Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Es gibt Bücher, die wollen so viel. Sie sind überfrachtet und möchten gefallen, möchten glänzen und aufmerksam machen. Dann gibt es Bücher, die sind schmal, die brauchen nicht viele Worte – und sie können so viel. Ein solches ist Paulus Hochgatterers Erzählung aus Kriegstagen, die gerade mal 110 Seiten zählt und dennoch eine ihr eigene Wucht besitzt. Sie spielt im Oktober 1944, allzu lang wird er nicht mehr dauern, der Krieg, doch das weiß natürlich niemand, sie spielt auf dem Land, in Österreich, und sie berichtet von einem dreizehnjährigen Mädchen, das keine Eltern mehr hat, das überhaupt niemanden mehr hat. Es wird auf einem Hof aufgenommen und dort zumindest nicht schlecht behandelt. Als ein russisches Kriegsgefangener dort auftaucht, entsteht eine winzig zarte Verbindung, für die jedoch gar keine Zeit bleibt, die schon gleich erstickt wird. Und Paulus Hochgatterer schreibt das so, als wäre er dabei gewesen, er schreibt das, als hätte er gefühlt, wie Krieg ist, wie Angst ist und Verlust. Sein Stil ist schnörkellos und hält sich nicht auf mit langen Erklärungen, mit Wortexperimenten, mit Glanz und Gloria. Fast schon mündlich wirkt dieser Roman, ohne Umschweife und gerade deshalb so authentisch. Er ist eine Momentaufnahme aus einer lang vergangenen Zeit, aus einer schlimmen Zeit, die nicht vergessen werden soll und darf. Und doch, das fasziniert mich am meisten, gelingt es, kleine Schönheiten zu finden in diesem Alltag, in diesem Leben, das stets bedroht ist von seinem Ende.

Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war von Paulus Hochgatterer ist erschienen bei Deuticke (ISBN 978-3-552-06349-5, 110 Seiten, 18 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ich glaube, Kirsten Fuchs ist ein bisschen verrückt. Und ich glaube, das ist ganz gut so. Ich mag sie schon lange, habe einiges von ihr gelesen und folge ihr auf Twitter, wo sie so unbedarft-lustig aus dem Chaos erzählt, das unser aller Leben ist. Auf ihr neues Buch hab ich mich sehr gefreut, und es hat mich in einer Zeit erreicht, in der ich das dringend nötig hatte: ein bisschen Schmunzeln, ein bisschen Unernsthaftigkeit, ein bisschen was Verrücktes. Ich weiß nicht, wie die Frau das macht, so großartige Vergleiche und Sprachbilder zu schaffen, die irgendwie verquer sind und dabei sehr originell, die im Kopf bleiben und in den Mundwinkeln, die es automatisch nach oben zieht.

Aus dem Schweißgeruch könnte man einen Möbelpacker kneten, aus dem Biergeruch einen zweiten.

Wir sind mit voller Absicht nichts geworden, und das hat ja auch geklappt.

Sagen wir mal, das ganze Jahr fühlte sich an, als wäre ich wie Obelix als Kind in einen Topf mit Zaubertrank gefallen, nur dass mein Zaubertrank nicht stark machte, sondern ab dem fünfunddreißigsten Jahr unglücklich.

Solche Sätze schreibt Kirsten Fuchs, und ich finde die so gut, dass ich sie umarmen möchte. Mit dem ganzen Buch möchte ich ins Bett gehen, ich glaube, es würde Spaß machen, wir würden uns was zu sagen haben, aber auch lachen können miteinander. Doch wenn ihr jetzt denkt, Kirsten Fuchs sei eine Ulknudel und Signalstörung eine Sammlung klamaukiger Erzählungen, dann habe ich euch in die Irre geführt, denn das ist nicht der Fall. Die Kurzgeschichten haben durchaus Tiefgang, sie erzählen von Alkoholismus und Arbeitslosigkeit, von erster Verliebtheit und Missverständnissen.

Sätze wie

Nermin hatte jedes Mal einen Stacheldraht im Bauch, wenn sie an diese Lager denkt, denn ihre Eltern kamen auch damals in ein Lager, als sie ankamen, und irgendwie sind sie dann nie ganz angekommen.

stehen da nämlich auch drin, und jetzt werdet ihr mir hoffentlich zustimmen, dass Kirsten Fuchs einfach großartig ist – und dieses Buch auch.

