Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Canal„Die Musik ist meine Tarnkappe. Ich wünschte, ich könnte sie ewig tragen“
„Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen? Und wie oft kann man das eigentlich aushalten? Wie oft kann ich mich häuten, bis nichts mehr von mir übrig ist?“ Das fragt sich Laurits, der als Pianist auf einem Kreuzfahrtschiff unterwegs ist, auf der Flucht vor der Frau, die er schwanger in Italien zurückgelassen hat, und auf der Flucht vor viel älteren Erinnerungen, die ihn quälen. Als Kind entdeckte er die Musik und übte fleißig am Klavier, die Aufnahme ans Konservatorium war sein Traum – doch er scheiterte, musste sich dem Vater fügen, der Arzt war, und Medizin studieren. Jahre später führt er als angesehener Gynäkologe, glücklicher Ehemann und stolzer Vater einer Tochter ein angenehmes Leben, in dem die Musik keinen Platz hat. Doch als er durch Zufall von einer Intrige seines Vaters erfährt, trifft er eine folgenschwere Entscheidung, die ihm noch jahrzehntelang keine Ruhe lassen wird …

Die deutsche Autorin Anne von Canal hat ihren ersten Roman Der Grund fein komponiert. Im Vordergrund dieses vielschichtigen Buchs stehen die Musik, die Leidenschaft für Musik und ein unheilvoller, unergründlicher Schmerz, dessen Ursprung ich anfangs nicht kenne. Protagonist Laurits nimmt mich mit auf eine Kreuzfahrt, er unterhält dort die Gäste und mich mit seiner Klavierkunst, er ist verhärmt, verbittert, rastlos und gelähmt zugleich. Schnell ist klar, dass er nicht immer der war, der er jetzt ist. An sein altes Leben will er sich nicht erinnern – und tut es doch. So wechselt der Roman zwischen der Ich-Perspektive von Laurits, die einem Tagebuch oder Logbuch gleicht, und der auktorialen Erzählung seiner Vergangenheit, die wesentlich melodischer und sprachgewaltiger ist.

Der Grund ist ein Buch, das mich unheimlich neugierig gemacht hat. Ich wollte unbedingt wissen, was Laurits geschehen ist und wie er vom Arzt und Familienvater zum vereinsamten, rücksichtslosen Barpianisten werden konnte. Anne von Canal streut im gesamten Roman immer wieder gekonnt Hinweise aus, beendet ihre Sinfonie aus Worten aber dennoch mit einem überraschenden Tusch. Dann zeigt sich endlich, woher Laurits‘ Schmerz rührt und dass er ganz aus der Tiefe kommt. Dies ist ein trauriges, melancholisches Buch, ein Bericht über Schicksalsschläge und die Unmöglichkeit, weiterzuleben wie davor. Es ist ein Roman über die Schönheit der Musik, die beruhigen, aber letztlich nicht heilen kann. Ich habe Der Grund sehr gern und aufgrund meiner Neugier sehr schnell gelesen, geradezu inhaliert, und mich an keinen Unebenheiten gestoßen, im Gegenteil: Die Sprache ist schlicht, elegant, tiefgründig. Sehr lesenswert!

BannerDer Grund von Anne von Canal ist erschienen im mare Verlag (ISBN 978-3-86648-196-1, 272 Seiten, 20 Euro).

Noch mehr Futter:
– Hier könnt ihr Anne von Canal beim Vorlesen zusehen.
– „Was für ein wundervolles, wundervolles, möchte fast sagen: perfektes Buch“, schreibt Isabel Bogdan in ihrem Blog.
– „Anne von Canal ist ein bewegender, rührender Roman gelungen über unsere Unfähigkeit, mit allzu großer Trauer fertig zu werden“, heißt es in der Besprechung auf ndr.de.
– Hier könnt ihr das Buch auf ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

AvalloneDrama, Baby!

Der Ort: das kleine Provinzstädtchen Biella in den Bergen am Arsch von Italien.

Die handelnden Personen: Marina, 22, umwerfend schön und gesegnet mit einer begnadeten Stimme, die Großes vorhat: Sie will berühmt werden, die Castingshow Cenerentola Rock gewinnen und Karriere machen in Rom, Mailand, Amerika. Andrea, 27, Langzeitstudent und Halbzeitbibliothekar, der seinen Bruder und seine Eltern hasst und nur eins will: eine Alm bewirtschaften, in Einsamkeit leben, Kühe melken, Käse machen.

Die Situation: Marina will einfach nur weg. Andrea will unbedingt bleiben.

Das Problem: Sie lieben sich.

Marina Bellezza von Silvia Avallone ist eine Bombe. Denn es ist ein italienisches Buch voller italienischer Figuren, und die Italiener explodieren oft und schnell. Sie gehen bei Kleinigkeiten in die Luft. Sie schreien viel. Sie beherrschen das Drama im großen Stil. Klischee und Vorurteil? Mag sein, wird aber in diesem Roman bestätigt. Allerdings sind es keine Kleinigkeiten, derentwegen hier gestritten, gebrüllt und geweint wird. Es geht um etwas Großes: um eine Liebe. Um die Art, wie man sein Leben verbringen will. Die Protagonisten Marina und Andrea sind gemeinsam aufgewachsen und haben sich immer schon geliebt. Nach einem schrecklichen Zwischenfall haben sie sich aus den Augen verloren, doch als sie sich Jahre später durch Zufall wiedersehen, ist die Anziehungskraft noch genauso stark. Doch leider verkörpern die beiden zwei Extreme: Marina ist sexy, schön, geil auf den Erfolg und das Rampenlicht, Andrea will eine Alm in den Bergen, Kühe und Kinder. Es ist absolut unmöglich, dass diese Wege sich durch einen Kompromiss kreuzen lassen. Deshalb ist ihre Liebe durchwirkt von Verzweiflung, deshalb schlägt ihre Liebe ständig in Hass um. Sie schreien sich an, schlagen sich, vergehen fast vor Leidenschaft. „Hinsichtlich der Wutausbrüche, der Unreife, der Exzesse glichen Marina und Andrea sich.“ Miteinander geht es genauso wenig wie ohne einander.

