in ihre eigene Vergangenheit führt – und letztlich auch zu Evangeline.

Hat’s gemundet?
Durchaus! Suzanne Joinson schreibt klug, flüssig, amüsant und einfühlsam. Sie erweckt in Evangelines Reisetagebuch eine Welt, die richtig weit entfernt ist von unserer – sowohl geografisch als auch kulturell. Politische und religiöse Konflikte, die Missionarsarbeit naiver junger Schwestern und sündige, verbotene Gefühle vermischen sich zu einem durchaus lesenswerten Abenteuer. Die Spuren, denen Frieda später in unserer Gegenwart folgt, sind klar zu erkennen, aber nicht so offensichtlich, dass man das Interesse verliert. Ein richtig gut gemachter Unterhaltungsroman.

Wer soll’s lesen?
Reiselustige, Abenteurer, Fans von Geschichten über fremde Kulturen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Zeiner„Dann wirst du mich an alles erinnern, denn dafür sind Freunde da. Alles, was wir vergessen, ist weg, aber wenn wir zu zweit sind, erinnern wir uns an doppelt so viel, wir haben doppelt so viel Leben“
Tom und Marc sind beste Freunde. Sie studieren und wohnen zusammen, Marc ist ein hochgelobter Jungkomponist, Tom ist auf dem Weg, ein richtig guter Pianist zu werden. Aber nicht nur die Musik verbindet die beiden, sondern auch eine Frau: Betty. Tom lernte Betty bei seiner Geliebten kennen, einer verheirateten Frau, der er Klavierunterricht gibt, und Marc machte Betty zu seiner Freundin. Freilich weiß man längst, dass Dreieckskonstellationen schwierig sind, dass Freundschaft und Liebe sich manchmal zu nahe kommen: „Später hört er, wie Betty den Reißverschluss ihres Zeltes öffnet, ungefähr fünf Meter von ihm entfernt, und während er wach liegt und in die Finsternis starrt, sagt er sich wieder, dass Liebe nicht sein muss. Liebe ist eine Möglichkeit unter vielen und absolut nicht zwingend.“ Diese Liebe ist dann aber doch zwingend, und als die drei Freunde gerade am Como See weilen, eskaliert die Situation. Und Marc kehrt nicht lebend nachhause. Tom und Betty liegen begraben unter den Trümmern, die sein Tod auslöst, Betty flüchtet nach Italien, Tom spielt weiterhin Klavier, aber nur noch mechanisch und ohne seine Seele: „Wenn er Klavier spielte, war es so, als streichelte man einem Querschnittsgelähmten die Beine.“ Viele Jahre später – Tom ist frisch von Hedda geschieden, Betty betrügt ihren italienischen Mann Alfredo mit einem Kollegen – erfährt Betty, dass Tom auf einer Konzerttournee in Italien spielen wird und kontaktiert ihn, um sich mit ihm zu treffen. Es ist Zeit geworden, dass die beiden sich dem stellen, was damals geschehen ist.

Die deutsche Autorin Monika Zeiner hat ihr Debüt Die Ordnung der Sterne über Como randvoll gefüllt mit großen und kleinen Themen: Die Wichtigkeit von Freundschaft, die Sprengkraft der Liebe und der Zauber der Musik spielen ebenso eine Rolle wie das Scheitern von Träumen an der Realität, Untreue und bitterer Verlust. So angefüllt ist das 600 Seiten starke Buch, dass ich bei mancher ausufernden Länge ein wenig den Faden verliere und ins Stolpern komme. Die meiste Zeit über führt Monika Zeiner mich aber auf elegante Weise auf den Spuren von Tom, Marc und Betty durch den Roman, entwirrt die verschlungenen Pfade der gemeinsamen Vergangenheit dieser drei Protagonisten und zeigt mir, weshalb sie schließlich in der Gegenwart dort gelandet sind, wo sie sich befinden. Prägend für das Buch und für die Geschichte ist eine enge Männerfreundschaft, die zu Beginn so unbedarft ist, wie sie es wohl nur sein kann, wenn beide Männer jung und voller Zukunftsträume sind. Dann kommt eine Frau, und als die Tragödie ihren Lauf nimmt, kommt die Schuld – die Marc und Betty fortan so fest umklammert hält, dass sie nie wieder frei atmen können.