Signalstörung von Kirsten Fuchs ist erschienen bei Rowohlt (ISBN 978-3737100441, 224 Seiten, 18 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Wenn man im Internet einigermaßen aufmerksam ist, kommt man an Kathrin Weßling gar nicht vorbei. Weil sie mit ihren Accounts nicht nur sehr präsent, sondern auch sehr erfolgreich ist, weil sie witzige Posts und Stories macht, weil sie Artikel schreibt – und dabei zielgenau den Finger in Wunden legt, die eigentlich keiner spüren will. Das macht ihre Veröffentlichungen so wichtig – und das gilt auch für ihren aktuellen Roman Super, und dir?, in dem sie etwas thematisiert, das auch alle gern wegignorieren würden: die Sinnlosigkeit des Hamsterrads, in dem wir laufen, den Stress, das drohende Burn-out. Ihre Protagonistin Marlene ist 31 Jahre alt, sie hat studiert, sie hat einen Freund, einen lieben, sie hat 532 Freunde auf Facebook und außerdem einen Trainee-Platz in einem bedeutsamen Unternehmen. Marlene hat alles richtig gemacht. Die Frage ist nur: Warum fühlt es sich dann nicht richtig an? Kathrin Weßling schreibt über eine, die gedacht hat, dass alles gut wird, wenn sie nur fleißig ist und motiviert und den Erwartungen gerecht wird, und die, als sie merkt, dass das nicht eintritt, nicht weiß, wohin mit dieser ganzen Enttäuschung. Marlene kommt mit dem Druck nicht klar, mit den Überstunden nicht und mit der Zwecklosigkeit ihres Tuns auch nicht. Da helfen die Drogen nicht weiter, mit denen sie sich über Wasser hält, wach macht, konzentriert, die aber natürlich Raubbau betreiben mit ihrem Körper und ihrem Leben. Ein rasantes, kluges, hochaktuelles Buch, das zu Recht viel Aufmerksamkeit bekommen hat – und noch mehr bekommen sollte.

Die Kantine ist der größte Konferenzraum in einem Unternehmen. So ist das jedenfalls bei uns. Es ist nicht bloß eine Kantine, es ist ein Laufsteg und ein Raum voller Aussagen: Das ist meine Stellung, das ist mein Gehalt, das sind meine Kollegen, und das fasst zusammen, wie geil ich bin. Und genau deshalb hasse ich sie sehr. Ich hasse die kleinen Tische, auf denen für die Tablets nicht genug Platz ist. Ich hasse das Anstehen, den Small Talk in der Schlange vor der Essensausgabe. Ich hasse die anderen, ich hasse mich. Und ich hasse das Essen. Das Essen, das man runterwürgt, während man eine Präsentation hält, die man selber ist.

Super, und dir? von Kathrin Weßling ist erschienen bei Ullstein (ISBN 9783961010103, 256 Seiten, 13 Euro).

 

 

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_9699„Erzählen durfte ich es keinem, das musste ich bei meinem Leben schwören, und ich schwor so oft auf mein Leben, als hätte ich endlos viele zur Verfügung“

„Ich muss über meine Schwester erzählen, sonst machen das andere, und dabei kann nichts Gutes rauskommen.“

Das sagt Adam, denn seine Schwester Barbara ist tot. Sie ist in den Fluss gegangen, in diesen Fluss, der sie fast nicht mehr ausgespuckt hat, und da hat sie dann schon ausgesehen wie etwas, das man nicht vergessen kann. Deshalb muss Adam sich erinnern, an die Schwester, an früher, an die Schulzeit. Und an die Freundschaften zu Nora, Hans, Annemarie und Yann, diese Freundschaften, die so alltäglich waren und doch so zutiefst traumatisierend.

