Gut und sättigend: 3 Sterne

“In der Nacht geraten die Gefühle leicht außer Kontrolle, wenn man nicht aufpasst”
38 Jahre ist Tsukiko alt, sie lebt allein und arbeitet in einem Büro. Ihr verlässlichster Freund ist der Sake, und eines Abends trifft sie in ihrer Kneipe ihren alten Japanischlehrer. Er erkennt sie trotz all der Zeit, die vergangen ist, sie plaudern ein bisschen, und dann treffen Tsukiko und der Sensei, “Lehrer”, immer wieder zufällig aufeinander – manchmal jeden Abend, dann wieder wochenlang nicht. Sie gehen distanziert miteinander um, siezen sich und fühlen sich doch voneinander angezogen. Es fällt ihnen jedoch unglaublich schwer, einander näher zu kommen.

Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß ist, so verrät es der Untertitel, eine Liebesgeschichte. In diesem kleinen Büchlein verhalten sich jedoch nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die Liebe selbst ganz typisch japanisch: Sie ist äußerst zurückhaltend und scheu. Die in Japan sehr bekannte Schriftstellerin Hiromi Kawakami hat mit Tsukiko eine Protagonistin geschaffen, die recht orientierungslos durch den Alltag stolpert und bei der im Roman konsumierten Menge an Bier und Sake wohl ein ernsthaftes Alkoholproblem hat. Sie ist oft wie ein Kind, weinerlich und unsicher. Der Sensei dagegen ist ein sehr ernster, lehrerhafter älterer Herr. Diese Konstellation ist ebenso merkwürdig wie zutiefst menschlich. Tsukikos Leben ist allerdings so leer, dass ich fast das Gefühl habe, ihr bleibt gar keine andere Wahl, als sich in den Sensei zu verlieben – weil sie sonst überhaupt niemanden hat. Die Beziehung der beiden entzieht sich jeder gängigen Definition: “Ich war entschlossen, nicht mehr darüber nachzugrübeln, was der Sensei für mich empfang. Nicht zu eng, nicht zu fern, wie ein Herr und eine Dame, eine stille, dauerhafte Beziehung, gekennzeichnet von Takt und Vertrauen.”

Schön an Der Himmel ist weiß, die Erde ist blau ist der enge Bezug zur japanischen Kultur, die Teil des Inhalts und zugleich Bedingung und Kulisse der Ereignisse ist. Es wird viel japanisches Essen beschrieben und verspeist, die japanische Dichtkunst hat ebenfalls ihren Platz, und die berühmte asiatische Zurückhaltung ist in jeder Geste spürbar. Mit einer klassischen Liebesgeschichte hat dieser Roman wenig zu tun, er ist poetisch, undurchdringlich und gleichzeitig ganz simpel, wie das Leben selbst. Hiromi Kawakami zeigt, dass die Liebe viele Gesichter hat. Auch ganz fremde.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Nette Unterhaltung vom Bestsellerautor
Stell dir vor, du wachst auf und 50 Tage deines Lebens sind aus deinem Gedächtnis verschwunden. So ergeht es dem Journalisten Fabio, der mit einer Kopfwunde im Krankenhaus liegt und nicht weiß, wie er dort gelandet ist. Schlimmer noch: Die attraktive Frau namens Marlen, die ihn täglich besucht und die seine Freundin sein soll, hat er noch nie gesehen. Warum ist er nicht mehr mit Norina zusammen, wieso will sie nicht einmal mit ihm reden? Hat er tatsächlich seinen Job gekündigt? Und was ist das für eine “große Sache”, an der er angeblich dran war? Fabio kann sich nicht erinnern und sucht mühevoll nach den abhanden gekommenen Puzzleteilen. Sein bester Freund Lucas will ihn, statt ihm zu helfen, davon abhalten. Mit gutem Grund: Als Fabio der Wahrheit immer näher kommt, wird es gefährlich …