Die italienische Autorin Silvia Avallone, die 1984 in Biella geboren ist und für ihren ersten Roman Sommer aus Stahl mehrfach ausgezeichnet wurde, hat in ihrem zweiten Buch ein recht überspitztes Porträt des jungen Italien gezeichnet. Marina steht für jene, die einen Fluchtweg suchen, die neuen digitalen Möglichkeiten und erfolgversprechenden Showformate nutzen wollen, ganz gierig sind auf den schnellen Ruhm, um das marode Land verlassen zu können. Andrea repräsentiert jene, die zurückkehren in den Schoß des Heimatdorfs, ohne Job, orientierungslos nach dem Studium, die keine Jobaussichten haben, aber ihre Wurzeln nicht aufgeben wollen und aus Trotz erst recht dort etwas aufbauen wollen, wo nur noch Ruinen sind. Die Fronten sind verhärtet, die Wogen gehen hoch, das italienische Blut gerät in Wallung. Das ist für jemanden wie mich, der zwar hitzig ist, aber auch verständnisvoll, nicht immer nachzuvollziehen. Andrea und Marina wollen sich gegenseitig zu etwas zwingen, zu dem sie selbst nicht bereit sind. Sie glauben, dass nur ihr jeweiliger Weg zum Glück führt. Ihr ewiges Gezanke ist nicht nur für die beiden anstrengend, sondern auch für mich. Aber mich interessiert das ausweglose Szenario, das die Autorin entworfen hat, und sie schreibt, wenn auch nicht ganz frei von Holprigkeiten, sehr gut. Allerdings hat sie ihre Charaktere in eine Lage gebracht, aus der niemand sie befreien kann – auch Silvia Avallone nicht. Deshalb ist diese Bombe von einem Buch am Ende sehr leise, als die Sprengkraft verpufft und nur die Asche nach dem Brand bleibt. Widmet euch diesem wilden, verstörenden, emotionalen Roman mit innerer Geduld, er ist wirklich lesenswert. Und bestimmt wird auch euch ein bisschen heiß dabei.

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Marina Bellezza von Silvia Avallone ist erschienen im Klett-Cotta Verlag (ISBN 978-3-608-98018-9, 566 Seiten, 24,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Das Erwachsenwerden der liebeshungrigen jungen Helden, die die Verletzungen aus ihrer Kindheit allzu oft an andere weitergeben, vollzieht sich über Umwege und auf unerwartete Weise“, heißt es in der Rezension auf haz.de.
– „Marina Bellezza ist nicht bloß ein Liebesdrama, das einen mitreißt wie die Strudel des Wildbachs Cervo, sondern auch das Portrait einer Generation ohne Perspektive, die einsam und auf sich gestellt nach Anerkennung und ihrem Platz im Leben sucht“, schreibt deep read.
– Hier kannst du das Buch auf ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

AbateVon Lebensträumen
Roccalba, das Heimatdorf seiner Mutter in Kalabrien, ist für Florian vor allem eins: weit weg. Als Kind fährt er mit seinen Eltern jedes Jahr von Hamburg aus dorthin, wo die Menschen unglaublich laut sind, wo es nach Bergamotte riecht, wo die Großmutter mit dem weichen Busen lebt und der Großvater mit dem großen Traum: Er will den Fondaco del Fico wieder aufbauen, die Familienherberge, in der einst sogar Alexandre Dumas Rast gemacht haben soll. Aus der verkohlten Ruine möchte der Großvater ein Hotel machen, und er schuftet wie wild in seiner Metzgerei, um Geld zu sparen. Der Fondaco ist ihm heilig, und als die Mafia ihr gefräßiges Maul aufreißt, sieht er Rot. Danach verbringt er viele Jahre im Gefängnis, doch als er zurückkehrt, ist seine Motivation größer denn je. Florian, der von der Geschichte wenig weiß und eher mit seiner Eifersucht auf den neuen kleinen Bruder zu tun hat, entdeckt erst als junger Mann seine Liebe zu Italien, zu seiner zweiten Heimat. Das liegt vor allem an der hübschen Martina. Doch wie früher gilt auch jetzt noch: Mit der Mafia ist nicht zu spaßen.

Carmine Abate ist in Kalabrien geboren, später nach Deutschland ausgewandert und lebt heute im Trentin. Er zählt zu den wichtigsten Autoren Italiens und wurde unter anderem mit dem Premio Campiello ausgezeichnet. Ich hab sein Buch Zwischen zwei Meeren im Urlaub gelesen, und das war absolut perfekt. So ein Ausflug ins sonnige Italien ist ja selbst ein bisschen wie Urlaub, und Carmine Abate hat mit seiner klaren, umstandslosen Sprache die Landschaft Kalabriens vor meinen Augen gezeichnet, die kulinarischen Köstlichkeiten, die hitzköpfigen Menschen, ihre Lebensumstände und Träume. Er erzählt die Geschichte des Fondaco del Fico und der Familie Bellusci nicht chronologisch, im Gegenteil – nach und nach erhalten Ich-Erzähler Florian und ich kleine Schnipsel, aus denen sich die Ereignisse zusammensetzen lassen. Das ist gut gemacht, gut geschrieben, gut zu lesen. Seine Charaktere hat Carmine Abate sehr liebevoll gestaltet, er hat sie mit Spleens und Eigenheiten ausgestattet, lässt sie die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Italien immer wieder am eigenen Leib erleben. Das ist aber nie allzu klischeehaft oder klamaukig, sondern amüsant.

Zwischen zwei Meeren ist ein prall gefülltes Buch voller Lebenslust, voll Freude am Fabulieren, voll von Ehrgeiz und eisernem Willen, südländischer Sturheit und Leidenschaft. Ein Roman, der manchmal ernst bleibt, manchmal sehr viel Spaß macht und dadurch eine ausgewogene Mischung bietet. Die Abenteuer der Familie Bellusci sind auf jeden Fall eine Reise nach Kalabrien wert. Macht euch auf den Weg, ein kleiner Kurzurlaub tut immer gut. Ich wünsche viel Vergnügen!