Schon lange habe ich mir nicht mehr so viele Sätze markiert in einem Buch. Schon lange habe ich nicht mehr derart mit der Stirn gerunzelt beim Lesen, mich gewundert und mich gefreut. Über dieses Seltsame, von dem Yael Inokais Buch durchdrungen ist, über die klare, biegsame Sprache, die alles zu tun scheint, was die Autorin will. Sie gibt verschiedenen Figuren eine Stimme – Nora, Yann und Adam – und lässt sie erzählen von Barbaras Selbstmord, vom Leben im Dorf, von dem, was sie getan haben, als sie Kinder waren. Ein großes Geheimnis gibt es da nicht zu enthüllen, und klassischer könnte das Vergehen der Kinder kaum sein, doch: Die Art, wie Yael Inokai darüber schreibt, die ist besonders.

Ich kann mich diesem Buch nicht entziehen. Es hat diese Stimme, die mich lockt, diesen Singsang, dieses Nüchterne, das so lakonisch klingt und gleichzeitig entwaffnend. Die verschiedenen Stimmen verweben miteinander, reden aneinander vorbei und sagen doch dasselbe, mit anderen Worten, mit anderen Beweggründen. Diese Kindheit auf dem Land, sie könnte das Paradies sein. Und doch wird es kaum jemanden überraschen, dass sie das eben nicht ist, nicht im Geringsten. Dass auch das Erwachsensein dort nicht paradiesisch ist, sondern ungut, schwierig, geprägt von dem, was die anderen reden – und da kann nichts Gutes dabei rauskommen. Bis auf dieses Buch, das sehr wohl gut ist, sehr gut sogar.

Mahlstrom von Yael Inokai ist erschienen im Rotpunktverlag (ISBN 978-3-85869-760-8, 180 Seiten, 22 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_9103 2„Ich möchte Geschichten schreiben und Geschichten erleben, nicht immer nur Anekdoten“

„So wurde der Penis zum Spog. Spog steht für Sportgerät. Prispog steht für primäres Sportgerät. Man durfte nicht mehr ficken oder vögeln sagen, es hieß koitieren bis Ende des Jahres, nächste Saison soll ein neues Verb kommen: interkursieren.“

Leon ist ein Sportstar, und sein Sport ist Sex. Er nimmt als professioneller Vögler – oder besser gesagt: Interkursierer? – an der elften Sex-Weltmeisterschaft teil, die in Kopenhagen stattfindet. Wir schreiben das Jahr 2028, kein anderes Land wollte diese Weltmeisterschaft austragen, und auch im vermeintlich noch liberalen Dänemark geht sie nicht ohne Proteste, Polizeischutz und Gefahr über die Bühne. Leon hadert mit seinem Dasein, und es ist ein Hadern auf hohem Niveau: Er ist berühmt, er ist reich, er hat Neider, er hat Sex – alles davon ohne Ende. Täglich trainiert er mit den Frauen im Team, von denen Sally seine bevorzugte Partnerin ist, weil er sich einbildet, verliebt in sie zu sein. Dabei kennt er sie, obwohl er bereits jede Stelle ihres Körpers tausendmal berührt hat, kaum, weil die Teammitglieder nicht privat miteinander verkehren. Immer mehr steigert er sich in gewisse Fantasien hinein – während sich auch die politische Lage zuspitzt. Auf dem Weg zum möglichen Weltmeistertitel stellen sich mehr und mehr Hindernisse in Leons Weg, und am Ende sieht er nur eine Lösung, die gelinde gesagt überraschend ist.

Helmut Krausser ist eine geile Sau. Das weiß jeder, der schon ein Buch von ihm gelesen hat – und mit seinem neuen Werk beweist er es einmal mehr. Während der Lektüre hatte ich ständig den sexistischen Gedanken im Kopf: Was, wenn eine Frau so etwas geschrieben hätte? Was, wenn eine Frau vom Ficken und Blasen und Morden erzählen würde, in einer so vulgären und dabei gleichzeitig unaufgeregten Sprache? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kritiker das so wohlwollend aufnehmen würden, wie sie es bei Krausser tun. Doch spielt eine derart müßige Überlegung keine Rolle: So oder so ist Geschehnisse während der Weltmeisterschaft ein hochgradig originelles, kurioses, unterhaltsames Buch, das ich vor allem aus dem Grund geliebt habe, weil es sich nicht um gängige Regeln schert. Endlich mal was Neues, endlich mal Fantasie und Utopie und Gestörtheit! Das ist großartig.

