Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Nobelpreisträger, der Klimawandel und das Innerste der Menschen
Beruflich ruht sich Michael Beard seit Jahren auf den Lorbeeren aus, die er sich als junger Physiker verdient hat, als er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Privat quält ihn das Ende seiner fünften Ehe mit der schönen jungen Patrice, das er durch seine zahlreichen Affären selbst heraufbeschworen hat, nun aber nicht verkraften kann. Patrice schlägt Beard mit seinen eigenen Waffen, er kämpft mit seinem verletzten Ego und den neuen Entwicklungen in der Physik, mit denen er nicht mehr Schritt halten kann. Er ist fettleibig, unsympathisch, versoffen, eingebildet und wehleidig. Doch dann tut sich plötzlich eine Möglichkeit auf für ihn, wieder nach oben zu gelangen, etwas wird ihm in die Finger gespielt, und in seiner Überheblichkeit kann er nicht widerstehen. Die Jahre vergehen, aber das Schicksal hat Geduld, wenn es Rache üben will …

Ian McEwan ist definitiv ein Star am Literaturhimmel und dürfte auch weniger belesenen Menschen ein Begriff sein, seit sein Roman Abbitte verfilmt wurde. Vor etwa 10 Jahren habe ich Enduring Love von ihm gelesen, das wesentlich melancholischer, dramatischer und verquerer war als Solar, vielleicht hat sich der Stil des Autors verändert und entwickelt, vielleicht hat er ihn bewusst je nach Roman modifiziert, oder es liegt am Sprachunterschied durch die Übersetzung. In Solar erinnert mich die Tonalität stark an Leon de Winter, dessen Bücher immer angenehm dahinplätschern und durchwegs gut erzählt sind. Worum also geht es wirklich in diesem neuesten Buch von Ian McEwan? Ein Mann steht im Mittelpunkt, der mit all den Schwächen der Menschheit gesegnet ist – Eitelkeit, Sturheit und Gier. In Kombination mit den hochaktuellen Themen Klimawandel, Umweltschutz und Sonnenenergie schafft der Autor eine anfangs scheinbar oberflächliche Geschichte, die sich als raffinierte Kritik an Wirtschaft, Gesellschaft und Umweltorganisationen entpuppt und flott liest.

Auf schlaue Art und Weise führt Ian McEwan dem Leser anhand von Michael Beard und einem vermeintlich harmlosen Betrug vor Augen, welch riesige Maschinerie aus Geld und Macht hinter dem Handel mit erneuerbaren Energien steckt, über dem der Deckmantel der vermeintlichen Rettung der Erde liegt. Mit seinem Protagonisten geht er dabei nicht sehr zimperlich um, was angenehme Schadenfreude weckt. Das ist unterhaltsam und regt zugleich zum Nachdenken an. Zwar geizt McEwan nicht mit Physik, bereitet sie aber verständlich auf. Das hochaktuelle Thema macht Solar zu einem lesens- und empfehlenswerten Buch, auch wenn ich der Meinung bin, dass es nicht McEwans bestes ist.

Solar ist erschienen im diogenes Verlag (ISBN 978-3257067651, 21,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Familienglück auf Eis
Wenn man 13 ist, ist das Leben kompliziert. Für Jake gilt das in besonderem Maße: Mutter Mary ist Alkoholikerin, Vater Bill gerade ausgezogen, der große Bruder Matt verschwunden, der kleine Bruder Andy auf ihn angewiesen. Wir schreiben das Jahr 1985 und Jake möchte gern unbeschwert sein, die Jugend genießen, sich eine Midi-Anlage kaufen. Auch Mary war einst – wie die Rückblenden aus den Sechzigerjahren erzählen – lebensfroh und voller Hoffnungen. Sehr eng war sie ihrer Schwester Rachel verbunden, doch der Kontakt brach ab und die beiden Frauen treffen sich erst 15 Jahre später wieder. Dann kommt plötzlich ein lang verstecktes und gefährliches Familiengeheimnis ans Licht …

Am Ende eines Sommers erzählt die Geschichte einer Familie, die sich stets sehr nah am Abgrund bewegt. Als Leser fühlt man mit Jake mit, der sich in der unglücklichen Lage befindet, gerade groß genug zu sein, um Verantwortung zu übernehmen – aber immer noch klein genug, um sich dabei wie ein verzweifeltes Kind zu fühlen. Das Buch lebt von zwei Handlungssträngen, Jake berichtet aus seiner Sicht, Mary bekommt eine eigene Perspektive in der Vergangenheit, die erklären soll, wieso es zu den Ereignissen 20 Jahre später kommt. Isabel Ashdown schreibt sehr flüssig, in einem Stil ohne Widerhaken und Fallen. Ihre Charaktere sind glaubhaft, die Atmosphäre hat sie gut eingefangen, manche Worte brennen wie Säure.

