Gut und sättigend: 3 Sterne

Französische Melancholie und Sprachbegabung
“Ich stehe aufrecht im beginnenden Tag. Ich glaube, dass man keine zweite Chance hat. Und doch bin ich gekommen, eine zu suchen.” Tom kehrt zurück aus dem Gefängnis. Das Verbrechen, für das man ihn eingesperrt hat, lastet schwer auf ihm und dem kleinen Fischerdorf Falmouth in Cornwall: Er soll seinen Sohn getötet haben. Sie sind zusammen hinausgefahren aufs Meer, Tom und das Kind, aber nur Tom kam zurück an Land. Ob es ein Unfall war, wie Tom beteuert, oder Mord, das interessierte Toms Frau Marianne und die Dorfbewohner nicht. Er gilt als schuldig – und dass er es wagt, nach dem Gefängnisaufenthalt nach Hause zu gehen, sorgt für Entrüstung. Doch es gibt keinen anderen Ort für Tom. Er will seine Geschichte erzählen, er will berichten von der Liebe, die verloren ging, vom Leben an einem so kargen, trostlosen Flecken Erde und von der Einsamkeit, die in ihm wohnt. Und er muss auf jemanden warten.

Philippe Besson ist in Frankreich ein gefeierter Autor, der sich regelmäßig über wichtige Literaturpreise freuen darf. Einen Augenblick allein ist das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe – und ich bin beeindruckt von seiner klaren, einfachen und schönen Sprache, die die Gefühle auf den Punkt bringt. “Ich habe kein Alter. Die Jahre sind vergangen, ich habe sie verloren. Wenn ich nur die glücklichen Jahre zählen wollte, wäre ich noch ein Kind.” Wenig Worte und ein sparsamer Stil machen diesen Roman aus. Mit dem Fischer Tom schafft Philippe Besson einen introvertierten, traurigen und dennoch trotzigen Mann, dem das Schicksal übel mitgespielt hat – der aber nicht nur dem Schicksal allein die Schuld an dem, was geschehen ist, geben kann. Das Buch ist gut angelegt, denn durch die Erzählstruktur ergibt es sich, dass Tom seine Geschichte zwei verschiedenen Menschen – und somit auch dem Leser – erzählen kann. Wer jedoch ein Schuldgeständnis erwartet oder echte Trauer, der wird überrascht. Verblüffend ist auch das Ende, das an einer unerwarteten Stelle andockt und Tom eine Art von Frieden bringt, mit der man als Leser nicht rechnet. Insgesamt bleibt zu sagen, dass Ein Augenblick allein so ist wie das Cover: schön, ruhig, einfach. Für mich bleibt das Buch jedoch aufgrund der Kürze und der Skizzenhaftigkeit eine Profilstudie, ein Entwurf für einen Roman, was ich persönlich nicht mag schade finde. Dennoch würde ich es jederzeit bedenkenlos empfehlen – für einige nachdenkliche Stunden mit einer melancholischen Erzählung.

Lieblingszitat: Wir sind überwältigt vom Anblick der Berge, des Meeres, der Sonne, wir sind beeindruckt von dem, was für uns unerreichbar ist, was unsere Hände nicht herstellen können, was unser Geist nicht begreifen kann. Aber vom Anblick der Menschen erwartet man sich nichts. Nichts als gewöhnliche Gefühle. Und dann erscheint eines Tages plötzlich und unvermutet einer, auf den man nicht vorbereitet ist, und die Knie werden einem weich.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine ironische Erzählung rund um Johann Sebastian Bach
Er selbst hält sich für einen der größten Bachkenner: der Naumburger Organist Jakob Kemper. Leider sieht das aber außer ihm niemand so. Deshalb bekommt er von der verehrten Bachgesellschaft auch nur einen unfreundlichen Schmähbrief, als er seine Hilfe bei der Restaurierung der Orgel anbietet, auf der Bach selbst einmal gespielt hat. Kemper ist entzürnt, doch dann spielt ihm der Zufall einen sensationellen Fund in die Hände: ein bisher unentdecktes Originalmanuskript von Bach persönlich. Kemper kann sein Glück kaum fassen – und gerät völlig aus dem Gleichgewicht. Denn nicht genug damit, dass Bachs geheime Musik Kemper berühmt machen könnte, sie scheint auch noch unheimliche Vorgänge auszulösen, und Kemper weiß bald nicht mehr, ob er träumt oder wacht. Im Angesicht der arroganten Herren von der Bachgesellschaft droht er beinahe zu platzen. Und dann kommen ihm auch noch seine Gefühle für Reisekauffrau Lucia in die Quere …