Die Geschichte an sich erzählt auf überzeichnete und überdrehte Weise von etwas, das wir auch heute schon kennen: Leistungsdruck bis ins Extreme, eine Perfektion der Körperlichkeit, wie sie nicht existieren kann, eine Bewertung mit Jurypunkten von etwas, das „natürlich“ sein sollte und nicht an die Möglichkeit gekoppelt, überhaupt bewertet zu werden. Sex als satirisches Mittel für eine solche Gesellschaftskritik zu verwenden, ist freilich nicht neu und trotzdem genial. Helmut Krausser schreibt in seinem neuesten Roman über das Zusammenspiel und die Getrenntheit von Sex und Liebe, über eine Obsession, die außer Kontrolle gerät, über die Politik der Zukunft und die Rückkehr zu intoleranten Weltanschauungen. Er tut das auf souveräne und konsequente Weise, führt uns zu dem offenbar einzig möglichen Ende, das ich dennoch nicht habe kommen sehen. Gutes Buch.

Geschehnisse während der Weltmeisterschaft von Helmut Krausser ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 78-3-8270-1203-6, 240 Seiten, 20 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7902„Vielleicht wurden meine Eltern mit Traurigkeit im Herzen geboren“
Sanaa ist im Dazwischen gefangen. Sie könnte hinausgehen in die Welt, sie ist 22 und studiert an der Uni, sie hat einen Freund und einen Liebhaber, sie könnte die Verbindungen kappen, die sich noch halten. Doch das wagt Sinaa nicht, im Gegenteil, sie bleibt zuhause wohnen, im Hochhaus, in der Siedlung, sie passt auf. Asija, ihre Mutter, könnte sonst vom Balkon fallen, von dem sie nachts den Mond anschaut, Nasser, ihr Vater, könnte sonst für immer fernbleiben, und Helin, ihre Schwester, könnte sonst völlig verlorengehen. Jeden Tag hocken die Tante und ihre fette Freundin auf dem Sofa in der Wohnung und qualmen alles voll, jede Nacht geistert die Mutter herum. Was ist geschehen mit dieser Familie, die den Irak verlassen hat im Glauben, in Europa würde das goldene Leben auf sie warten? Sanaa versucht, die Vergangenheit zu ergründen, den Ursprung all der Traurigkeit zu finden, und muss doch erkennen, dass es einen solchen Ursprung nicht gibt. Die Traurigkeit sitzt im Menschen, egal, in welchem Land er sich befindet.

Karosh Taha, selbst im Irak geboren, erzählt in ihrem Debüt eine Geschichte über Fremdheit und Angst, über Aussichtslosigkeit und die Sehnsucht nach einer heilen Familie. Ihre Ich-Erzählerin Sanaa ist ehrlich und direkt, sie hat Wünsche und Pläne, sie hat Sex, sie hat Gefühle, verwirrende, sich überlagernde Gefühle, die vor allem von einem dominiert werden: Angst. Sie muss alles unter Kontrolle halten, muss die Familie zusammenhalten – eine Familie, die ohnehin längst zerbrochen ist. Ich fühle mit ihr, leide mit ihr, möchte ihr helfen und kann es nicht. Sanaa dreht sich im Kreis und ich mich ebenfalls, ein wenig zu oft treten für mich die wiederkehrenden Motive auf, die Krabbe, die in die Wade kneift, der Mond, der angebetet wird, das ist gut gemacht und schlüssig, hätte aber sparsamer gesetzt sein dürfen.