Mein Kritikpunkt an diesem Buch ist die Verwirrung, die nach der letzten Seite bleibt. Viele Fragen sind noch offen, wenn der Roman bereits geschlossen ist: Wer ist wessen Vater, wer hat wen hintergangen? Was hat es mit dem Familiengeheimnis tatsächlich auf sich, warum haben sich die Schwestern entzweit? Trotz hoher Konzentration auf alles, was in und zwischen den Zeilen steht, ist das nicht ganz klar, man muss ein wenig weiterrätseln, sich wundern, noch mal nachdenken. Zwar ist das Ende wunderbar passend wie ein Puzzleteil, gleichzeitig aber dennoch irritierend und schockierend. Dies ist ein Buch, das den Finger genau auf die Wunde legt. Und dann fest hineindrückt. Das macht es authentisch. Eitel Sonnenschein suche man woanders!

Am Ende eines Sommers ist erschienen im Eichborn Verlag (ISBN 978-3-8218-6120-3, 19,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das Wunderland der Fantasie
“Wenn ein Heiliger stirbt, riecht es im Umkreis von acht Kilometern nach Blumen.” So klingt Menschen aus Papier: fantasievoll, verrückt, außergewöhnlich.  Dies ist ein Buch, das völlig außer Konkurrenz steht, das heraussticht aus der 08/15-Masse der Veröffentlichungen. Seinen Inhalt wiederzugeben, ist beinahe unmöglich, zu überladen ist es an Personen, zu ausufernd in der Handlung. Da sind Federico de la Fe, der seine Traurigkeit bekämpft, indem er sich selbst Brandwunden zufügt, und seine Tochter Little Merced, die Limonen lutscht wie Bonbons. Dann gibt es Merced de la Papel, eine Frau aus Papier, “Beine aus Pappe, ein Blinddarm aus Zellophan und papierne Brüste”. Eine Rolle spielen auch Froggy, Sandra und die anderen Mitglieder der EMF, die vereint sind in einem ganz besonderen Krieg: Sie wehren sich gegen den übermächtigen Saturn, der sie stets beobachtet, sie wollen frei sein, sie führen Krieg “gegen eine Geschichte, gegen die Geschichte, wie Saturn sie schreibt”.

Menschen aus Papier ist ein wildes Buch, das in kein Genre und keine Schublade passt – dafür sorgt wörtlich gesehen schon das ungewohnt große Format. Salvador Plascencia lässt einen bunten Reigen an Figuren auftreten, die alle für sich erzählen, und doch gibt es Überschneidungspunkte, die Erzählstränge überlappen sich, die Ereignisse sind miteinander verwoben. Der ständige Perspektivenwechsel wirft ein facettenreiches Licht auf die Protagonisten und die Handlung. Eine Hauptperson gibt es nicht, es scheint, als könne jeder sich an der Entwicklung der Geschichte beteiligen, als sei ihr Ausgang stets offen. Auch optisch ist dieser Roman eine originelle Abwechslung zu “normalen” Büchern: In Spalten gesetzt, mit leeren Stellen oder grauen Markierungen durchzogen, gleicht der Text dem abstrusen Inhalt und fordert den Leser heraus.