Robert Schneider wurde als Autor von Schlafes Bruder weltberühmt – mit einem Buch, das in 38 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Als mir Die Offenbarung für kleines Geld in die Hände fiel, war ich neugierig. Und es ist dem Autor tatsächlich gelungen, mich zum Schmunzeln zu bringen. Sein Protagonist Jakob Kemper ist eine jener gescheiterter Figuren, denen immer ein Büschel Haare vom Kopf absteht, die einen dezent verwirrten Blick haben und die nie die Ziele erreichen können, die sie sich setzen. Wie Kemper seinen großen Trumpf, das gefundene Bach-Manuskript, nicht nutzt bzw. mit welcher Ironie Robert Schneider ihm am Ende sein eigenes ewiges Scheitern vor Augen führt, ist ebenso tragisch wie amüsant. Etwas gewöhnungsbedürftig ist der mystische Ton, der im Roman mitschwingt, Realität und Fantasie mischen sich stellenweise, Vergangenheit und Zukunft suchen Kemper heim, eine unheimliche Gestalt verfolgt ihn. Diese irrealen Elemente hat der Autor aber gut eingebunden, vermischt mit Alkohol und allgemeinen paranoiden Gedanken, sodass sie nicht allzu abschreckend wirken. Auffallend gut recherchiert hat er über Bach, seine Musik und sein Leben, sehr schön sind auch die Notenschlüssel am Beginn der jeweiligen Kapitel. Einen Pluspunkt gibt es zudem für die vulgäre und lebensechte Sprache, die mit Bissigkeit und Schimpfwörtern verblüfft. Insgesamt ist Die Offenbarung ein unterhaltsames, ironisches und flüssig zu lesendes Buch über einen liebenswerten Kauz, der so gern ein anderer wäre.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vom Leben in einer Diktatur
Sie sind geflohen und leben fern der Heimat: die Menschen, mit denen Barbara Demick gesprochen hat. Ihre Heimat versinkt im Dunkel, und zwar sprichwörtlich: Aus dem Weltall sieht man hier keine Lichter, nichts, das leuchtet und auf Leben hinweist. Die Rede ist von Nordkorea. “Uns fehlt es an nichts in der Welt” singen die Nordkoreaner, doch eigentlich fehlt es ihnen an allem: an Nahrung, Strom, an Lebensfreude, Privatsphäre und ganz einfach Freiheit. Schon als Kinder werden sie indoktriniert, im Westen, so lernen sie, gehe es allen Menschen viel schlechter als ihnen. Ein Entkommen gibt es kaum, und die verheerende Hungerkatastrophe der Neunzigerjahre fordert zwei Millionen Leben. Unter Kim Il Sung und später Kim Jong Il, die sie wie Götter verehren, kennen die Menschen nur Arbeit, Leid und Not.