„Immer ist alles anders gekommen mit Marc. Jeder Tag eine unvorhergesehene Wendung. Ein Knick um neunzig Grad hinter dem Horizont. Man will in den Wedding und kommt ans Meer. Man will Klavierschüler und kriegt eine Geliebte. Man will, dass alles so bleibt, und alles ändert sich.“ Dass das Leben voll unvorhersehbaren Wendungen steckt, hat Monika Zeiner in diesem Buch sehr eindrucksvoll herausgearbeitet. Ihre Figuren sind lebendig, ihre Einsichten klug, die Geschichte ist stimmig, und das Ende klingt auf perfekt passende Art aus. Sie legt einen Roman vor, der staunen lässt angesichts seiner Wucht und Traurigkeit, die aber nie so schwer wiegen, dass man das Gefühl verliert, alles hätte tatsächlich ganz genau so geschehen können. Und das ist die besondere Kunst: so gut vom fiktiven Leben anderer zu erzählen, dass der Leser gern ein wenig eigene Lebenszeit für die Lektüre gibt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Bild erscheint mir nicht unbedingt passend für den Inhalt, das Cover an sich ist jedoch sehr gelungen.
… fürs Hirn: die Frage nach der Schuld, nach jenem Moment, der all das ins Rollen gebracht hat, was danach niemand mehr aufhalten konnte.
… fürs Herz: das Karussell von Freundschaft und Liebe.
… fürs Gedächtnis: ein Lieblingszitat: „Wenn man jung ist, dann ist das Leben ein Gewirr von tausend Möglichkeiten, ein Gewimmel von tausend Wegen, einer vielversprechender als der andere, und du denkst, dass du sie alle gehen kannst. Wenn dir einer nicht gefällt, kehrst du um und suchst dir einen anderen, alles ist hell und freundlich. Alle Türen sind offen, dahinter ist Licht. Je älter du wirst, desto mehr Türen fallen zu, Wege verschwinden, sind einfach nicht mehr da, oder du findest sie nicht wieder, wie im Märchen, wo plötzlich meterhohe Dornenbüsche wachsen.“

Die Ordnung der Sterne über Como von Monika Zeiner ist erschienen im Blumenbar Verlag (ISBN 978-3-351-05000-9, 607 Seiten, 19,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Flynn„Marriage can be a real killer“
Es ist ihr fünfter Hochzeitstag – und es könnte aufgrund der Probleme, die es in ihrer Ehe gibt, der letzte sein. Oder auch aufgrund der Tatsache, dass Nicks junge Frau Amy spurlos verschwunden ist. Am Morgen war sie noch da, wenige Stunden später ist das Haus teilweise verwüstet und die Polizei findet weggewaschene Blutspuren. Wurde Amy entführt? Ist sie einem der herumlungernden Landstreicher zum Opfer gefallen? Oder hat gar Nick sie ermordet, weil er ihrer überdrüssig war? Der Verdacht fällt wie meistens auf den Ehemann, der sich nicht gerade geschickt dabei anstellt, sich von ebendiesem Verdacht reinzuwaschen – im Gegenteil. Nick hat offenbar Dreck am Stecken, und Amys Tagebuch weist ihn als einen Mann aus, vor dem sie sich zunehmend gefürchtet hat. Die Frage ist nur: Wer sagt überhaupt die Wahrheit? Bekommt Nick seinen Kopf wieder aus der Schlinge – oder gehört dieser genau da hin?