Der Fokus auf der mexikanischen Lebenswelt und der schweren Traurigkeit, die die Menschen verfolgt, macht den Vergleich zu Gabriel García Márquez verständlich, auch wenn sich Salvador Plascencia einer komplett anderen Art bedient, einen Roman zu schreiben: Er stellt sich selbst hinein in dieses Buch – wie, das soll nicht verraten werden – und lässt eine Beziehung zwischen Autor und Buchfiguren entstehen, die schon Jostein Gaarder zu großem Erfolg geführt hat. Menschen aus Papier ist ein Berg von einem Buch, den man erst einmal erklimmen muss, Wegweiser gibt es keine, eine erklärende Karte auch nicht. Menschen haben Heiligenscheine in diesem Roman, sie betäuben sich selbst, indem sie Bienen auf ihren Armen ausdrücken, sie verstecken sich hinter Blei, sie tun nichts, was auch nur irgendwie einer nachvollziehbaren Realität entstammen könnte. Salvador Plascencia hat ein berauschendes, faszinierendes Buch geschrieben, auf das man sich bewusst einlassen muss. Der einzige Schwachpunkt in meinen Augen ist, dass die Flut an Charakteren letztlich nirgendwohin führt, dass das Buch in seiner eigenen Fantasiewelt verloren geht. Aber das ist zu verkraften und vermutlich so gewollt. Was bleibt also übrig am Ende dieses unvergleichlichen Erlebnisses? Der Kleber, der Buchseiten wie Menschen aus Papier zusammenhält, das, was immer hinter allem steht. Natürlich. Die Liebe.

Menschen aus Papier ist erschienen bei Edition Nautilus (ISBN 978-3894015879, 19,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Interessante Einblicke in grausige Taten
Von einem Arzt erzählt Ferdinand von Schirach, der seine Gattin mit einer Axt im Keller zerhackt. Von einer jungen Frau, die ihren Bruder in der Badewanne ertränkt. Und von neun anderen Menschen, die aus Eifersucht, aus Rache, aus Neid ein Verbrechen, einen Mord begangen haben. Kurz und klar sind die Geschichten, kein Wort ist zu viel, aber auch keines zu wenig. In einer sehr reduzierten Prosa berichtet der Berliner Anwalt und Strafverteidiger von elf Fällen aus seiner beruflichen Erfahrung. Und bastelt daraus ein kleines Büchlein, das man schnell gelesen hat, aber lange nicht vergisst.

In einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fantasie lässt Ferdinand von Schirach die Ereignisse lebendig werden, die zu einem Mord oder einem Überfall geführt haben. Und obwohl er Dinge, Menschen, Gefühle und Umstände beschreibt, von denen er nichts wissen kann, glaubt man ihm als Leser, dass es sich genau so zugetragen hat. Die Fälle, so heißt es, sind wahr. Und Schirachs Buch hat eine regelrechte Begeisterungswelle ausgelöst: Er befriedigt damit auf literarische Weise die stets vorhandene Sensationsgeilheit der Menschen. Verbrechen vermittelt einen Einblick in das Innenleben von Straftätern und man darf sich als Leser ohne Scham wie ein Voyeur fühlen. Wer etwas getan hat, steht weniger im Vordergrund als das Motiv: Warum ist dieser Mord geschehen, was hat dazu geführt? Trotz urteilsfreier Teilnahmslosigkeit scheint der Strafverteidiger in jede Geschichte eine Prise Verständnis einzustreuen: Hier hat jemand etwas verbrochen, aber eigentlich hatte er doch keine andere Wahl …

Verbrechen zu lesen, ist ein bisschen wie eine dieser Fernsehsendungen à la “Autopsie” anzuschauen – nur viel niveauvoller. Nicht jeder Täter ist einfach nur böse und muss bestraft werden. Vielmehr arbeitet Ferdinand von Schirach in einem klugen Balanceakt heraus, was wir alle längst wissen: dass es nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch noch sehr viel Grau gibt im Leben. Er hat eine Ahnung von dem, was er beschreibt, er bringt die blutigen Details zu Papier, lässt Menschen den Verstand verlieren und Gewalt hervorbrechen wie ein Sommergewitter. Es wundert mich nicht, dass dieses Buch so viele positive Reaktionen bekommen hat: Es ist gut geschrieben, es ist interessant und man gruselt sich so schön.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein bunter Reigen an skurrilen Geschichten
Rita Palka ist Schriftstellerin. In der Provinz soll sie ihre Erzählung “Zwei schwarze Jäger” vorlesen – doch interessierte Zuhörer gibt es keine, und so erfindet Rita spontan eine Geschichte. Damit beginnt ein wahrer Zyklus an kurzen Episoden, jedes Kapitel steht für sich. Das “Personal der Schriftstellerin Rita Palka” tritt auf, einer nach dem anderen erscheint auf der Bildfläche: Eine Dame im Rollstuhl, die eine düstere Erotik ins Spiel bringt, ein Lektor, der für einen Kellner entflammt, und eine junge Frau, die durch herbe Enttäuschungen Mordgelüste entwickelt, sind nur drei der vielen Figuren, die an den schriftstellerischen Fäden von Brigitte Kronauer tanzen. Was sie alle verbindet, ist die spürbare Leere in ihrem Leben, die sie mit Glück hätten füllen sollen – doch darin, ihre Ziele zu erreichen, sind sie aus unterschiedlichen Gründen gescheitert.