BannerZwischen zwei Meeren von Carmine Abate ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03410-8, 235 Seiten, 18,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– Das ist die Website von Carmine Abate. Halt nur leider auf Italienisch.
– „Carmine Abate ist der einzige ernstzunehmende aus Kalabrien stammende Autor, der auch in Deutschland oft und gern gelesen und in sämtlichen neueren Kalabrien-Reiseführern als Reiseliteratur empfohlen wird“, heißt es auf silagreca.de, wo ihr ein schönes Porträt über den Autor und seine Heimat lesen könnt.
– Hier könnt ihr das Buch auf ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Mouawad„Da begriff ich, dass dieser Mann sein Schicksal vor langer Zeit mit dem der Tiere verbunden hatte, auf eine Art und Weise, die nur er selbst verstand“
Eine Frau wird bestialisch ermordet, vergewaltigt, zum Sterben liegen gelassen mit dem Baby in ihrem Bauch. Ihr Ehemann verliert fast den Verstand vor Kummer. Die Polizei weiß bald, wer der Mörder ist, nimmt ihn aber nicht fest, weil er eine wichtige Figur im illegalen Geschäft rund um die Indianerreservate zwischen Kanada und den USA ist. Also macht der Mann sich auf die Suche nach dem Mörder. Er will ihn nicht töten, er will ihm nur ins Gesicht sehen. Auf dieser Reise muss er dem Grauen wieder und wieder entgegentreten und findet schließlich in seiner eigenen Kindheit die schlimmsten Gräueltaten überhaupt. Beobachtet und begleitet wird er auf seiner Suche von den Tieren, und sie erzählen seine Geschichte. Sie hören ihm zu, sie beschreiben ihn, sie sehen in sein Innerstes: „Endlich erkannte ich sein wahres Ich. Er versteckte sich hinter dem Aussehen eines Menschen, aber in Wahrheit war sein Herz von einem unsichtbaren Netz umsponnen, dessen Seide aus seinem eigenen Fleisch bestand, und die Bestie, die ihn gefangen hielt und sich von seinen Eingeweiden ernährte, war niemand anderes als er selbst.“ Die Hauskatze, der Hund, der Wolf am Straßenrand, die Schlange im Terrarium oder die Spinne in der Bar: Alle nehmen diesen Mann wahr, der eine einzigartige Verbindung zu Tieren hat, seit er mit einigen von ihnen lebendig begraben wurde. Die Tiere beschützen ihn, helfen ihm – und können seine abgrundtiefe Verzweiflung dennoch nicht mildern.

Anima von Wajdi Mouawad ist ein unfassbar brutales Buch. Es ist grausam, animalisch, wild, entfesselt und entsetzlich spannend. Der Autor, der im Alter von acht Jahren aus dem Libanon flüchtete und dort vermutlich Ähnliches erlebt hat wie sein Protagonist, lässt ausschließlich Tiere zu Wort kommen. Ob Goldfisch, Affe oder Waschbär: Sie berichten, was sie sehen und hören, und aus ihren Berichten setzt sich die ganze Geschichte zusammen. Das ist verdammt originell und verdammt gut gemacht. Denn Wajdi Mouawad denkt sich in jedes Tier dermaßen hinein, dass ich ihm jede Regung glaube. Dies ist kein hochgeistiges, verkopftes Buch. Im Gegenteil. Es ist ein Buch aus Fleisch und Knochen, es riecht nach nassem Fell, nach Erde, nach Aas. Der Blick der Tiere auf die Menschen, die genauso wie sie töten, fressen und nach ihren Instinkten handeln, macht auch die Menschen zu Tieren. Besonders in diesem Fall, weil die Menschen im Buch von Gier und Blutrausch getrieben werden. Die Schlange, die ein Kaninchen frisst und dabei die Todesangst der Beute genießt, der Mörder, der einer Frau den Bauch aufschlitzt: All das beschreibt der Autor derart eindrucksvoll, dass mir die Spucke wegbleibt. Die Sichtweise der Tiere ist sehr klar, völlig anders als die menschliche und dabei doch emotional gefärbt. Wajdi Mouawad lässt die Tiere in ihrer ganz eigenen Poesie erzählen: „Menschen verströmen häufig das Grün der Angst oder das Gelb des Kummers, manchmal auch seltenere Farben: das Safrangold des Glücks oder das Türkis der Ekstase. Aus dem müden, erschöpften Rücken des Fremden, der vom trüben Weiß des Hohlwegs verschluckt wurde, sickerte ein tiefes Schwarz, die Farbe der Schiffbrüchigen, der steuerlos auf dem Meer Treibenden, die besondere Farbe derjenigen, die ihre Erinnerungen und ihre Vergangenheit nicht hinter sich zu lassen vermögen.“

Auf der Reise des Protagonisten tun sich Abgründe auf. Darin liegen bergeweise Leichen. Er ist ein gebrochener, zerstörter Mann, der nichts zu verlieren hat, und er erkennt immer mehr, dass der Mensch das grausamste aller Wesen ist, der Feind der Tiere, der Feind von sich selbst. Ich ekle mich. Ich fürchte mich. Ich schäme mich. Ich bin sprachlos angesichts der Gewalt in diesem Buch. Dies ist ein Thriller, wie ich ihn nie zuvor gelesen habe. Klug, ekelerregend, spannend, nervenzerfetzend, elendig gut geschrieben und absolut genial. Ein Roman, der starke Nerven verlangt. Und der den Menschheitshass schürt. „Nicht alle Menschen sind Fallen, nicht alle Menschen sind Gift, und das bedeutet, dass nicht alle Menschen Menschen sind. Manche sind noch nicht innerlich verwest.“

BannerAnima von Wajdi Mouawad ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-26021-3, 448 Seiten, 16,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– Zwei Rezensentenstimmen im Perlentaucher.
– „Ein ungewöhnlicher Roman über die Bestialität des Menschen“, heißt es in der Rezension der Frankfurter Rundschau.
– „Die Wucht dieses Buches droht einen zu erschlagen“, schreibt die Tiroler Tageszeitung.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Köhler8 Geschichten über die kleinen und großen Katastrophen des Lebens
Als Kind hat Katharina immer den Indianer gespielt, während die anderen die Cowboys waren. Viele Jahre später sitzt sie dehydriert, ohne Geld und ohne Pass vor einer Tankstelle im Death Valley, als plötzlich ein echter Indianer vor ihr steht. Der nimmt sie mit und hilft ihr, braucht aber wenig später selbst Hilfe. Ihre kurze Roadstory wird zu einem verrückten Erlebnis. Ein bisschen verrückt ist auch Polar, die einfach abhaut, nur einen Zettel auf dem Tisch zurücklässt und ihrem Freund von ihrer überstürzten Reise 17 Postkarten schreibt. 27 Tage dagegen hält die junge Frau auf dem Hochstand durch, die sich dort vom Hunger umbringen lassen will, damit der Schmerz in ihr endlich aufgefressen wird. Und eine Animateurin auf einem Kreuzfahrtschiff findet eine ähnlich radikale Lösung, mit ihrem Kummer umzugehen.