Gone Girl von Gillian Flynn war ein Überraschungserfolg und ein New-York-Times-Number-One-Bestseller, mit dem ich einen Ausflug ins sonst von mir eher missachtete Thriller-Genre gemacht habe. Die Kritiken sind sehr gut, und das Buch versprach ein wenig Ablenkung von der schweren Kost, die ich mir sonst oft zu Gemüte führe. Dieses Versprechen hat es auch gehalten: Gillian Flynn hat eine rasante, spannende Geschichte geschrieben, die schnell jene berühmte Sogwirkung entwickelt, die man sich von einem Thriller wünscht. Besonders während der ersten Hälfte kann ich den Roman kaum aus der Hand legen. Nick erzählt in der Ich-Form von seiner Sicht der Dinge, gibt dabei aber mehr als einmal zu, gerade gelogen zu haben, und Amys Stimme erklingt aus einem Tagebuch, das weiter in die Vergangenheit geht und auch das erste Kennenlernen der beiden dokumentiert. Schnell ist klar, dass beide ihr perfides Spiel mit mir treiben, dass sie nicht ehrlich sind und versuchen, jeweils selbst besser dazustehen, als sie es sind.

Die große Wendung des Buchs hat für mich nicht jenen überraschenden Knalleffekt, den sie mit Sicherheit bringen soll, denn ich habe damit gerechnet – sie schien mir das einzig Logische. Dennoch wird es im zweiten Teil des Thrillers noch einmal interessant, die Karten werden neu gemischt und die Suche nach Amy oder ihrer Leiche erhält einen ganz anderen Charakter. Nick und Amy sind – jeder auf seine Weise – unliebsame Zeitgenossen, ich weiß gar nicht, mit wem ich sympathisieren soll, und ob ich überhaupt einen von ihnen mag. Das gefällt mir, genauso wie die fein ausgeklügelte Hintergrundgeschichte rund um eine vermeintlich romantische Schnitzeljagd, Verrat, Lügengeschichten und die Frage, mit wem man sich eigentlich einlässt, wenn man jemanden heiratet. Zwar ist mir das Buch inhaltlich gegen Ende hin ein wenig zu vertrackt und ich vermisse die Glaubwürdigkeit immer mehr, aber trotz mancher Schwachstellen ist Gone Girl ein gut zu lesender, origineller Thriller, der Genre-Fans bestimmt begeistert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
hm, ja, wieso nicht.
… fürs Hirn: suspense, of course. Mitdenken ist gefragt und das Rätselraten rund um Amys Verschwinden macht natürlich Spaß.
… fürs Herz: uh. Rabenschwarz ist die Liebe der beiden.
… fürs Gedächtnis: wie schön befreiend es ist, zwischendurch ein bisschen halbseidene Spannungsliteratur zu lesen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Westö„Es ist schon seltsam, welche Abdrücke manche Menschen in einem hinterlassen. Und dass Lücken so schwer wiegen können“
Drei junge Menschen in den 1968ern in Helsinki, verbunden durch ihre gemeinsame Musik: Der schüchterne, stotternde Ariel, die attraktive, draufgängerische Adriana und der Raufbold Jouni sind mit ihrer Band mäßig erfolgreich. Ariel hat ein Lied geschrieben, „Geh nicht einsam in die Nacht“, das ihnen einen Plattenvertrag einbringt, aber nicht die ersehnte Berühmtheit, und als die drei ihre Ausbildungen abgeschlossen haben und beginnen, die Welt zu erkunden, trennen sich ihre Wege. Adriana wird ein gut gebuchtes, aber sehr unglückliches Model, Ariel verschwindet spurlos im kriminellen Dickicht Schwedens, und Jouni verfolgt eine vielversprechende politische Karriere. „Sie waren beide nur Geist, Ari und Addi, solche Luftmenschen gibt es heute nicht mehr“, sagt er später zum eigentlichen Erzähler dieser Geschichte – Frank Loman, der über viele Jahre hinweg leidenschaftlich in Adrianas jüngere Schwester Eva verliebt ist und darüber hinaus noch eine persönliche Verbindung zu dem Trio hat, dessen Lebenswege er zu verfolgen versucht. Es dauert seine Zeit, aber schließlich bekommt er die Antworten, die er sucht – und sie überraschen ihn.