Zwei schwarze Jäger ist ein Episodenroman, ein locker gestricktes Konstrukt aus kurzen Geschichten, die sich im dritten Teil des Buchs langsam annähern und Zusammenhänge erkennen lassen. Wie durch ein Kaleidoskop wirft Brigitte Kronauer das Scheinwerferlicht auf die einzelnen Charaktere, die aus verschiedenen Gesellschaftsschichten stammen, jung sind oder alt, männlich oder weiblich. Diese Autorin hat eine scharfe Beobachtungsgabe, und sie bildet mit einer pointierten Sprache ab, was die Wirklichkeit zeigt: dass das Leben ein hartes ist, dass man sich schneiden kann an seinen Kanten. Dies ist eine Satire, ein Abdruck der Gesellschaft, ein Einblick in das Wohnzimmer des alltäglichen Leids. Ob in der Provinz oder in der Großstadt: Unglücklich sind die Menschen überall. Mit einer schmunzelnden Boshaftigkeit wirft Brigitte Kronauer ihre Figuren eine nach der anderen gegen die Wand. Dass dabei eine von ihnen zum Mörder wird, wirkt schon beinahe selbstverständlich.

Brigitte Kronauer spielt mit der Sprache wie eine Geigenvirtuosin, sie begutachtet Ausdrucksformen von allen Seiten, dreht und wendet sie, schüttelt die Sprache, damit sie hergibt, was sie geben kann. Hier schreibt eine Autorin um des Schreibens willen. Lange Sätze, elegante Formulierungen und verblüffende Metaphern dominieren ihren Stil. “Roch es hier womöglich nach zerquetschten Maikäferchen?” heißt es beispielsweise oder “Meine Taten stehen wie unabhängige Wesen, wie gepackte Koffer neben mir, die ich bloß noch zu einer bestimmten Adresse tragen muss.” Dieses Buch zu lesen, ist, wie einem Künstler beim Jonglieren zuzusehen. Wie schafft er das nur, fragt man sich, und wird es nie nachmachen können. Zwei schwarze Jäger ist ein verwirrender Roman, dem man manchmal mehr mit dem Gespür folgen muss als mit dem Verstand, und der die Geduld des Lesers das eine oder andere Mal arg strapaziert. Man sollte also genügend davon mitbringen.

Zwei schwarze Jäger ist erschienen im Klett-Cotta Verlag (ISBN 978-3-608-93885-2, 21,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Melancholisches aus Norwegen
Liv ist Pastorin in einer kleinen Gemeinde im Norden von Norwegen. Das Leben ist ruhig hier, und das kommt Liv gerade recht: Nach einem durch ein Stipendium finanzierten Aufenthalt in Deutschland ist sie geflüchtet in die Einsamkeit. Denn in Deutschland traf sie Kristiane, die fröhliche, extrovertierte Puppenspielerin. Sie kannten einander nur 45 Tage, und doch hat diese Freundschaft Livs Leben gehörig durcheinandergebracht. Als sich ein junges Mädchen der Gemeinde erhängt, muss Liv – die versucht, den Angehörigen beizustehen – sich mit ihren Erlebnissen in Deutschland auseinandersetzen. Zugleich beschäftigt sie sich mit dem Aufstand der Samen und dem Christentum an sich. Ob sie wirklich so gläubig ist, wie sie es sein sollte, das weiß Liv selbst nicht.