Der Bestsellerautor Martin Suter produziert Bücher am laufenden Band. Bei ihm stehen nicht Sil und Sprache im Vordergrund, sondern die Geschichte. Der bekannte Schweizer Schriftsteller ist ein Erzähler, der sich nicht schert um holprige Formulierungen und Wortwiederholungen, die Worte scheinen ihm nur das nötige Handwerkszeug zu sein, um die Handlung voranzutreiben. So ist es auch in Ein fast perfekter Freund; und wenn man über manchen nicht gerade glanzvollen Satz hinwegsieht, kann man sich von diesem Roman gut unterhalten lassen. Die Dialoge sind pointiert und kraftvoll, die Schweizer Sprachfärbung sorgt für Authentizität. Eigentlich wollte ich nach Lila, Lila, von dem ich nur mäßig begeistert war, nicht unbedingt noch ein Buch von Martin Suter lesen. Doch als mir Ein perfekter Freund für wenig Geld in die Hände fiel, habe ich es doch mitgenommen – und ein paar kurzweilige Stunden damit verbracht. Mir gefällt die Idee hinter dem Buch: dass einer aufwacht und sich nicht erinnern kann, dass er zwei Monate seines Lebens rekonstruieren muss und dem Rätsel seines Unfalls auf die Spur kommen will. Das ist ebenso unterhaltsam wie spannend, auch wenn man als aufmerksamer Leser recht bald einen Verdacht hegt, was passiert sein könnte. Amüsant ist, wie Fabio nach und nach entdeckt, dass er vor seinem Gedächtnisverlust ein richtiges Arschloch war. Ein perfekter Freund punktet mit der Handlung und ist eine leichte Lektüre für zwischendurch.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Die pure Bosheit in ein Buch gegossen
Dahlia ist 29 Jahre alt und verbringt den Großteil ihrer Zeit damit, auf der Couch zu lümmeln, zu kiffen und fernzusehen. Eine richtige Ausbildung hat sie nicht, auch keinen Job, denn “was für eine Tätigkeit würde sie denn mal davon abhalten, sich jeden gottverdammten Tag die Kugel geben zu wollen?” Das Leben ist gemütlich, weil Vater Bruce es finanziert und niemand etwas von Dahlia verlangt. Doch dann ändert sich alles, und zwar so richtig: Dahlia bekommt die Diagnose Hirntumor. Sie hat Krebs, bösartigen Das-ist-dein-Ende-Krebs. Ihr steht ein “echter, langwieriger, grausiger, ungerechter, hässlicher Tod” bevor. Das macht Dahlia stinkwütend – und ihre verkorkste Familie sowie die vielen abgedroschenen Selbsthilfe-Floskeln sind ihr überhaupt keine Hilfe.

Hass ist eine wuchtige Keule, die doppelt zuschlägt: nach innen und nach außen. Dahlia trägt eine Menge Hass in sich, und im Lauf des Romans wird verständlich, warum: Von der exzentrischen Mutter Margalit im Stich gelassen, klammerte sich Dahlia als Kind voll blinder Liebe an ihren großen Bruder Dan, der sie so viele Jahre wie den letzten Dreck behandelte, dass Dahlias Gefühle irgendwann einfroren. Der nachgiebige, unselbstständige Vater Bruce konnte weder die Familie zusammenhalten noch die fallende Dahlia auffangen. Die logische Konsequenz: Alkohol, Drogen und allgemeine Orientierungslosigkeit. Dahlias Leben war eine Ansammlung von Enttäuschungen und Traumata. Ist es da etwa ihre Schuld, dass aus ihr nichts geworden ist? In einer beispiellosen Schimpftirade kotzt Dahlia sich aus über ihre Kindheit und Jugend, über die Ungerechtigkeit und den Verlust der Unschuld. Sie kann dabei so gehässig sein, wie sie will – sie ist ohnehin bald nicht mehr da.

Negatives Denken, so heißt es, macht krank. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass man nur positiv denken muss, um zu gesunden, und wir werden überschüttet mit Beispielen dafür, dass Menschen durch Selbstheilung den Krebs besiegt haben. Hat also Dahlia mit ihrer Wut den Tumor selbst gezüchtet? Ist es ihre Schuld, dass sie so jung sterben muss? Mit dieser Frage spielt Elisa Albert ganz geschickt in Das Buch Dahlia. Ihre Protagonistin darf böse, rotzig und schonungslos sein, sie bohrt in den eiternden Wunden der Vergangenheit und spuck einen Schwall Verachtung in die Welt. Das zu lesen, ist ebenso gewöhnungsbedürftig wie befreiend. Als Leser weiß man manchmal nicht, ob man überhaupt Mitleid haben soll mit Dahlia – oder sich einfach freuen soll, dass man selbst gesund ist. In jedem Fall gibt einem dieses krasse Buch zu denken, man möchte sich aufraffen und sofort die Zeit, die einem noch bleibt, besser nutzen. In einer brutal offenen, hasserfüllten Sprache schildert die Autorin, wie scheiße es ist, an Krebs zu sterben. Das Buch Dahlia ist wütend, stinkig, unschön und räumt auf mit den Denk-dich-gesund-Parolen. Man sollte gute Nerven mitbringen für diesen Roman, in dem die Traurigkeit hinter all dem Sarkasmus stets durchscheint. Wer dieses Buch gelesen hat, wird das Leben wieder mehr genießen. Weil er weiß: Life’s a bitch and then you die.