Karen Köhlers acht Geschichten aus dem Band Wir haben Raketen geangelt sind acht Stecknadeln. Sie nimmt eine nach der anderen und sticht sie mir in die Haut. Das tut nicht sehr weh, aber doch ein bisschen. Weil auch die Figuren in den Short Stories leiden – die eine mehr, die andere weniger. Sie wurden getrennt, verlassen, haben umsonst geliebt, einander Schmerzen zugefügt oder ein Baby verloren. Ob in der deutschen Provinz, im Death Valley oder in Sibirien: Eigentlich ereignen sich hier große Dramen. Aber die deutsche Autorin, die Schauspielerin und Illustratorin ist, Astronautin werden wollte und Fallschirmspringen kann, erzählt davon so locker, unhysterisch und beiläufig, dass man den Schmerz zuerst gar nicht so bemerkt. Und sich dann wundert, was da so gepiekst hat.

Es geht um Menschen, die stark sein wollen, aber nur schwach sein können, um Trennungen, zerstörte Familien, kaputte Kindheiten und den Tod. Ich möchte die Figuren kitten und trösten, kann ihnen aber nur beim Scheitern zusehen. Karen Köhlers Darstellung einer Handvoll Zerbrochener ist überaus gelungen, sehr fein, sehr bedacht. Die Autorin, die den wunderwunderschönen Bucheinband ihres Debüts selbst illustriert und gestaltet hat, braucht nicht viele Worte, um dieses Scheitern zu beschreiben, sie ist sehr klar und direkt in ihrem Erzählstil, trotzdem aber fantasievoll, sie bedient sich origineller Formen wie Postkarten und Kurzporträts. Sie braucht auch keine Knalleffekte in ihrer Sprache, sie setzt auf Knalleffekte im Gehirn. Legt euch den Fallschirm um, Leute, steigt in die Rakete und lasst euch in diese Geschichten hineinschießen, ihr werdet es mit Sicherheit nicht bereuen!

Blogtour
Karen Köhlers Universum ist so mitreißend, dass SchöneSeiten, Bibliophilin, Klappentexterin, Literaturen, die Bücherliebhaberin und ich uns zusammengetan haben, um mit unseren Raketen von Blog zu Blog zu fliegen und euch den eindrucksvollen Erzählband aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen. Dazu haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht. Karen Köhler wollte nämlich eigentlich ihre Geschichte Il Comandante, die im Buch leere Seiten hinterlassen hat, im Juli 2014 beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt vorlesen. Dann konnte sie aber wegen einer Windpockenerkrankung nicht teilnehmen – verdammt fies. Deshalb bekommt Il Comandante bei uns einen Ehrenplatz: Nacheinander werden wir je einen Abschnitt daraus veröffentlichen – er ist der Sternenschweif, der uns verbindet. Am Ende habt ihr nicht nur die komplette Erzählung, wir landen auch auf unserem Gemeinschaftsblog We read Indie. Dort empfangen wir euch zusammen mit der Autorin, die uns ein schönes Interview geschenkt hat. Die Raketen-Blogtour ist
am Montag bei SchöneSeiten gestartet,
führte über die Bibliophilin,
Klappentexterin und
Literaturen bis zu mir und geht morgen
bei der Bücherliebhaberin weiter.
Das Interview mit Karen gibt es dann am Sonntag auf We read Indie.

 

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Il Comandante
von Karen Köhler, Auszug aus Wir haben Raketen geangelt, erschienen im Hanser Verlag (ISBN 978-3-446-24602-7, 240 Seiten, 19,90 Euro).

Freitag
Meine Lieblingsschwester bringt das Frühstück und die Medikamente.

»Wow. Steht dir!«

»Danke«, ich schüttele meinen Uma-Thurman-Kopf.

»Die OP für den Port ist Montagmorgen um acht Uhr.«

»Okay.«

»Herr Doktor Kehlmann kommt gleich zur Visite und wird das auch noch mal mitteilen. Was haben wir denn hier, Brei, Tee und einen Apfel. Wenn ich zum Abräumen wiederkomme, ist das Tablett leer, haben wir uns verstanden?«

»Jep.«

»Da hat jemand ja zur Abwechselung mal gute Laune, Halleluja! Das muss an deinem neuen Freund liegen«, sagt sie und bringt meiner Zimmernachbarin ihr Frühstück, das ebenfalls aus Brei und Tee besteht. Magenkrebs.

»Neuer Freund?«, frage ich.

»Erzählt man sich so«, sagt sie und zwinkert ihr Zwinkern.

Nachdem ich das Frühstück verputzt habe, kommt Kehlmann. Er bestaunt meine Perücke, begutachtet den Heilungsprozess der Narbe und bespricht mit mir die anstehende OP. Er sagt, so gefalle ich ihm besser, so ein Kampfgeist sei wichtig bei einer Krankheit wie Krebs. Dann ist meine Nachbarin dran. Ich mache mir Ohrenstöpsel rein, lasse die Musik in meinen Kopf und meinen Blick aus dem Fenster.

Eine Playlist später wische ich übers Telefon, gebe den Code ein, klicke Nachrichten, klicke auf Cesar und tippe Hola Comandante, would you like to go to church with me?

Es dauert ein paar Minuten, dann macht es Dingding.

Church?

Pick u up in 10 minutes.

Okay, sweetheart.

Ich ziehe den Vorhang um mich herum und wasche mich notdürftig am Waschbecken, leere den Beutel aus, spüle das Becken sauber, putze meine Zähne, rolle mir Deo unter die Arme und werfe mir meine Krankenhaustracht wieder über: T-Shirt und Sweatshirt von Tom, Leggings von mir. Frisur hält. Los geht’s.