Hanne Orstavik hat für ihre Romane bereits alle wichtigen Literaturpreise Norwegens erhalten und gilt als “Meisterin des Minimalismus”. Dem stimme ich zu. Ihre Sprache ist sehr eng, bezogen auf Details, auf das Kleine, hinter dem sich das Große verbirgt. Klar und schön ist dieser Stil, ruhig wie das Land selbst. Zwar vermischen sich die Erzählzeiten und somit die Ereignisse, sodass ich manchmal nicht ganz folgen kann, grundsätzlich aber liegt hier ein sprachlich ausgezeichneter Roman vor. Ton und auch Inhalt sind geprägt von einer umfassenden Melancholie, einer großen Schwermütigkeit. Ich mag das Skandinavische, das ruhig Plätschernde – weshalb Per Petterson zu meinen liebsten Schriftstellern zählt – und ziehe es dem Pathos vor. Allerdings ist in diesem Fall sogar mir diese lähmende Verzweiflung, die auf allen Figuren und allen Geschehnissen liegt, fast zu anstrengend. Liv ist ein zweifelnder, hilfloser Mensch, alles andere als eine Seelsorgerin. Sie kann nicht kommunizieren, sie kann nicht einmal Menschen berühren. Sie möchte “Wunden verbinden”, hat aber nichts zu geben. Sie steht mit leeren Händen vor dem Schicksal, ihr Glaube ist, wenn überhaupt, nicht mehr als eine hauchdünne Hülle. Es geht um den Tod in diesem Buch, und zwar in Form von Selbstmord, es geht um das Christentum, um die Unfähigkeit, anderen Menschen zu helfen und sie zu retten. Traurigkeit umgibt diesen Roman wie ein Nebelschleier, der undurchdringlich bleibt.

Lieblingszitat: Ich dachte an seine Augen, die helle Hand auf dem dunklen Tisch. Am liebsten wäre ich ein Stück Berg in dieser Hand, ein Stein, den er untersuchen und festhalten könnte. Ein Stein, den er in die Tasche stecken könnte, über den er mit dem Finger streichen könnte, wenn er in einer Sitzung war oder in die Hochebene ging.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Herrlich böse
Krissie ist Sozialarbeiterin – und eine Schlampe. Sie geht mit jedem ins Bett, der ihr auch nur ansatzweise gefällt. Das führt dazu, dass Krissie von einem Teneriffa-Urlaub mit einem Embryo im Bauch zurückkommt, der beim Toilettensex mit einem Fremden entstanden ist. Krissie ist geschockt, aber noch mehr trifft die plötzliche Schwangerschaft ihre beste Freundin Sarah: Sie versucht schon seit Jahren, mit ihrem Mann, dem gutaussehenden Arzt Kyle, ein Baby zu bekommen. Mittlerweile ist Sarah von ihren Eierstöcken besessen und die Ehe am Ende. Als Baby Robbie geboren wird, ist Krissie heillos überfordert: Nichts klappt, wie es soll, und sie erlebt nun von der anderen Seite, was es bedeutet, wenn das Jugendamt auf eine Mutter aufmerksam wird. Zur Ablenkung und Erholung beschließen Sarah, Kyle und Krissie, gemeinsam durch Schottlands Berge zu wandern. Was wie eine gute Idee klingt, wird jedoch zum mörderischen Reinfall: Nicht alle werden lebend von diesem Ausflug zurückkehren …