Das Buch Dahlia ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3423139496, 8,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das Leben ist ein Abenteuer
So war das nicht geplant: Als der junge Adrian aus Belgien in New York ankommt, ist er allein, ohne seine Eltern und seinen Zwillingsbruder Alexander. Er kennt niemanden in dieser großen Stadt, die schon im Jahr 1910 solche Ausmaße besitzt, dass ein Junge in ihr verloren gehen kann. Doch Adrian hat Glück: Nachdem man ihm seine letzten Habseligkeiten gestohlen hat, findet er einen Job in einer Hotelküche und einen Freund, den sympathischen Jack, der Adrian bei sich wohnen lässt. Doch bald stellt Adrian fest, dass seine Gefühle für Jack über reine Freundschaft hinausgehen – und das stürzt ihn in Hilflosigkeit und Verwirrung.

Eine Welt dazwischen erzählt von einem Jungen, der ohne Vorwarnung auf sich allein gestellt ist in einem Land, in das er gar nicht wollte, dessen Sprache er nicht beherrscht und wo er fast umkommt vor Einsamkeit. Adrian fühlt sich ohne seinen Zwillingsbruder Alexander wie ein halber Mensch, und er spart jeden Cent, um seinem Bruder irgendwann eine neue Schifffahrkarte kaufen zu können. Doch als er Jack kennenlernt, verschieben sich seine Prioritäten, er entdeckt schöne Seiten an der verhassten Stadt New York, er lernt Englisch, lebt sich ein und findet sich immer besser zurecht. Und dann entdeckt er ein Geheimnis in ihm selbst, das mit viel Gefühl und Zuneigung zu tun hat – er verliebt sich in Jack, und das schockiert ihn zutiefst, denn Homosexuelle haben zu jener Zeit keinen guten Stand, gleichgeschlechtliche Liebe ist per Gesetz verboten. Scham und Angst machen Adrian schwer zu schaffen – und wie er lernt, damit umzugehen, schildert Aline Sax auf eindringliche und einfühlsame Weise.

Aline Sax hat das Thema Homosexualität und Coming-out in einen ungewöhnlichen Rahmen gestellt: New York im Jahr 1910, Ziel Abertausender Immigranten, ein wahrer Meltingpot an Nationaliäten und Weltanschauungen. Ich finde sowohl die Themenwahl als auch diese Kombination mit einer klassischen Einwanderergeschichte sehr interessant und originell. Ihr Held Adrian ist ein schüchterner, ratloser junger Mann, der von einem Tag auf den anderen erwachsen werden und eine Antwort auf die Frage finden muss, wie er leben will. Dass Eine Welt dazwischen ein Jugendbuch ist, wusste ich zu Beginn nicht, und man merkt es auch nur, wenn man aufmerksam darauf achtet. Mit anderen Worten: Dies ist ein sehr erwachsenes, kluges Jugendbuch, das die Herausforderung schildert, mit dem eigenen Anderssein klarzukommen und mutig zu sein. Ein gut erzähltes Einzelschicksal, das Einblick gibt in die Gefühlswelt eines homosexuellen Jugendlichen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Wenn die Fremde zur Heimat wird
Es gefällt ihnen schon seit Jahren sehr gut in Sent im Unterengadin: Angelika, ihr Mann und die Kinder machen dort regelmäßig Skiurlaub. Doch dann taucht plötzlich die Idee auf, die Zelte in Deutschland abzubrechen und in das kleine Dorf zu übersiedeln. Gemeinsam mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn zieht Angelika nach Sent, die beiden älteren Kinder bleiben im Heimatland und studieren dort. Wie nun sich einrichten in den Bergen, wie einen Platz finden unter den Einheimischen, die ein festes Gefüge sind, nicht zuletzt wegen der fremden rätoromanischen Sprache? Davon berichtet die Schriftstellerin in einer Art Tagebuch über die Zeitspanne von einem Jahr. Sie sucht nach einer Möglichkeit, heimisch zu werden an einem Ort, den sie bereits kennt – aber nur als Besucherin. Und es ist schön, ihr dabei zuzusehen, wie es ihr immer mehr gelingt, einen Zugang zu finden zu dem Land und zu den Leuten.