Der Comandante sitzt mit dem Rücken zur Tür und schaut aus dem Fenster, als ich das Zimmer betrete. Irgendwas ist anders, aber ich weiß nicht, was. Kapitänsmütze sitzt. Neonsocken leuchten. Goldreifen klimpern an seinen Armen.

»Are you okay?«, frage ich.

»Yes, very much okay. Muy bien. Alles gut.«, sagt er und dreht sich um.

»Let’s go then.«

»Nice haircut.«

Ich schnappe mir den Rollstuhl, und er fragt, wohin wir gehen. »In die Kirche, hab ich doch gesagt.« Er lacht. Dass sich im Untergeschoss des Krankenhauses nicht nur das Bettenlager, sondern auch eine kleine Kirche befinden soll, hält er für ausgemachten Unsinn. Kellerkirche. Er denkt, ich verarsche ihn und lacht sich schlapp. Als wir dann aber vor dem Eingang stehen, ist er still. Und als ich ihn in die Mitte des Raumes geschoben habe, füllen sich seine Augen mit Tränen.

»Beautiful. Very beautiful. Thank you.«

Dann erkläre ich ihm das mit den Steinen und den Zetteln und er will auch unbedingt beides. Er sitzt da, hochkonzentriert, presst mit seinen Händen den von ihm ausgesuchten Stein. Dann schreibt er mit wackeliger Hand Muchas Gracias auf einen Zettel und ich lege beides für ihn in die Schale auf dem Altar, da kommt er ja nicht hin mit dem Rollstuhl. In der Schale liegen bisher einzig mein Zettel und mein Stein.

Am Ausgang schreiben wir einen Dankesgruß ins Gästebuch und blättern uns durch die Seiten. Ich übersetze ihm die Einträge. Viele bitten um Heilung. Manche haben jemanden verloren. Uns berührt die Nachricht eines Paares, deren Baby kurz nach der Geburt starb. Zum Glück hat Cesar wieder Taschentücher mit.

»Do you have children?«, frage ich ihn.

»No«, antwortet er traurig.

Der Kundenstopper verrät uns, dass heute schon wieder der Schnitzelteller im Angebot ist. Unser Tisch ist frei, wir beginnen mit der Belagerung, kennen die Karte auswendig und bestellen für mich Salat und für Cesar Fischfilet mit Pommes. Zum Nachtisch ein Banana Split und einen Espresso. Danach ab auf meine Station, wir wollen wissen, ob das Päckchen angekommen ist. Ich soll am Abend noch mal fragen. Wir beschließen einen Verdauungsschlaf und einen Spaziergang zum See am Nachmittag.

Wie die Geschichte weitergeht, erfahrt ihr morgen bei der Bücherliebhaberin!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Stanisic„Die Nacht vor dem Fest ist eine eigenartige Zeit. Früher einmal wurde sie Die Zeit der Helden genannt“
Da gibt es die Füchsin, die Fähe, die Eier stehlen will für ihre Jungen.
Da gibt es den ehemaligen Postler Dietzsche, der Rassehühner hat und wirklich gute Eier.
Da gibt es die junge Anna, die durch die Nacht joggt, zum letzten Mal, und den jungen Johannes, der Glöckner werden und seine Unschuld verlieren will.
Da gibt es die Mutter von Johannes, die das Haus der Heimat betreut und alle Geschichten und Legenden kennt, aber womöglich nicht in der Originalversion erzählt.
Da gibt es Herrn Schramm, der sich, wenn er Zigaretten geholt hat, umbringen will.
Da gibt es die alte Frau Kranz, die das Dorf in der Uckermark endlich bei Nacht malen will, leider aber nachtblind ist.
Da gibt es Berichte, jahrhundertealt, von Morden und Kindern und Räubern und Festen, da gibt es Stimmen in der Nacht, Erinnerungen, Geister.
Nur den Fährmann, den gibt es nicht mehr. Der Fährmann ist tot.

Das erste Kapitel von Vor dem Fest von Saša Stanišić gehört wohl zu den besten ersten Kapiteln, die ich je gelesen habe. Und obwohl es Nacht ist im Buch und auch bei mir, bin ich schlagartig hellwach. Saša Stanišić hat mich vor vielen Jahren mit seinem Erstling Wie der Soldat das Grammofon repariert über die Maßen begeistert. Für sein aktuelles Buch hat er den Preis der Leipziger Buchmesse abgestaubt und steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Also habe ich vor meiner Abneigung gegen Zweitbücher die Augen verschlossen und es gelesen. Und sehr genossen. Der Autor, der aus Bosnien-Herzegowina stammt und seit 1992 in Deutschland lebt, erzählt in Vor dem Fest in vielen Stimmen. Das Flüstern derer, die es nicht mehr gibt, ist ebenso zu hören wie die Jugendlichen, die es ein bisschen langweilig haben in dem idyllischen Dorf in der Uckermark. Morgen soll das Fest stattfinden, das Annenfest, das traditionelle, wenn die Nacht erst vorüber ist, diese Nacht, um die sich das ganze Buch dreht. In vielen, teilweise sehr kurzen Kapiteln berichtet Saša Stanišić von Geistern, die umgehen, von einem geplanten Selbstmord, von Vorbereitungen und Abschieden, Einsamkeit, Depression und der Frage, wie wahrscheinlich es war, dass alle meine Vorfahren überlebt haben, mütterlicherseits und väterlicherseits, sodass ich geboren werden konnte. Und wer bleibt, um zu erzählen von allem, was geschehen ist? „Einer. Einer schreibt. Einer hat es immer geschafft.“

Vor dem Fest ist ein facettenreiches Buch, das aus vielen Figuren, Perspektiven und Berichten besteht – alle nur lose zusammengehalten von der geografischen Gemeinsamkeit. Sinn und Zweck hat die Geschichte keinen erkennbaren, sie wabert ruhelos die ganze Nacht von einem zum anderen, verweilt kurz bei den verschiedenen Gestalten, sie ist fantasievoll und fantastisch, lässt zu, dass Vergangenheit und Gegenwart sich übereinanderlegen in mehreren Schichten, die nicht voneinander zu trennen sind. Das ist verwirrend, das ist komplex, das ist gut. Ich bin mal drinnen in der Geschichte, mal draußen, finde sie stellenweise schön und originell, dann wieder zu vage, zu grotesk. Aber ich interessiere mich auf jeder einzelnen Seite für den Roman, bis zum Schluss, für jede der ebenso banalen wie tragischen Figuren, für die Mythen, die ihre Fängen ausstrecken bis in die Gegenwart und zeigen, dass wir nur sind, wie wir sind, weil alle vor uns so waren, wie sie waren. Wir umtanzen uns, das Buch und ich, haben Erwartungen aneinander, die auch erfüllt werden, nur nicht zur Gänze. Am Ende sind wir beide erschöpft, aber zufrieden, und der Roman darf bleiben, bekommt einen Platz in meinem winzigen Regal – und das sagt eigentlich schon alles.