Kjell Westö, der in Helsinki lebt, ist ein preisgekrönter finnlandschwedischer Autor, der auf 700 Seiten einen Generationen umspannenden, einprägsamen und sehr intensiven Roman vorlegt über das Wesen der Musik, die Zufälligkeit der Liebe und das Streben des Menschen nach Bedeutsamkeit. Ausgangspunkt sind die 1960er-Jahre, als drei junge Menschen sich selbst und ihre Möglichkeiten im Musikbusiness erkunden, und obwohl ihre Karriere bald versandet, ist diese Zeit doch von enormer Wichtigkeit für ihre späteren Leben. Sie sind ein Dreiergespann, das eng verbunden ist, obwohl nie mehr Sexuelles entsteht als ein launiges Hin- und Herspringen, es ist mehr ein gegenseitiges Beschützen – das ihnen jedoch letztlich nicht hilft. Ich-Erzähler Frank, dessen Perspektive 20 Jahre später einsetzt, bemüht sich, die Puzzlestücke zu einem erkennbaren Bild zusammenzusetzen, er will mehr wissen über diese drei Menschen, und er macht sich dazu an Politiker Jouni heran, der ihm – dem vermeintlichen Freund – irgendwann tatsächlich vieles erzählt, was sich zugetragen hat damals. In Kjell Westös Buch schwingen immer ein Hauch von Gefahr sowie eine Prise Melancholie mit, Helsinki wirkt düster, undurchschaubar und bedrückend. Wirkliches, bleibendes Glück erlebt keine der Haupt- und Nebenfiguren.

Ich lese sehr selten derart dicke Bücher, und es ist Kjell Westö hoch anzurechnen, dass er mich bis zum Ende fesseln konnte. Er schreibt sehr melodisch und mit einem feierlichen Ernst, alles scheint ihm wichtig, er ist sehr präzise. „Es gibt Geschichten, die geradeheraus und schlicht erzählt werden müssen. Sie sollen klingen, als wären sie niemals von Menschenhand berührt worden, als wären sie vom Himmel gefallen oder in einer Wolke aus Feuer und Schwefel aus der Unterwelt aufgestiegen.“ Das ist ihm beinahe gelungen – natürlich merkt man die Menschenhand. Aber es ist eine sehr talentierte Menschenhand, die weiß, was sie tut, wenn sie schreibt. Ein großartiges, sehr komplexes, zugleich leichtfüßiges und tiefsinniges Buch, das noch lange nachhallt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Düsternis passt zum Inhalt, der Titel ist für mich der bisher schönste in diesem Jahr.
… fürs Hirn: eine Vielfalt an Themen: Politik und Geschichte, Musik, Liebe, die Einsamkeit, der Tod – und unsere Sehnsucht danach, unsere Wurzeln zu kennen.
… fürs Herz: eine einzige große Lovestory gibt es nicht, dafür verschiedene Splitter der Liebe, Verbundenheiten, Freundschaften.
… fürs Gedächtnis: Lieblingszitat: „Manche Lieder sind so, sie wachsen in einen hinein. Oder man wächst in sie hinein. Denn wenn einen etwas anrührt, wer kann dann schon sagen, was sich bewegt und was stillsteht und annimmt? Wenn wir voneinander berührt werden, dann gibt es doch keinen, der eindeutig gibt, und keinen, der eindeutig nimmt? Ich weiß nicht, was die Schlösser in uns Menschen öffnet. Wüsste ich es, würde ich das schönste Lied der Welt schreiben und anschließend schweigen.“

Geh nicht einsam in die Nacht von Kjell Westö ist erschienen bei btb (ISBN 978-3-442-75282-9, 704 Seiten, 24,99 Euro).