“Das Romanische ist ein unsichtbares Sprachschild des Dorfes. Eine hauchfeine Grenze gegen die Touristen, aber auch gegen die Zuwanderer. Es ist wie im Märchen. Du mußt das Wort kennen, wenn du den Felsen öffnen willst.” Während ihr Sohn und ihr Mann sich die Sprache recht schnell aneignen, setzt Angelika Overath sich ganz bewusst damit auseinander, macht sich Gedanken um Wortbedeutungen und beginnt, Gedichte auf Rätoromanisch zu schreiben. Die Sprache macht diesen Teil der Schweiz, das Unterengadin, zu etwas Besonderem, und die Einheimischen sind sich dessen bewusst. Das Romanische zeichnet Sent genauso aus wie der Schnee, der zu allen Jahreszeiten und in verschiedenen Formen eine Rolle spielt, der das Landschaftsbild dominiert und die Touristen anlockt. Angelika Overath ist eine Außenstehende, die aber freundlich aufgenommen wird. Es scheint, als rückten die Dorfbewohner ein wenig zusammen, um Platz zu machen für die neue Familie.

Bücher wie Alle Farben des Schnees sind ausgesprochen selten auf meiner Leseliste zu finden, denn bei autobiografischen Berichten langweile ich mich schnell. Doch Angelika Overath gelingt es, mich mit feinsinnigen Beobachtungen für eine mir völlig unbekannte Region zu begeistern: “Mit dem Hund gehen. Nasse Wiesen. Ein Rot beginnt aufzusteigen. Submarine Höhe. Wir laufen wie auf einem Riff, Wicken, als wogten sie unter Wasser, Fluten der Gräser. Über dem Tal ziehen Nebelschwaden die Bergrücken entlang. Die Gipfel sind weiß.” Der persönliche Bezug, der mein Interesse weckt, ist auch schnell gefunden: Ich bin selbst in einem Bergdorf aufgewachsen, in dem die Tage ohne Schnee gezählt sind, und auch wenn mein Dialekt nicht mit dem Rätoromanischen vergleichbar ist, so kenne ich doch diese Auseinanderdividierung in jene, die ihn beherrschen, und jene, die fremd sind. Zudem macht es mir beim Lesen Spaß, ein wenig über das Romanische zu rätseln und zu versuchen, es auf Basis meiner Italienischkenntnisse zu knacken. Was natürlich überhaupt nicht gelingt.

Angelika Overath hat sich geöffnet für dieses Buch und zeigt, dass es durchaus möglich ist, den Ferienort zur Heimat zu machen. Alle Farben des Schnees ist so ruhig wie gleichmäßiger Atem, ein ungewöhnliches, seltsam positives Buch, das Einblick gibt in Geschichte und Kultur einer abgeschiedenen Gegend, in der die Menschen Brauchtum aufrechterhalten und ihre Besonderheit kultivieren. Sehr lesenswert!

Alle Farben des Schnees ist erschienen im Luchterhand Verlag (ISBN 978-3-630-87340-4, 18,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Der Tod ist tot!
Die Salzburger Festspiele gehen in die nächste Runde – und zwar mit einem handfesten Skandal: Auf der Jedermann-Bühne vor dem wuchtigen Dom liegt ein erdolchter Toter. Es ist niemand anderes als der Tod selbst, gespielt von Hans Dieter Hackner. Kommissar Martin Merana macht fortan nicht nur die sommerliche Hitze zu schaffen, die schwül über Salzburg liegt, sondern auch die Heimlichtuerei der Schauspieler und PR-Menschen, die Sensationsgeilheit der Medien und das Rätsel um diesen theatralischen Mord. Gemeinsam mit seinen Kollegen wühlt er sich hinein in die Hintergründe der Festspiele und in so manches private Drama hinter den Kulissen.