Barbara Demick ist Journalistin und Korea-Expertin. Für ihren Bericht über das Leben in Nordkorea hat sie mit vielen Menschen geredet, hat sich ihre Lebensgeschichte angehört, ihnen behutsam Fragen gestellt, hat sich für sie interessiert. Sie erzählt von Mi-ran und ihrem Verehrer Jun-sang, die sich nur heimlich in der Dunkelheit treffen konnten, von der Ärztin Kim Ji-eun, die ihren Patienten nicht helfen kann, und von Song Hee-suk, die mit bitteren Zweifeln am Regime zu kämpfen hat. Wie es um Nordkorea steht, das ist uns bekannt – aber das Land ist weit weg. Wie lebt man dort wirklich? Die Autorin liefert eine brillante Reportage, mischt Fakten und Fiktion, bereitet die Info im Romanstil auf. Das ist beeindruckend und bewegend. In meiner China-Kommunismus-Autobiografie-Phase habe ich viele vergleichbare Bücher gelesen, jedoch nichts über Nordkorea. Die Zeitzeugen liefern ein beängstigendes Bild dieses verhungernden Landes. Barbara Demick hat eine kritische Sicht, zeigt aber auch Verständnis für die Menschen. Ein Einblick in eine weit entfernte und nicht lebenswerte Welt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das Leben der Vorfahren
Ruth ist blond, schlank, groß, blauäugig – und Jüdin. Sie ist ein selbstsüchtiger und ungerechter Mensch, frustriert und gelangweilt in ihrer Ehe und viele Jahre über verliebt in einen anderen als ihren Mann, in den wankelmütigen Robert. Mit ihrer Tochter Anuschka kommt sie nicht zurecht, ihr etwas zurückgebliebener Bruder Ferdi bekommt wie alle anderen sanfte Liebe an einem Tag, aggressive Launen am anderen zu spüren. Als die Situation in Deutschland für Juden immer gefährlicher wird, muss Ruth mit ihrer Familie nach Israel fliehen. Dort fühlt sie sich abgedrängt und verzehrt sich nach Robert. Sie findet ihn wieder – doch er tritt auf völlig andere Weise erneut in ihr Leben als gedacht … Erzählt wird Ruths Geschichte von ihrer Enkelin Nomi, Verlegerin aus Tel Aviv, die mit Mitte vierzig endlich erkennt, dass sie ihre Wurzeln nicht länger ignorieren kann. Um herauszufinden, was mit ihren Eltern geschah, liest sie Ruths Tagebücher.

Edna Mazya ist eine der bekanntesten Theaterschriftstellerinnen Israels. Ihre eigenen Vorfahren wanderten aus Österreich nach Tel Aviv aus. Zu den Themen, die sie in ihrem Roman behandelt, hat sie also einen sehr persönlichen Bezug. In Über mich sprechen wir ein andermal steht der Holocaust nicht direkt im Vordergrund, vielmehr rumort er als Auslöser für die Ereignisse. Hass, Misstrauen und Disharmonie herrschen auch in Ruths Familie vor: Hier gibt es niemanden, der glücklich ist, ganz besonders nicht Ruths Tochter, die später zur eisernen Kommunistin wird. Edna Mazya schreibt flott und angenehm, die Erzählung ist interessant – aber nicht herausragend. Eine Frau, die über ihre Vorfahren forscht und dabei jede Menge Unzufriedenheit, Zerrissenheit und unschöne Familienbeziehungen entdeckt, das ist nichts Neues. Der Roman hat Ecken und Kanten, ist gut strukturiert, reißt mich aber nicht vom Hocker. Insofern: gutes Mittelfeld.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Von der Schwierigkeit, (gut) zu leben
Alle 9,5 Jahre trifft Eddie auf Amanda: Bei ihrer ersten Begegnung sind sie noch Kinder, bei ihrem vierten Zusammentreffen hat Eddie nur drei Dollar in der Tasche. Wie konnte es dazu kommen? Was ist ihm geschehen? Damit beschäftigt sich Three Dollars. Während des Studiums lernt Eddie seine spätere Frau Tanya kennen, sie haben große Pläne, sind politisch engagiert, Tanya beginnt auf der Uni zu arbeiten, Eddie für die Umweltbehörde. Sie richten sich ein Leben ein und versuchen trotz der “Anfälle von Gewöhnlichkeit” glücklich zu werden. Die Probleme, die sie meistern müssen, sind die eines jeden Ehepaares: Schwierigkeiten mit der Arbeit, Diskussionen mit der Bank, Ratenzahlungen, Freunde, die sich verändern, das Erwachsenwerden an sich. Ein Schwerpunkt liegt aber auf den wirtschaftlichen Verhältnissen: Wie können zwei junge Menschen sich etwas aufbauen, genug verdienen und gut leben? Elliot Perlman findet in Three Dollars auf diese Frage eine recht drastische Antwort.