Ich mag Karosh Tahas Sprache und es gibt viele Sätze, die ich zweimal lese, weil sie klingen, weil sie grandios sind, es gibt auch Gedanken in diesem Buch, bei denen ich nicke, weil sie perfekt auf den Punkt gebracht sind. Wunderbar gelungen ist die Kombination der blumigen, orientalischen Erzähltradition mit der harten, manchmal vulgären deutschen Sprache, die Autorin hat auch stilistisch jene Elemente vereint, die für ihre Figuren zusammenkommen: das Heimatliche, das inzwischen in der Fremde liegt, und das Deutsche, das inzwischen Heimat ist. Das ist richtig gut, Chapeau! Ein wenig vermisst habe ich ein großes Highlight, einen Höhepunkt. Der Konflikt spitzt sich nicht zu, fadet eher aus, und wenn man erst einmal im letzten Drittel angekommen ist, ohne dass dieser Höhepunkt eingetreten ist, weiß man: Von nun an steuern wir nur gemächlich dem Ende zu. Das ist aber von der Erzählstruktur her völlig in Ordnung, die Fäden finden dennoch zusammen – und die Autorin wartet auch noch mit einer feinen Überraschung auf. Insgesamt ein sehr starkes Debüt zu einem Thema, das wichtig ist und viel Aufmerksamkeit verdient: das Leben woanders, Migration nach Europa, Integration, der Verlust der Heimat und das Loch, das im Herzen zurückbleibt für immer.

Beschreibung einer Krabbenwanderung von Karosh Taha ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-9880-0, 250 Seiten, 22 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7910„Wir erkennen den Moment nicht, in dem der Verlust beginnt“

„Alles ist geschenkt auf Zeit. Wenn man glücklich ist, wenn das Glück einen blendet, meint man zu spüren, dass alles bleibt. Hinter dem Glück wohnt die Zeit.“

Zwei Männer töten ein Reh und schlagen Franz’ Vater brutal zusammen. So brutal, dass im Krankenhaus klar wird: Der alte Mann wird das nicht überleben. Franz, der als Kriegsfotograf in aller Welt unterwegs war und die schlimmsten Gräueltaten gesehen hat, weiß, dass er den Vater wird rächen müssen. Dass er mit seinem Freund Noeten wird herausfinden müssen, wer dafür verantwortlich ist, um die Täter zu finden und zu bestrafen. Darüber zerwirft er sich mit seiner Freundin Karen, der Frau, die er liebt. Und über allem liegt sein größter Verlust: Er vermisst seinen Sohn, der nicht mehr bei ihm ist. Und dann kommt Franz an einen Punkt, an dem es gefährlich wird: Er hat nichts mehr zu verlieren.

Willi Achten hat eine Höllenfahrt von einem Roman geschrieben. Man braucht gute Nerven und auch einen starken Magen, um Nichts bleibt aushalten zu können. Das liegt zum einen an den Ausflügen in die Vergangenheit des Protagonisten, der als Kriegsfotograf viele Jahre lang das Grausamste, zu dem die Menschheit in der Lage ist, auf Bildern festgehalten hat. Es liegt aber auch an der Gegenwart, in der es um Tierquälerei geht und Rache, blutige Rache. Willi Achten spricht dabei eine sparsame Sprache, die mich an Sven Heuchert erinnert. Starke, schnörkellose Sätze, die ihre eigene Wucht entfalten, sehr straight und gnadenlos. Viele Sätze bohren sich in die Haut des Lesers, ob man will oder nicht. Unaufhaltsam marschiert Franz auf das Ende zu, das man so oder ähnlich natürlich kommen sieht, und man möchte eigentlich nicht mitgehen, hat jedoch keine Wahl.

Nichts bleibt ist ein sehr eindrucksvolles, hartes Buch, das von Bosheit und Sadismus handelt, von Liebe und Verlust, von Tod und Trauer. Die großen Themen sind das, die hier ihren Platz finden, und doch fühlt es sich an wie eine kleine, feine Geschichte in einem Wald, an einem See, mit einem Vater, der sich um seinen Jungen sorgt. Das ist eine geschickte Täuschung, die mich tatsächlich beeindruckt hat. Ein Buch wie ein Faustschlag.

Nichts bleibt von Willi Achten ist erschienen bei Pendragon (ISBN 978-3-86532-568-6, 367 Seiten, 17 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7909„Alles Gute, das einem widerfuhr, war nichts als eine Leihgabe, nur das Schlechte war einem auf ewig sicher“

„Der Dschungel, notierte Berns in seinem Tagebuch, ist eine Bestandsaufnahme, eine Prüfung, eine Wägung. Was man an Ausrüstung und Charakter nicht mit hineinnimmt, kann man dort nicht erwerben.“