Ich muss gestehen, dass ich von selbst nie zu Dead Lovely gegriffen hätte, mir das Buch aber habe empfehlen lassen. Ich bin kein großer Fan von Suspense – weil es in den meisten Fällen, seien wir ehrlich, nicht gut gemacht ist. Ganz anders bei Helen Fitzgerald: Sie erzählt mit Witz und Tempo. Gleich zu Beginn stattet sie ihre Charaktere mit einer gehörigen Portion Frust, Neid und unterdrückter Wut aus – um diese explosive Mischung dann im geeigneten Moment hochgehen zu lassen. Dann, wenn es dunkel ist, und keiner die Schreie hört, natürlich. Eifersucht, Misstrauen und unerfüllte Wünsche zermürben die drei Protagonisten und treiben sie zum Äußersten. Zwar ist der Perspektivenwechsel für mich gewöhnungsbedürftig – Krissie erzählt meistens in der Ich-Form, aber nicht immer – aber verkraftbar, da sich am Ende alles zusammenfügt. Die Autorin hat ein rasantes und sehr amüsantes Buch hingelegt, das alle Erwartungen an einen spannenden Roman erfüllt und es trotzdem noch schafft, nicht allzu vorhersehbar zu sein. Ein Schwachpunkt ist in meinen Augen der Grund für die Ereignisse, der hätte weniger klischeehaft und origineller ausfallen müssen. Dennoch bietet Dead Lovely, das auf Deutsch unter dem Titel Furchtbar lieb erschienen ist, gute Unterhaltung – und legt einem beim Lesen ins Gesicht, was man auf Englisch “smirk” nennt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine sardische Familie und das Leben
Der Vater ist Missionar, der seine Frau zum Lachen bringt und oft wochenlang fort ist, die Mutter hat Angst vor allem, “nicht nur vor gelben Wäscheklammern, sondern vor der ganzen Welt”. Der Sohn vergräbt sich in seinem Zimmer, um Klavier zu spielen, die Tante hat zu viele Affären und zu wenig Liebe. Die Tochter steckt in einer sadomasochistischen Sex-Beziehung mit einem verheirateten Mann und wundert sich über ihre Familie und das Leben. Wohin es führen soll, das weiß niemand, und zumindest eine in der Familie will es auch gar nicht herausfinden. So legt sich eine staubige Traurigkeit auf dieses Haus, Gewalt und Gefahr bedrohen die Familie – aber ein winziges Stückchen Glück findet sie dann doch.

Ich mag Milena Agus. Sie schreibt in klaren, schnörkellosen Sätzen, die lächeln lassen und traurig machen. Während ich von Die Frau im Mond begeistert war und Die Flügel meines Vaters es mir sehr angetan hat, fällt Solange der Haifisch schläft in eine etwas andere Kategorie. Auch im Erstlingswerk der Autorin steht eine sardische Familie mit einer weiblichen Ich-Erzählerin im Mittelpunkt. Der Ton ist jedoch schärfer und zynischer als in den folgenden Büchern. Die Figuren sind nicht so liebenswert, wie ich es von Milena Agus gewohnt bin, die Geschichte ist um einiges trostloser und “schmutziger”. Nichtsdestotrotz ist sie wunderbar geschrieben. Es liegt dieser italienischen Autorin, Menschen in ihren ungewöhnlichen Eigenheiten zu skizzieren und sie hineinzuwerfen in ein Leben, mit dem sie wenig anfangen können. Zudem bringen mich die ironischen Einwürfe zum typisch italienischen bzw. sardischen Dasein immer wieder zum Schmunzeln. Solange der Haifisch schläft ist ein komplexes kleines Buch über eigenwillige Charaktere, die als Familie zusammengewürfelt werden und von denen jeder auf seine Art nach etwas sucht, das ihn glücklich macht. Das gelingt mal mehr, mal weniger – und ist schön zu lesen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Solide Spannung und schräge Ideen
Sebastian und Oskar sind kluge Köpfe und seit dem Studium beste Freunde. Als Physiker bewegen sie sich in Gefilden, in die ihnen kein normalsterbliches Gehirn folgen kann. Während Sebastian geheiratet und Sohn Liam bekommen hat, strebt Oskar nach “Höherem” in der Physik. Dieser Punkt ist ein ständiger Zankapfel zwischen den beiden. Als Liam entführt und Sebastian zu einem Mord gezwungen wird, um seinen Sohn zu retten, kommt Kommissar Schilf ins Spiel. Er ist schlau, kauzig und eigentlich schon fertig mit dem Leben. Seine junge Kollegin Rita dagegen wird vom Ehrgeiz gesteuert. Ihr Ziel aber ist dasselbe: den Fall zu lösen.