Gut an diesem Buch ist, dass Elliot Perlman – der inzwischen mit den deutschen Übersetzungen seiner Bücher auch hierzulande bekannt geworden ist – ein talentierter Schriftsteller ist. Der Roman ist ausgezeichnet strukturiert, Eddie als Protagonist hat eine sympathische Stimme, der Ton ist stimmig, die Formulierungen sind es auch. Schlecht an diesem Buch ist, dass einige Ansätze im Sand verlaufen und Elliot Perlman nicht alle Erwartungen, die er selbst weckt, erfüllt. Beispielsweise spielt Amanda nicht die tragende Rolle, die ihr zu Beginn angedichtet wird, im Gegenteil, sie bleibt eine unwichtige Randfigur. Das ist in Ordnung, aber unbefriedigend. Meine anfängliche Begeisterung sinkt ab der Hälfte des Buchs leider immer mehr, denn es wird zunehmend deprimierender, fast schon weltuntergangsmäßig, und mit dem Ende bin ich absolut unzufrieden. Dennoch ist es interessant, wie Elliot Perlman den Absturz zweier Menschen beschreibt, wie er ihr Scheitern skizziert und sie ins Verderben rennen lässt. Er ist dabei schonungslos und zeigt unsere Gesellschaft als materiell orientiert, unbarmherzig und sinnentleert. Was also bleibt? Die Erkenntnis, dass wir alle Normalos sind, so besonders wir auch gern wären. Dass das Leben schwierig ist. Und dass das Buch ein wirklich herausragend tolles Cover hat.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Die Zeit vergeht, das Leben wartet nicht
Emma und Dexter kennen sich aus der Schule – als diese 1989 zu Ende geht, verbringen sie eine Nacht zusammen. Sie sind jung und planlos, sie wollen in ihr Leben starten und sehen, was es bringt. Obwohl sie weder gute Freunde noch ein Liebespaar sind, bleiben sie über die Jahre in Kontakt, sie schreiben einander Briefe und können sich nie ganz loslassen. Jedes Jahr am 15. Juli gibt ein neues Kapitel Einsicht in die Entwicklung von Emma und Dexter: Emma weiß nicht so recht, was aus ihr werden soll, und jobbt erst mal in einem heruntergekommenen Restaurant, Dexter beschäftigt sich mit Fotografie und rutscht langsam in die Welt des Fernsehens. Ab und zu sehen sich die beiden, sie fahren sogar gemeinsam auf Urlaub – doch näher im erotischen Sinn kommen sie einander nicht. Dexter ist ein Frauenheld, Emma führt eine lange Beziehung mit einem Mann, den sie eigentlich nicht liebt. Ihre beruflichen Ziele verändern sich, sie verlieben sich und werden erwachsen, sie verlieren einander aus den Augen und finden zueinander zurück – und regelmäßig am 15. Juli erhascht der Leser einen Blick auf das, was sich verändert hat.

Die Geschichte so zu erzählen, wie David Nicholls es tut, ist unbestreitbar originell. Dass man nur einmal im Jahr Zugang zu den Protagonisten bekommt, sorgt für Spannung. Gleichzeitig muss man aber auch immer aufholen, was das ganze Jahr über geschehen ist, wodurch sich manche unschöne Doppelung ergibt. Von Presse und Kritikern gehypet und als “moderner Klassiker” gefeiert, ist One Day eine Geschichte über das, was jeder von uns kennt und fürchtet: verpasste Chancen. Das typische “Was wäre wenn” schwingt immer mit und löst ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe aus. Es dauert seine Zeit, bis sich alles fügt und natürlich ist – so blind kann niemand sein – das Ende auf gewisse Weise vorhersehbar. Wenn auch anders, als man sich das zuerst denkt: Um dem Kitsch auszuweichen, hat Nicholls den einzig möglichen und sehr radikalen Weg gewählt, was mir nicht unbedingt zusagt. Denn, lieber Autor, wenn schon eine Liebesgeschichte, dann muss man es auch beinhart durchziehen.