Herrlich böse und sarkastisch geht der Salzburger ORF-Journalist Manfred Baumann mit seiner Stadt ins Gericht: “An Toten haben die Salzburger Aasgeier wenig Interesse. Tote geben nichts her. Kaufen keine Souvenirs. Essen keine Pommes frites. Zahlen keinen Eintritt. Tote interessieren die Salzburger Aasgeier nur, wenn sie so berühmt sind, dass man ihr Bild auf Marzipankugeln und Likörflaschen kleben kann.” Und aus genau diesem Grund amüsiere ich mich mit diesem Krimi, obwohl ich sonst einen großen Bogen um Krimis mache: Selbst Salzburgerin, macht es mir Spaß, ein Buch zu lesen, das dort spielt, wo ich mich auskenne, wo ich lebe und mir meine Meinung bilde. Aber auch für Nicht-Österreicher dürfte dieser spannende Roman mit der würzigen Prise Lokalkolorit interessant sein, schließlich sind die Festspiele ein international bekanntes Spektakel.

Die Ausgangsidee, ausgerechnet den Tod tot auf die Jedermann-Bühne zu legen, finde ich genial. Jedermanntod ist ein klassischer Whodunnit in alter Agatha-Christie-Manier: Jede Menge Verdächtige, jede Menge Motive, aber nur einer war’s. Der Lösung kann man auf die Schliche kommen, sie ist aber nicht allzu offensichtlich – die perfekte Mixtur. Auch die österreichische Sprache gibt dem Buch eine interessante und originelle Färbung. Mit Kommissar Merana hat Manfred Baumann einen sympathischen Schnüffler geschaffen, der sich mit Sicherheit noch durch einen Fortsetzungen rätseln wird. Dieser Roman ist wie ein Tatort zum Lesen: spannend, unterhaltsam und mit einem schlüssigen Ende – genau wie ein Krimi sein muss. Außerdem, das muss ich noch hinzufügen, ist das Cover sehr gelungen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine Frau im Schatten eines toten Mannes
“Natürlich führte sie, Alexandra, nicht das Leben, das sie hatte führen wollen, sie führte ihr Leben gar nicht.” Im Jahr 2001 lebt Alexandra mit ihren Kindern Wanda und Rafi in einer Berliner Wohnung und sieht den Tagen beim Vergehen zu. Sie war einst eine mäßig erfolgreiche Sängerin, liiert mit dem Popstar aus gutem Hause Falk Margraf, der sich mit der Band “Eckstein” einen Namen gemacht hatte. “Eckstein war eine relativ erfolgreiche deutsche Popgruppe gewesen, deren Lieder wie Träume geklungen hatten.” Ein Mann von Welt, dieser Falk, der sein Umfeld für sich einnimnmt: “Falk dagegen nahm alles ohne zu fragen, niemand machte ihm etwas streitig, und wenn er auf einem engen Bürgersteig ging, wichen andere ihm aus.” Sehr zum Missfallen seiner Schwester Isolde kümmert Falk sich finanziell um Alex, doch noch bevor Wanda geboren wird, stirbt Falk im Jahr 1993. Und Alexandra kämpft – gegen die Trauer und um Falks Erbe.

Mit Die Stille nach dem Gesang hat Katharina Döbler einen Roman geschrieben, der seinem Titel gerecht wird: Ruhig ist er und er berichtet von der Zeit nach den eigentlichen Ereignissen, als alles bereits vorbei ist. Niemand singt mehr. Die Handlung springt zwischen 1993 und 2001 hin und her, und obwohl Alexandra mehr zu Wort kommt, steht Falk im Mittelpunkt, auch nach seinem Tod. Dies ist ein Buch über Verlust, über den Lauf der Zeit und jene, die zurückbleiben. Ob die Beziehung zwischen Alexandra und Falk eine große Liebe war, sei dahingestellt, aber zumindest hat er ihr viel bedeutet: “Sie hatte sich doch nur treiben lassen, bis sie bei Falk gelandet war. Da war Land gewesen, bei ihm, zum ersten Mal in ihrem Leben.”

In einem sehr unaufgeregten Stil erzählt Katharina Döbler von einer Frau, die auf der Stelle tritt, die sich nicht lösen kann und will von der Vergangenheit. Sprachlich ist Die Stille nach dem Gesang ausgezeichnet, inhaltlich ist es ein wenig lau, weil ein Höhepunkt fehlt, weil die Erzählung sich nicht mit dem Hauptthema direkt – Falks Tod – auseinandersetzt, sondern mit den Stunden davor und den Jahren danach. Ich mag jedoch die beschreibungsverliebte Sprache, die melancholische Stimmung und das Herumschleichen in diesem Roman, der Berlin und Madrid zum Leben erweckt und nebenbei eine alteingesessene Familie skizziert, von deren Glanz nichts mehr übrig ist, die sich aber immer noch viel darauf einbildet. Alles in allem ein ernstes, nachdenkliches, stimmiges Buch.