BannerVor dem Fest von Saša Stanišić ist erschienen im Luchterhand Literaturverlag (ISBN 978-3-630-87243-8, 320 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Vor dem Fest ist ein Roman über die letzten nicht globalisierten Deutschen“, heißt es in dieser Rezension auf zeit.de.
– „Dieser Roman ist nicht nur inhaltlich ein Fest, sondern auch sprachlich, ein Genuss, ein modernes Märchen über Herkunft und Vergangenheit, über Geschichte und ihre Präsenz in der Gegenwart“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Eine furiose Tragikomödie“ nennt spiegel.de diesen Roman.
– „Vom ersten Satz an hatte ich als Leser das Gefühl, ein Teil dieses Dorfes, mit seinen schrulligen Bewohnern zu sein“, schwärmt Mara von Buzzaldrins Bücher.
– Und hier könnt ihr das Buch auf ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

RothmaierEin Vater, ein Kind, tausend Probleme
Der Comiczeichner Konrad ist gearscht. Und zwar so richtig. Denn er hat sich in Paule verliebt, und nach ebenso emotionalen wie anstrengenden gemeinsamen Monaten wird Paule schwanger. Das Kind bekommt sie nur, weil Konrad sie überredet, und weil sie es nicht will, verlässt sie es auch sehr schnell, kaum dass es da ist. Konrad bleibt zurück mit der kleinen, hilflosen Lio, mit der Ratlosigkeit, wann und wie man ein Baby versorgen muss, mit Geldsorgen und einer viel zu großen Verantwortung. Aber er lässt sich nicht unterkriegen, versucht, so rasch wie möglich das Vatersein zu lernen. Er kümmert sich. Tag und Nacht. Und als sich herausstellt, dass Lio behindert ist, dass sie in ihrer Entwicklung zu langsam ist und nie sein wird wie alle anderen, sorgt er trotzdem und gerade deshalb für sie. Doch 17 Jahre später kommt Konrad an den Punkt, an dem er nicht mehr kann. Er packt Lio ins Auto und fährt gen Norden, um sie endlich loszuwerden.

Die Schweizer Autorin Beate Rothmaier hat bereits zwei mehrfach ausgezeichnete Romane vorgelegt. In ihrem dritten Buch skizziert sie eine ungewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung und schildert sehr eindrucksvoll all die Nöte, denen sich Protagonist Konrad ausgesetzt sieht: Mehr als einmal hat er nicht einmal genug zu essen. Als Freiberufler versucht er mehr schlecht als recht, sich und das Baby über Wasser zu halten, Zeit zum Zeichnen zu finden, das Kind, das spezielle Bedürfnisse hat, das ständig erbricht und nicht genug zunimmt, zu umsorgen. Sonderbarerweise völlig ohne staatliche Hilfe, aber ich kenne mich mit dem Schweizer System nicht aus. Es tut beim Lesen im Herzen weg, wie er sich abmüht, getrieben von seiner Liebe zu dem kleinen Wesen, das von seiner Mutter zurückgelassen wurde. Als er sich neu verliebt, wird es besonders deutlich: Alles wäre besser, einfacher, wenn es Lio nicht gäbe. Das ist hart. Aber es ist die Wahrheit.

Atmen, bis die Flut kommt ist ein heftiges, scharfes, beißendes Buch, das mir zum Teil starke Nerven abverlangt. Sehr eindringlich schildert die Autorin eine ausweglose Situation, ein Schicksal, das nicht ungewöhnlich ist und in seiner Banalität doch sehr grausam. Sie findet für ihre Geschichte eine kantige, erbarmungslose Sprache, was ausgezeichnet passt und sehr stimmig ist. Ein wenig überflüssig fand ich die halb philosophischen, halb wissenschaftlichen Einschübe über Genetik, Menschsein und Medizin, die mich eher abgelenkt und irritiert haben. Ansonsten habe ich die Geschehnisse sehr atemlos verfolgt, mit Gänsehaut, Entsetzen und Mitleid. Ein Buch, das niemanden kaltlässt, garantiert.

BannerAtmen, bis die Flut kommt von Beate Rothmaier ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04495-2, 400 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– Auf ihrer Website könnt ihr euch über die Autorin informieren.
– Einblick in das Buch bekommt ihr in der Videolesung.
– “Besonders beeindruckend ist der dabei entstehende eigene Sound der Autorin, ihre Wortkompositionen und ihre feine Beobachtungsgabe, mit der sie Stimmungen und das Innenleben ihrer Figuren unheimlich detailgetreu einfängt und auf Papier bannt”, schreibt Mara in ihrer Rezension zu diesem Buch.
– Hier könnt ihr den Roman auf ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Barlow„Leg einen Kurs fest, so wie die Sonne ihre Bahn über das Meer wirft, und folge ihm dann – oder geh unter und ersauf“

Die handelnden Personen
Zoja: eine Hexe, jung und schön seit vielen Jahrzehnten
Elga: ebenfalls eine Hexe, alt und rachsüchtig, die seit Ewigkeiten mit Zoja raubend und mordend durch die Lande zieht
Will: ein junger Amerikaner, der für eine Werbeagentur arbeitet und der CIA in die Quere kommt
Oliver: ein undurchsichtiger Spion, der Will in die Scheiße reitet
Vidot: ein Polizeikommissar, der in einen Floh verwandelt wird