Es gibt einen großen Hype um Juli Zeh. Schilf ist das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe – es kam durch eine Empfehlung zu mir. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen, was es einem Buch niemals leicht macht. Originell finde ich die Kapitelüberschriften, die lang sind und amüsant. Weniger originell dagegen ist meiner Meinung nach die Figurenzeichnung: Wer viele Krimis gelesen hat, kennt sie alle, die abgebrühten, allwissenden Kommissare. Ein solcher ist auch Schilf. Polizistin Rita entspricht ebenfalls in den meisten Eigenschaften der Vorstellung von einer Frau, die sich durchbeißen muss in einer Männerwelt. Von dieser Seite ist also nichts Neues zu holen. Inhaltlich gesehen brilliert Juli Zeh mit einer ungewöhnlichen Idee, einer ebenso grausamen wie banalen Geschichte und einem grandiosen, grotesken Ende. Was dieses Ende angeht, so leidet dieser Roman an einem Virus, der alle Krimis befällt: Will die Auflösung glaubwürdig sein, so muss der Leser den Täter bereits kennen, die Verbindungen müssen bestehen. Das tun sie auch in diesem Buch. Und so ist die Wahrheit hinter den Ereignissen stets nur einen Moment Nachdenken entfernt. Was bedeutet: So schlau wie Kommissar Schilf bin ich auch. Das ist aber in Ordnung, ein bisschen Vorhersehbarkeit darf und muss sein – und die Genialität des Einfalls ist dennoch groß.

Während Juli Zeh einige geradlinige und herausragende Formulierungen findet, sind andere Stellen stilistisch gesehen halbgar. Ich mag die ironischen Einschübe und die verqueren Gedankengänge. Die Mischung aus Abgehobenheit – etwa wenn es um das physikalische Phänomen der Zeit geht – und klassischem What-happened-Krimi ist der Autorin gut gelungen. Abschließend lässt sich sagen, dass mir Schilf dafür, dass ich an Krimis übersättigt bin und sie nicht mehr mag, unerwartet gut gefallen hat. Vermutlich aber war es nicht das richtige Buch für mich aus Juli Zehs bisheriger Sammlung. Wer sich aber für spannende Literatur, intelligente Storykonstruktionen und abgelebte Kommissare erwärmen kann, ist hiermit jedoch bestens beraten.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Die große Reise der Mailorder-Braut Sascha Goldberg
Sascha Goldberg zu sein, ist nicht angenehm. Sie hat nämlich dunklere Haut als die anderen, krause Haare, zu viel Fleisch auf den Rippen und auch noch einen jüdischen Nachnamen. Sascha wächst in Asbest 2 in Russland auf und ist somit in jeder Hinsicht gestraft. Ihre Aussichten auf eine glänzende Zukunft sind gelinde gesagt klein. Saschas Mutter will das jedoch nicht akzeptieren und möchte aus Sascha eine Musikerin oder eine Malerin machen. Zeichnen macht Sascha tatsächlich Spaß und sie liebt die heruntergekommene Kindermalschule. Dennoch erzeugen die Bemühungen ihrer ehrgeizigen Mutter in Sascha nur Trotz. Als sie mit 16 schwanger wird und das Kind bei ihrer Mutter lassen muss, flieht Sascha als Braut aus dem Katalog nach Amerika. Dort soll auch ihr Vater leben, der die Familie einst verlassen hat … und Sascha will ihn finden.

Was Sascha in ihrem jungen Leben in Asbest 2 – das genauso schrecklich ist wie sein Name – und auf ihrer Reise durch die USA alles passiert, ist amüsant zu lesen. Anya Ulinich, die selbst in Moskau geboren wurde und mit 17 nach Amerika kam, weiß, wovon sie redet, wenn sie von den “new immigrants” erzählt. Teilweise ist Sascha wirklich eine arme Sau. Die Autorin hat aber kein hilfloses Püppchen mit ihrer Protagonistin geschaffen, sondern eine sture, gehässige und zynische junge Frau. Sie hat Schwierigkeiten mit der Sprache, wird als Putzsklavin gehalten und kann das Glück, wenn es ihr denn ab und zu einmal begegnet, gar nicht erkennen. Ein versöhnliches Ende passt daher nicht zu diesem Buch. Petropolis ist eine interessante, unterhaltsame und gut geschriebene Geschichte über ein Mädchen aus Russland, dem so wenig Gutes im Leben geschieht, dass es schon gar nicht mehr danach sucht. Einziges Manko: Neu ist eine solche Geschichte nicht, Ähnliches habe ich beispielsweise unter anderem bei Martin Sixsmith, Gary Shteyngart, Alina Bronsky oder Marina Lewycka gelesen. Wer die aber alle nicht kennt, darf getrost zu Petropolis greifen und sich vergnügen.