Am besten an One Day finde ich die Idee. Der Roman ist angenehm zu lesen, voll schlagfertiger Dialoge, streckenweise ein wenig zäh, aber grundsätzlich sehr flüssig. Herausragend ist er nicht, ebensowenig besonders aufwühlend oder beeindruckend. Und die Moral von der Geschicht: Aufmerksam durchs Leben gehen. Die Möglichkeiten nutzen, die sich bieten. Niemals warten, bis es zu spät ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Ich verdiene mein Geld mit Worten, ich traue ihnen nicht”
“Wohin du auch ziehst/ich höre, wie die Flügel schlagen/im Sturzflug schlagen/Ich bin sprachlos/weil du neben mir aufgeschlagen bist/weil deine Wimpern/Rippen winziger zerbrechlicher Tiere sind.”
So ist Das Lieblingsspiel: voll unergründlicher Sprachbilder, poetisch, wirr, opulent. Die Geschichte nachzuerzählen, ist beinahe unmöglich, denn einen Faden gibt es nicht, weder in Rot noch in einer anderen Farbe. Der Protagonist ist Lawrence Breavman, Sohn reicher Juden, der sich als empfindsamen Dichter sieht. In New York lernt er Shell kennen, er verliebt sich. Ihr erzählt er von allen Frauen zuvor, von den Mädchen, mit denen er heranwuchs, von ersten Küssen und sexuellen Erlebnissen. Lisa, Tamara, Bertha – sie kamen und gingen. Wird Shell bleiben? Wird Breavman bei Shell bleiben? Es ist unklar, er hängt in seinem eigenen Leben in der Luft. Mit seinem Freund Krantz führt er tiefsinnige, absurde Dialoge, sie geilen sich auf an ihren eigenen Worten, sie wären so gern etwas Besonderes.
“Du weißt ja, Breavman, dass du die Stadt nicht durch dein Leiden erlösen musst.”
“Oh doch, das muss ich. Kannst du mich nicht sehen, gekreuzigt auf dem Mount Royal, an einem Ahornbaum? Es geht schon los mit den Wundern.”

Leonard Cohen ist ein Meister, seine Musik, so heißt es, wird abends in guten Wohnzimmern gespielt. Das Lieblingsspiel ist sein autobiografisch angehauchter Debütroman, erschienen 1963 und jetzt neu übersetzt, er gilt als einer der zehn besten kanadischen Romane des 20. Jahrhunderts. Cohen ist einer, der mit der Sprache spielt, der sie verdreht und bis in ihr Innerstes schaut. Ob das alles Sinn ergibt, ob es verständlich ist – das kümmert ihn nicht. Und so entstehen unnachahmliche Formulierungen wie “Bäume, so zerbrechlich wie die Läufe horchender Rehe” oder “Sie schloss die Augen vor Sehnsucht (…) nach einem Menschen, der sie in ihre eigene Haut zurückstecken würde”. Um in meinen Augen als Roman zu bestehen, dazu hat Das Lieblingsspiel zu wenig Struktur. Ich frage mich mehr als einmal, ob das noch genial oder schon wahnsinnig ist. Cohen wechselt in der Zeit und in der Perspektive (und nein, ich werde das nie leiden können), er lässt nicht zu, dass man ihm folgen kann. Somit ist dieses Buch eine Sammlung von Stimmungen und Gedanken, von Ideen und Gefühlen – und vor allem ein Beweis eines großen Sprachtalents.