Der Ort
Paris

Die Geschichte
Zoja und Elga sind Hexen, sie stammen aus Russland und sind nun, Ende der 1950er-Jahre, nach Jahrzehnten des Herumziehens, in Paris gelandet – zumindest vorübergehend. Immer schon bestand ihre Strategie darin, sich an Männer zu hängen – Heerführer, Soldaten, Herzoge, Kaiser, später Geschäftsmänner – und sich von ihnen aushalten zu lassen, bis es Zeit war, zu gehen. Dann mussten die Männer ihr Leben lassen, durch Gift, gezischte Verwünschungen, geflüsterte Zaubersprüche. Doch als Zoja ihren aktuellen Liebhaber beseitigt, geht etwas schief, sie zieht die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich und den Hass von Elga. Also muss Zoja sich verstecken. Genau wie der Amerikaner Will, der zwischen die Fronten der russischen und der amerikanischen Spione gerät. Schuld daran ist Oliver, von dem Will nicht weiß, ob er Freund ist oder Feind. Als Zoja und Will aufeinandertreffen, benutzt Zoja ihre Zauberkraft, um Will an sich zu binden und ihn als Schutzschild zu benutzen. Doch zum ersten Mal spürt sie etwas anderes als den Wunsch, beschützt zu werden und zu überleben: Sie verliebt sich. Und das ist in diesem Fall ebenso gefährlich wie eine mordlustige Hexe, bewaffnete Spione, ein schlauer Floh, pharmazeutische Experimente und uralte Kräfte, denen niemand gewachsen ist …

Die Konsequenzen
Baba Jaga von Toby Barlow ist verrückt. Originell. Sehr schräg. Absolut unglaublich. Wahnsinnig anstrengend. Und irgendwie nicht mit normalem Maßstab zu messen. Weil das Buch geradezu übergeht vor kreativen Ideen, womit der Autor wohl beweist, dass er als Creative Director einer Werbeagentur in Detroit den richtigen Job gewählt hat. Als ich zu lesen beginne, merke ich schnell, dass ich die Realität, wie ich sie kenne, vergessen muss. Ich lese ja kein Fantasy, deshalb sind zaubernde Frauen und in Flöhe oder Ratten verwandelte Männer zunächst eine Neuheit für mich. Ich glotze also mit offenem Mund wie ein staunendes Kind, dem das Eis in der Hand schmilzt, auf die tanzenden Bilder vor mir. Und sie tanzen wirklich wild. Der Autor haut mir die Zaubersprüche, Verfolgungsjagden, Sexszenen und Schusswechsel nur so um die Ohren. Und ich finde es toll! Mit einem Manko: Sprachlich ist mir der Roman stellenweise zu platt, da wäre an den Formulierungen noch zu polieren gewesen. Auch die Hexenlieder hätten nicht unbedingt sein müssen. Dafür punktet Baba Jaga mit sprühender, funkelnder Fantasie. Wie Polizeikommissar Vidot sich frohen Mutes seinem Schicksal, plötzlich ein Floh zu sein, ergibt, das Geheimnis seiner Frau entdeckt und beim Beißen in diverse Kopfhäute und Tierfelle in einen orgiastischen Blutrausch verfällt, ist einfach nur herrlich. Toby Barlow hat sich für die Charakterisierung seiner Hexen an alten Legenden bedient und beschreibt ihre Zaubereien sehr detailreich, interessant und amüsant. Er gibt Zoja und Elga ihre Zauberkünste als Waffe gegen die Dominanz der Männer in die Hände.
Mit dem Ende der Geschichte bin ich absolut nicht einverstanden, muss es aber freilich akzeptieren. Generell muss man das Buch sehr aufmerksam lesen, um den Ereignissen folgen zu können. Weil alles so durchgeknallt ist. Weil es ein absoluter Höllenritt ist, ein Drogentrip, ein Alptraum, eine Liebesgeschichte, eine absurde Story, die merkwürdigerweise doch Sinn ergibt. Und gerade diese Absurdität ist für mich eine angenehme Abwechslung zu meiner üblichen schwermütigen Lektüre. Insofern: Lasst euch verführen, erschrecken, verzaubern – so etwas habt ihr garantiert noch nie erlebt!

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Baba Jaga von Toby Barlow ist erschienen im neuen Atlantik Verlag bei Hoffmann und Campe (ISBN 978-3-455-60000-1, 544 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Ich lese eigentlich kaum phantastische Romane, als Genre interessiert mich das nicht so sehr. Aber ich mag es trotzdem, selbst darüber zu schreiben“, sagt Toby Barlow im Interview.
– „Nichtsdestotrotz ist dem Mann aus Detroit ein literarischer Parforceritt gelungen, der neben gelegentlicher Übersättigung auch noch eine erstaunlich üppige Menge Unterhaltung und schrägen Humor bietet“, sagt Sophie von Literaturen.
– Hier könnt ihr Toby Barlow auf Twitter folgen.
– Und das Buch solltet ihr bei ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Shafak„Wenn sie erst wussten, dass man ein Herz aus Glas hatte, brachen sie es auch“
Pembe will fort, Jamila nicht. Die Zwillingsschwestern, deren Namen Genug Schönheit und Rosarotes Schicksal bedeuten, wachsen in Kurdistan auf, in einem abgelegenen Dorf, mit Eltern, die sich von Allah gestraft fühlen, weil sie nur Töchter bekommen haben und keinen einzigen Sohn. Als sie 19 ist, wird Pembe Mutter von Iksander und ist verheiratet mit Adem, dem Mann, der Jamila liebt. Er bringt sie tatsächlich fort, sie wandern aus nach London, wo Pembe in einem Friseursalon arbeitet und sich um ihre mittlerweile drei Kinder kümmert. Die Ehe ist unglücklich, Adem verfällt dem Glücksspiel und der schönen Roxana. Pembe lässt ihn ziehen, und schon bald erobert ein fremder Mann den freien Platz in ihrem Herzen. Doch Pembe hat Angst. Zu Recht – denn bald geschieht etwas Furchtbares, das die ganze Familie für immer in den Abgrund reißt …

Elif Shafak, die in Istanbul und London lebt, hat bereits zwölf Romane veröffentlicht, die in der Türkei zum Teil umstritten sind. In Ehre erzählt sie eine vielschichtige, farbenprächtige, Jahre umspannende Geschichte, die in Kurdistan und England spielt. Aberglaube und kurdische Sitten, Ehrenmorde, die Einsamkeit des Emigrantenlebens und die Liebe – dies sind die großen Themen, um die dieses Buch sich dreht. Dank ihrer Wurzeln weiß die Autorin, wovon sie schreibt, sie muss nichts kunstvoll erklären, die kulturellen Hintergründe fließen von selbst in die Handlung ein, sind begleitend und ausschlaggebend zugleich. Um die Protagonistinnen Pembe und Jamila gruppieren sich mehrere Figuren, die in eigenen Erzählperspektiven ebenfalls zu Wort kommen: Adem, Iksander, seine Geschwister. Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, im Gegenteil, Elif Shafak springt zwischen den Zeiten hin und her, lässt die Schwestern Briefe schreiben, nimmt Ereignisse vorweg und liefert die Erklärungen dazu später. Das ist schlau gemacht, verrät einiges, aber nicht zu viel, und hält die Spannung aufrecht.