Als er noch ein Junge war, hat Rudolph August Berns am Rhein Gold gewaschen und davon geträumt, ein großer Forscher zu werden. Es dauert lange, bis dieser Traum sich erfüllt, sein Weg ist verschlungen und fordert viel Kraft, doch Rudolph – der sich später Augusto Berns nennt – gibt nicht auf. Geradezu besessen ist er von der Vorstellung, die verlorene Stadt der Inka zu entdecken, Peru ist sein Ziel. Im Jahr 1887 scheint es ihm endlich gelungen zu sein: Alle reden von seinem großen Fund. Doch warum ist Berns aus den Geschichtsbüchern verschwunden, warum gilt Hiram Bingham als Entdecker von Macchu Picchu? Davon erzählt Sabrina Janesch in diesem bemerkenswerten Buch.

Ich kenne die Autorin von ihrem grandiosen Debüt Katzenberge, für das sie zu Recht von der Kritik bejubelt wurde. Mit ihrem neuen Werk hat sie eine Wandlungsfähigkeit bewiesen, für die ich sie zutiefst bewundere. Im Vorwort berichtet sie, wie sie auf die Idee gekommen ist, über Berns zu schreiben, wie schwierig es war, an Informationen zu kommen, wie lange sie recherchiert hat und wie getrieben sie war. Umso mehr hat mich dieser Roman fasziniert, weil ich es immer beeindruckend finde, wenn sich jemand einer Figur, die tatsächlich existiert hat, mit fiktiven Mitteln nähert. Die Kombination aus Realität und Fantasie ist ihr ausgezeichnet gelungen. Das Buch erinnert an jene Abenteuerromane, die man als Kind geliebt hat, mit mutigen Männern und undurchdringbaren Dschungeln, an diesen Rauschzustand, den man dann manchmal hatte beim Lesen, als man noch jung und naiv war und sich so herrlich schnell für etwas begeistern konnte.

Die goldene Stadt ist notgedrungen ein historischer Roman, der – ich möchte fast sagen: auch notgedrungen – durchaus seine Längen hat, aber das machen die gut platzierten Wendungen und das fantastische Ende wieder wett. Perfekt getroffen hat Sabrina Janesch auch den Ton, heiter und jovial, wie man sich die Stimmung dieser damaligen Entdecker vorstellt, die ein Leben voller Entbehrungen führten, ein Leben der Obsession, aber mit Optimismus und unerschütterlicher Zuversicht. Ein wahrer Schmöker von einem Buch, das es mir sehr angetan hat, weil ich es liebe, wenn ich beim Lesen etwas Neues lerne – und von Augusto Berns hatte ich tatsächlich noch nie gehört. Falls es euch ebenso geht, solltet ihr das dringend ändern!

Die goldene Stadt von Sabrina Janesch ist erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN 978-3-87134-838-9, 528 Seiten, 22,95) und hat ja, das muss ich noch kurz erwähnen, ein wirklich schönes Cover.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7911„Always do what you are afraid to do“

„Welcome to the beautiful Sinclair family. No one is a criminal. No one is an addict. No one is a failure. The Sinclairs are athletic, tall, and handsome.“

Dass das so nicht ganz stimmen kann, ist gleich zu Beginn dieses Romans klar. Wie es aber wirklich ist, verrät E. Lockart erst ganz am Ende, als alle Stränge zusammenkommen. Das ist das Großartige an diesem Buch: Ich habe es sehr lange nicht durchschaut. Eigentlich überhaupt nicht. Seine Wendung hat mich völlig überrascht. Aber erst mal der Reihe nach: Die Ich-Erzählerin ist ein junges Mädchen namens Cadence, das aus einer reichen Familie stammt. Jeden Sommer verbringt sie auf einer Privatinsel, auf der vier Villen stehen, die ihrer Großeltern, die ihrer Mutter und die ihrer zwei Schwestern, man schwimmt im Geld, streitet aber in erster Linie darum. Alle Cousins und Cousinen treffen dort aufeinander, Cadence verbringt am meisten Zeit mit Johnny und Mirren. Außerdem gibt es noch Gat, mit dem sie nicht verwandt ist, der aber auch jeden Sommer hier ist – und in den Cadence sich verliebt. Doch dann geschieht ein Unfall, Cadence verliert ihre Erinnerung, und es dauert zwei Sommer, bis sie herausfindet, was geschehen ist.