“Was die Körper betrifft, die Breavman abhanden gekommen sind – kein Detektiv wird sie finden. Er hat sie im Zustand höchster, vollkommener Schönheit aus den Augen verloren. Es sind:
eine Ratte
ein Frosch
ein schlafendes Mädchen
ein Mann auf einem Berg
der Mond”
Was das bedeuten soll? Ich habe keine Ahnung. Aber es klingt so schön.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Kleine Geschichte, große Liebe
Hema kennt Kaushik schon lange: Ihrer beider Eltern waren befreundet, damals in Massachusetts. Sie sind alle Bengalen und ihre Wege kreuzen sich Jahre später erneut, als Kaushik mit seinen Eltern aus Indien zurückkommt. Hema ist drei Jahre jünger als er und schwärmt für den verschlossenen 17-Jährigen, den nichts interessiert außer seiner Kamera. Er bekommt von Hemas Verliebtheit nichts mit, da sie kaum miteinander sprechen. Und dann ist es der Zufall, der sie zwei Jahrzehnte wieder übereinander stolpern lässt: Hema ist Expertin für Latein, Kaushik ist Kriegsfotograf, sie treffen einander in Rom. Plötzlich entbrennt eine unerwartete Liebe, die sie übereinander herfallen lässt in der kurzen Zeit, die ihnen gemeinsam bleibt.

Einmal im Leben ist schön, berührend und tragisch. Jhumpa Lahiri erzählt von zwei Menschen, die ihre gemeinsame Vergangenheit verbindet und die an einem fremden Ort zu einer völlig falschen Zeit aufeinander treffen und sich verlieben. Dabei geht sie nicht in die Tiefe und nicht ins Detail – was bei knapp 170 Seiten auch nur schwer möglich ist. Die Handlung und die Figuren bleiben wie Skizzen auf einem Reißbrett, die eigene Fantasie kann, wenn sie will, dazu dichten, was fehlt. Sehr unerwartet kommt für mich das Ende, das statt der zwei offensichtlichen Möglichkeiten eine dritte wählt. Das Buch bleibt die Kurzgeschichte, die es eigentlich ist, entnommen aus einer Sammlung von Short Stories. Das so aufzublasen und als gebundenen Roman zu verkaufen, finde ich recht gewagt. Nichtsdestotrotz spürt man hinter Jhumpa Lahiris Worten eine interessante Sprachgewalt, die jedoch nur in sehr gezügelter und eingeschränkter Form zum Vorschein tritt. Was wirklich schade ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Stalking, Sex und Schwangerschaft
Lizzie hatte die große Liebe schon gefunden: mit Sally. Nur leider sah Sally das nicht so, sie hat Lizzie verlassen – ausgerechnet für einen Mann. Der hat auch noch einen dicken Hals. Zudem ist Lizzies Bruder – der sich immer schon wie eine Frau gefühlt hat – verschwunden, die Polizei ist ratlos. Lizzies Mutter ist ihr auch keine Hilfe, sie verlässt ohne ein Wort des Abschieds die Stadt. Kein Wunder, dass sich Lizzie allein und unverstanden fühlt. Nur ihre Freundin Petula steht ihr bei und begleitet sie sogar, als Lizzie heimlich Sally bis in deren Liebesurlaub verfolgt. Allerdings wissen Petula und Sally nichts davon. Genauso wenig wie von Lizzies Einbrüchen in Sallys Wohnung, bei denen sie Haare und Fotos stiehlt, um sie an ihren Kühlschrank zu kleben. Sie klammert sich an die Erinnerung und will sich innerlich nicht von Sally trennen – denn dann würde ihr wirklich gar nichts mehr bleiben.