Elif Shafak beleuchtet eine Familie mit drei Kindern, deren Eltern nie in Liebe verbunden waren, die in England aufwachsen, aber ihre Heimat im Herzen tragen, ohne zu wissen, was das bedeutet, und die rasend schnell erwachsen werden. Ihre Figuren sind tragische Gestalten, liebenswert in ihrer Versehrtheit, hilflos, gebrandmarkt durch eine große Schuld. Es ist der Autorin ausgezeichnet gelungen, das Verschiedene an den einzelnen Charakteren herauszuarbeiten: das Weiche, Kluge an Jamila, der Heilerin, Pembes gut verborgene Verzweiflung, Iksanders Hitzköpfigkeit, die kindliche Hingabe seines Bruders Yunus, die Lahmarschigkeit von Adem. Ich mag die Sprache, die Poesie, die Verflechtung der Kulturen, die Darstellung der Figuren, die Erzählweise. Ein wenig zu klischeehaft sind mir die Ereignisse zum Teil, und das Ende lässt mich doch recht verwundert zurück. Aber Ehre ist ein lesenswertes Buch, ein kraftvolles, trauriges, gut geschriebenes Buch, in dem das Schicksal gebeten wird, einzutreten – was völliges Chaos auslöst.

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Ehre von Elif Shafak ist erschienen im Kein & Aber Verlag (ISBN 978-3-0369-5676-3, 528 Seiten, 24,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Shafaks fiktive Chronik eines Ehrenmordes, sehr fein übersetzt, kommt der europäischen Realität eindringlich und ungemütlich nahe“, schreibt spiegel.de.
– In der FAZ könnt ihr ein Interview mit Elif Shafak lesen.
– Sehr beeindruckend fand Die Leserin das Buch.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Reich„Nur der Horizont kommt nicht näher, alle anderen sind Verräter“
„Kennen Sie das Gefühl nicht? Vom Meer, vom Blick auf diese Endlosigkeit?“ Nun ja – nein. Denn Horowitz, der Meeresforscher, der alles, alles weiß über die Ozeane, war überhaupt noch nie am Meer. Er ist alt, müde, gescheitert, hat sein Lebenswerk nicht vollendet und hofft, dass ein Tapetenwechsel ihm hilft. Er tauscht seine Wohnung mit Ella, einer jungen Frau, die er nicht kennt, die sich spontan auf eine Annonce gemeldet hat, weil ihr gerade alles ein bisschen auf den Kopf fällt. Sie ist verliebt in Paul, der nach dem ersten Kuss einfach gegangen ist, sie wird Zeugin von Natalias Unfall, muss ihren ersten richtigen Job anfangen und sich ihre Träume bewahren. Das ist alles ein bisschen schwierig und wird auch in Horowitz‘ verrückter großer Wohnung, die der Nautilus gleicht, nicht einfacher: Ella will über ihre Gefühle nicht reden, sie will keinen Kontakt zu ihrer Mutter, die mehr ein Schmetterling war als eine Versorgerin, und sie will sich der Welt nicht preisgeben. Aber die Liebe treibt ihr eigenes Spiel mit Ella und auch mit Horowitz. Denn die Liebe kann vielleicht stark genug sein, um Ella Sicherheit zu geben und Horowitz doch noch ans Meer zu bringen. Aber nur vielleicht.

34 Meter über dem Meer, der hochgelobte Roman der deutschen Autorin Annika Reich, ist ein bisschen wie Die verrückte Welt der Amélie. Obwohl Paul findet, Ella gleiche Holly Golightly aus Frühstück bei Tiffany’s, sehe ich sie als Audrey Tautou vor mir. Weil sie so entrückt, schweigsam, zurückhaltend und geheimnisvoll ist. Das ist sehr süß, sehr weltfremd und ein bisschen kitschig. Ella ist eine Figur, die man ins Herz schließen muss, die man bemitleidet und beneidet zugleich. Sie wirkt wie ein kleines Mädchen, neugierig, scheu, sie weckt sogar meinen Beschützerinstinkt, auch wenn sie für meine Verhältnisse unglaublich passiv ist. Die Idee, zwei so ungleiche Charaktere ihre Wohnungen tauschen zu lassen, und zu sehen, was passiert, finde ich sehr originell, und auch die Umsetzung ist auf jeden Fall gelungen.

Annika Reich hat ein liebes Buch geschrieben, ein harmloses, leichtes, zartes, ein Buch wie ein Stückchen Karamell. Es hat keine Ecken, keine Kanten, und das find ich, da ich das Buch im Urlaub lese, ganz ausgezeichnet und sehr erholsam. Ich mag das Kuschelige und Nachgiebige an Annika Reichs Sprache, die so schön formuliert, fabuliert, erzählt, ohne zu viel Gewicht auf möglichst prätentiöse Sätze zu legen. Das gefällt mir, und so möchte ich euch dieses Buch als wunderbare Sommerlektüre ans Herz legen, als einen Spaziergang durch einen blühenden Park, als ein bisschen fabelhafte Welt.

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34 Meter über dem Meer von Annika Reich ist als Taschenbuch erschienen im S. Fischer Verlag (ISBN 978-3-596-19586-2, 272 Seiten, 9,99 Euro). Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Andere tolle, luftig-leichte Sommerbücher:
Ada liebt von Nicole Balschun
Damals, am Meer von Marco Balzano
Als Gott ein Kaninchen war von Sarah Winman