Die Stille nach dem Gesang ist erschienen im Galiani Verlag (ISBN 978-3869710211, 18,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ach, wie schön die Vorstadt ist!
Sarah und Todd leben ein amerikanisches Klischee: Beide sind verheiratet – allerdings nicht miteinander – und haben ein dreijähriges Kind, beide sind mehr oder weniger unglücklich, fühlen sich gefangen und sehnen sich nach ein wenig Abwechslung in ihrem spießig-eintönigen Dasein. Todd steht kurz davor, zum dritten Mal zur Anwaltsprüfung anzutreten und erneut zu scheitern, Sarah war als Studentin Feministin und kämpft nun mit den Herausforderungen eines Tages auf dem Spielplatz. Kein Wunder also, dass sie eine Affäre miteinander beginnen, als sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet. Es ist ein heißer Sommer, und unter den Moralaposteln der Vorstadt brodelt es: Ein verurteilter Kinderschänder ist in die Gegend gezogen, und die Nachbarschaftswache schreckt vor nichts zurück, um ihn zu vertreiben …

Little Children ist ein sehr filmisches Buch: Einerseits erinnert es inhaltlich stark an typische amerikanische Serien wie “Desperate Housewives”, die in amerikanischen Vorstädten mit identischen Häusern und sauberen Straßen spielen, andererseits ist es sehr bildlich geschrieben und wie ein Film strukturiert, den man beim Lesen automatisch vor Augen hat. Vielleicht entsteht dieser Eindruck bei mir aber auch, weil ich weiß, dass der Roman 2006 mit Kate Winslet verfilmt wurde, ohne dass ich diesen Film jedoch gesehen hätte. In jedem Fall stellt Tom Perrotta auf der zynische und überspitzte Weise das amerikanische Vorstadtleben dar, das nach außen hin glänzt und innen fault. Hinter verschlossenen Türen spielen sich die eigentlichen Dramen ab, und mit der vorgespielten Moral ist es dann nicht weit her. Ehebruch und Lieblosigkeit, Selbstjustiz und Intoleranz: In Little Children tut sich ein wahres Wespennest auf. Die Perspektive wechselt zwischen Sarah und Todd, auch Sarahs Mann und der Ex-Polizist Larry, der dem Pädophilen das Leben zur Hölle macht, kommen zu Wort. Für mich als Europäerin ist vieles, das in diesem Roman eine Rolle spielt, befremdlich, vor allem die rigide Einstellung der zugeknöpften Hausfrauen. Umso interessanter ist dieses Buch, das mit einigen schönen Spitzen aufwartet und generell das Prädikat “okay” verdient.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Haus, neun Bewohner und ein Mord
Ein junges Pärchen zieht zusammen in ein Haus, das sich vor allem durch die ungünstige Lage direkt an einer Hauptstraße und über einer U-Bahn auszeichnet, durch den kleinen Garten – und durch seine Bewohner. Da gibt es den zurückhaltenden Cellisten Jeff, die Kinderärztin Conny mit der schrillen Stimme, die dauernd Schneckenhäuser malt, drei Studenten, die niemand je zu Gesicht bekommt, und Gerd und Agnes. “Alle, alle mochten Agnes”, und der Ich-Erzählerin geht es nicht anders, sie besucht Agnes in ihrer mit Grün zugewucherten Wohnung, staunt über ihre Güte und Ruhe, trinkt Kaffee, versucht sie aus der Reserve zu locken, schafft es aber nie. Und dann, neun Monate später, ist Silvester – und Agnes ist tot.

Ohren haben keine Lider ist ein einfacher Unterhaltungsroman, der dem Leser ein paar vergnügliche Stunden schenkt. Zwar ist dieses Buch nicht unbedingt heiter, aber es erzählt auf nicht hochtreibende Weise von einem Haus, einer absoluten Bruchbude, von seinen verschiedenen Bewohnern, von einer jungen Beziehung und von einem rätselhaften Todesfall, der allerdings erst ganz zum Schluss in den Mittelpunkt rückt. Dann wechselt nämlich die Perspektive, die Ich-Erzählerin wird von außen abgebildet und man erfährt, wie es ihr in den 15 Jahren nach Agnes’ Tod so ergeht im Leben. Das ist einerseits spannend und originell, andererseits ein wenig abgehackt. Was den Mord betrifft, so darf man sich über seine Auflösung nicht zu viel erwarten, denn ein Krimi ist dieses Buch nicht.