In search of the missing eyelash ist eine Geschichte über die Liebe, die unabhängig vom Geschlecht auftaucht und wieder verloren geht. Lizzies Homosexualität an sich ist kein Thema, sie muss nicht in irgendeiner Weise erklärt werden. Karen McLeod erzählt von einem Menschen, der einsam ist und schwach, der sich dazu hinreißen lässt, in die Privatsphäre desjenigen einzudringen, der ihm das Herz gebrochen hat. Sie lässt ihre Protagonistin bizarre Dinge tun, von denen so mancher Leser vielleicht auch schon fantasiert hat, auch wenn er das nie zugeben würde. Das Buch wird dabei aber nie klischeehaft, ganz im Gegenteil: Die Autorin tobt sich aus, entwirft spritzige Dialoge, macht ihre Figuren dick, tollpatschig und von zweifelhaftem Charakter, und bei manchen Ereignissen bekomme ich den Eindruck, dass es ihr völlig egal ist, ob das noch jemand gut findet. Dieses Buch ist anders. Es ist traurig und deprimierend, amüsant und verblüffend. Dabei muss man als Leser viel Aufmerksamkeit und Konzentration aufbringen, um dem verqueren Schreibstil und den merkwürdigen Geschehnissen folgen zu können: Neben dem Stalking kommt viel Sex vor, noch mehr Alkohol und eine eventuelle Schwangerschaft. In search of the missing eyelash zeigt, dass das Leben nicht immer lustig ist und heiter. Und dass wir alle manchmal ein bisschen sind wie Lizzie: hilflos und ganz schön verrückt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine schräge und ungewöhnliche Geschichte
Abel ist verliebt in Mae. Er ist verliebt in die Art, wie sie Kaffee einschenkt, und in ihre Zehen. Das wäre ja noch nicht so schlimm. Aber Mae ist die Frau von Abels Zwillingsbruder Paul. Ungerecht verteilt ist zwischen den Brüdern nicht nur die Liebe, sondern auch die Schönheit: Abel hat einen Buckel und kann mit Attraktivität nicht punkten. Paul dagegen scheint Mae auch nicht glücklich zu machen … Aber darum geht es eigentlich überhaupt nicht. Denn vielmehr handelt Wie ich mich einmal in alles verliebte von einem seltenen Gendeffekt, der zu geistigem Verfall und einem verfrühten Tod führt. Paul und Abels Mutter litt daran – und das kranke Gen hat sie vererbt. Aber nicht an alle. Woher die Krankheit stammt und wie mit ihr umzugehen ist, das erforscht der 15-jährige Seth, den mit Abel mehr verbindet, als beide anfangs ahnen.

Bis ich in diesen Roman hineinfinde, dauert es sehr lange. Der Klappentext und der Beginn führen mich vollkommen in die Irre, ich bin eingestellt auf eine Dreiecksgeschichte zwischen Abel, Paul und Mae, und wer dieser Seth überhaupt ist, durchschaue ich erst nach einiger Zeit. Langsam fügen sich die Puzzleteile zusammen, wirr bleibt die Geschichte aber dennoch. Stefan Merrill Block hat einen ungewöhnlichen Roman geschrieben, der sich nur sehr schwer einordnen lässt. In jeder Geschichte steckt wieder eine Geschichte, die entblättert wird: Da wäre etwa Lord Mapplethorpe aus Iddylwahl im 17. Jahrhundert, bei dem der Ausgangspunkt für die zermürbende genetische Krankheit liegt, dann die Goldene Stadt Isidora, in der die Menschen nicht reden, sondern sich berühren, um zu kommunizieren, und schließlich gibt es da eben jene Story zwischen Abel und Mae. Das passt alles überhaupt nicht zusammen – und tut es irgendwie doch.

Was also will Wie ich mich einmal in alles verliebte eigentlich erzählen? Die Angst des Menschen vor dem Verlust der Kontrolle, vor dem Vergessen wird dargestellt, dem nahenden Tod wird ins Auge gesehen und die Liebe wird verloren. Zum Beispiel. Leider kippt die an sich amüsante Erzählung stellenweise ein wenig ins Lächerliche, und seine Fantasie hat der Autor gar zu zügellos umherspringen lassen. Das Ende aber ist sehr passend, wenn auch keine Krönung. Wegen der euphorischen Kritiken habe ich definitiv mehr erwartet: Anfängerfehler! Was also bleibt? Jede Menge Verwirrung. Eine noch nie dagewesene Geschichte. Und ein, zwei wirklich schöne Sätze.