Wenn ihr jetzt denkt, aha, das hab ich doch irgendwo schon mal gelesen, kann ich euch nur sagen: sicher nicht. Denn E. Lockhart schreibt derart ungewöhnlich, dass man das Buch nicht einmal einem Genre zuordnen kann. Young adult, ja, natürlich, weil die Protagonistin erst siebzehn ist, ein Thriller irgendwie auch, aber eigentlich nicht, einem Geheimnis muss sie auf die Spur kommen, ihre Erinnerung wiederfinden – aber da ist diese Sprache. Eine Sprache mit einer fantastischen Sogwirkung, nicht jugendlich-kindisch, dennoch simpel, schnörkellos, schon nach wenigen Seiten war ich absolut gefesselt und mit dem Buch in wenigen Stunden durch. Es hat mich, und das will was heißen, aus meiner Lese-Lethargie gerissen, ich habe es in einem Happs verschlungen. Gut, es hat nur 220 Seiten, okay, aber die haben es in sich: Cadence ist eine schonungslose, sarkastische Erzählerin, ihre Stimme ist geheimnisvoll, mysteriös, dennoch offen, ehrlich – sie sagt dem Leser alles, was sie weiß, das Problem ist nur, sie weiß nicht viel. Das ändert sich, und man mag das Ende ein wenig zu dramatisch finden. Dennoch ist dieses Buch in meinen Augen sehr gut gemacht und deshalb auf jeden Fall lesenswert. Man sollte einfach viel öfter über den Tellerrand schauen – auch über den literarischen.

We were liars von E. Lockhart ist auf Deutsch unter dem Titel Solange wir lügen bei Ravensburger erschienen (mit einem absurd hässlichen Cover, mit dem ich es niemals gekauft hätte, ähem).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Gerk

  1. Es macht so großen Spaß, dieses Buch zu lesen!
  2. Andrea Gerk ist die Beste, wenn es darum geht, Wissen mit Unterhaltung zu vereinen, ihre Bücher sind hervorragendes Infotainment. Sie schreibt flüssig, amüsant, serviert einem die Informationen auf so elegante Art, dass man sie versteht, sich das Meiste merkt und sich nicht, wie bei manch anderen Sachbüchern, von dem vielen Wissen erschlagen fühlt.
  3. Uns Österreichern ist sogar ein eigenes Kapitel gewidmet. Kein Wunder, unser Grant ist auch wirklich legendär. Kulturgut sozusagen.
  4. Sie bringt alle großen Dichter, Denker, Theaterschreiber, Autoren, Schauspieler zusammen, die eines eint: ihre berühmt gewordene schlechte Laune. „Schreibende Kotzbrocken, singende Ekelpakete“ nennt sie das entsprechende Kapitel. Mit dabei sind Namen wie Schopenhauer und Jarosinski, Reed und Kinski, Jelinek und Doderer. Ein absolutes Vergnügen!
  5. Weil darin Zitate wie „Alles hat zwei Seiten, eine schlechtere und eine noch schlechtere“ stehen und: „Ein jeder intelligente Mensch ist ein Pessimist.“
  6. Weil wir neuerdings alle nur noch gut gelaunt sein sollen. Selbstoptimiert, selbstliebend, motiviert, optimistisch. Da ist es eine Wohltat, dass Andrea Gerk der schlechten Laune ein solches Loblied schreibt.
  7. Sie nimmt das Thema sehr gründlich durch, zeigt, was im Gehirn geschieht, wenn man missmutig ist, und wie Unmut als Schutzschild funktioniert, geht auf die Kunst des Schimpfens ein, widmet sich grantigen Kommissaren und kreativen Cholerikern, außerdem dem Dienstleistungssektor und der Gastronomie, wo man schlechte Laune am besten beobachten kann.
  8. Es ist das perfekte Buch nach einem langen Arbeitstag, der einen wirklich grantig gemacht hat. Man muss bei dieser Lektüre nämlich garantiert früher oder später schmunzeln.

Lob der schlechten Laune von Andrea Gerk ist erschienen bei Kein & Aber (ISBN 978-3-0369-5770-8, 304 Seiten, 24,70 Euro). Sehr angetan davon war auch Sophie von Literaturen.