Vielmehr besticht es durch seinen angenehmen Lesefluss, der weder verstört noch aufschreckt, die Ereignisse sind wie an einer Schnur ausgebreitet, die Personen als erkennbare Charaktere gezeichnet. Ein wenig irritierend ist, dass die Ich-Erzählerin und ihr Freund so dermaßen planlos in den Tag hineinleben, dass einem beim Zuschauen schon langweilig wird – sie tun nichts, haben gerade die Matura hinter sich gebracht, leben mit Toastbrot und Wasser von ihren Ersparnissen und warten den ganzen Tag zuhause darauf, dass ihr Leben beginnt. Kein Wunder, dass sie sich dabei so sehr für ihre Mitbewohner zu interessieren beginnen. Wer mit wem und warum? In diesem Buch geht es um kleine Spielchen und große Langeweile, es hinterlässt keinen bleibenden Eindruck und ist ein netter Freizeitroman für zwischendurch.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vom Fremdsein
Lillian hat schon lange darüber nachgedacht, zu fliehen: Seit 15 Jahren lebt sie mit ihrem Mann Joseph in Österreich, doch sie stammt aus den USA und ist nie heimisch geworden in den Tiroler Bergen, in der Kultur, die nicht die ihre ist, in der kantigen Sprache. Zwei Kinder hat sie bekommen mit Joseph, doch sie konnte und durfte ihnen nichts von ihr selbst geben, nicht die Reime und Lieder ihrer eigenen Kindheit, sie fühlt sich ihnen nicht verbunden, man hat sie ihr weggenommen, so scheint es ihr. Es hält sie nichts in Tirol, und sie spart seit 10 Jahren für ihren Aufbruch, aber gegangen wäre sie wohl nie, hätte sie nicht den jungen Sänger Alan aus Amerika kennengelernt, in den sie sich verliebt und zu dem sie schlussendlich ziehen will. Mit großen Erwartungen fliegt sie zurück in ihre Heimat – doch die hat sich ebenso verändert wie Lillian selbst, und das Problem mit Illusionen ist ja bekanntlich, dass sie an der Realität zerschellen wie Muschelschalen.

In fremden Städten ist ein psychologisch ausgefeilter Roman der österreichischen Autorin Anna Mitgutsch, die seit vielen Jahren mit ihrem literarischen Können aufmerken lässt. Mit ihrer Protagonistin Lillian hat sie eine entwurzelte Frau geschaffen, die sich fremd und ungesehen fühlt, die sich nicht integrieren kann und will in die österreichische Kultur, an der sie viel auszusetzen hat. Sie ist überzeugt davon, dass es an den Menschen liegt, am Ort, dass sie nicht glücklich ist – und muss sich letztlich doch der Erkenntnis beugen, dass sie ob ihrer Ruhelosigkeit wohl nirgends glücklich geworden wäre. Sie ist ein introvertierter Mensch und lässt den Leser teilhaben an ihren Gefühlen, an ihrer Hoffnung und ihrer Sehnsucht, eine Schriftstellerin zu sein, und gleichzeitig ist sie überraschend blind für die Gründe ihres Scheiterns. Dieser Roman ist wie ein innerer Monolog, eine Gedankensammlung zum Thema Fremdsein und Sprache.

In fremden Städten ist ein interessanter, kluger Roman über Wurzeln und Heimat, über Integration, Egoismus und Illusionen. Die zahlreichen geradlinigen Formulierungen sind eine Bereicherung: “Er entzog sich, indem er in zwei Sprachen schwieg”, heißt es beispielsweise über Lillians Sohn, oder: “Erst als er fort war, fand sie seine Beteuerungen und Versprechen wie vergessene Gegenstände, die einem nichts mehr bedeuten, über die ganze Stadt verstreut, banale Sätze, bei Vernunft betrachtet, zu peinlich, um sie sich zu wiederholen” über Alan. Lillian ist nicht unbedingt sympathisch, ich empfinde sie vielmehr als naiv. Nicht ganz zufrieden bin ich mit dem Ende, das den Leser ein bisschen in der Luft hängen lässt – ansonsten aber ein außergewöhnlicher und beeindruckender Roman.