Gut und sättigend: 3 Sterne

Über die Moral und ihre krummen Beine
In seinem Erstling Verbrechen berichtete der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach in kurzen, prägnanten Geschichten von Fällen aus seinem Berufsleben. Nun soll der vielgelobte Bestseller verfilmt werden (und ich frage mich: wie?), und mit Schuld ist 2010 der Nachfolger erschienen. Ferdinand von Schirach setzt auf das bewährte Rezept, Fakten mit Fiktion zu vermengen und glaubhafte, schaurige kleine Berichte zu basteln. Er hat tagtäglich mit den Grausamkeiten zu tun, von denen er erzählt, und gibt dem Leser interessante Einblicke in die Tücken und Schlupflöcher unseres Rechtssystems. Die Stärke dieses Autors sind seine klugen Schilderungen, die punktgenauen Formulierungen, er ist kein Mann der vielen Worte und gebraucht nur genau so viel Fantasie wie nötig. Obwohl vieles im Detail dazuerfunden ist, glaubt man Ferdinand von Schirach, dass sich jede Geschichte genau so abgespielt hat wie von ihm beschrieben. Schuld befriedigt die voyeuristische Gier von uns Menschen nach Klatsch und Grusel gleichzeitig. Die Fälle in diesem Buch sind ebenso furchtbar wie unterhaltsam, der Ton ist ironisch, spöttisch, aber im rechten Moment sehr ernst. Schuld und Strafe stehen im Fokus, manche kommen ungeschoren davon, andere tragen die Konsequenzen ihres Tuns – und es ist interessant zu lesen, was weshalb geschieht. Gut gemacht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr unpersönliches, fast schon groteskes Cover.
… fürs Hirn: Als Lektorin kann ich nicht umhin, darauf hinzuweisen, weil es in fast jeder Geschichte vorkommt: Das Wort Mädchen hat ein sächliches Geschlecht. Sätze wie “Das Mädchen sah zu den Jungs, während sie zwischen den Beinen ihrer Mutter stand” sind grammatikalisch falsch!
… fürs Herz: das Mitgefühl mit den Opfern.
… fürs Gedächtnis: die Geschichte über die Vergewaltigung.

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Ein Gesicht ist nichts Konkretes, sondern eine Geschichte, die sich in Gegenwart anderer Menschen entfaltet”
Hat Gregors Mutter ihr eigenes Kind im Krieg verloren und stattdessen ihn großgezogen? Ist er ein jüdisches Waisenkind? Das fragt sich der Musiker nun schon sein halbes Leben. Fremd hat er sich gefühlt in seinem Elternhaus, und die Geschichte, die ihm ein Onkel auftischte, kam ihm gerade recht, um sich von Vater und Mutter loszusagen. Die Frage ist nur, wer die Wahrheit spricht. Verzweifelt suchte Gregor jahrelang nach einem Beweis für seine jüdische Herkunft – und entfremdete sich durch seine Besessenheit von seiner großen Liebe Mara. Er verließ sie und den gemeinsamen Sohn Daniel, der inzwischen längst erwachsen ist, eine besondere Bindung blieb jedoch immer bestehen. Nun treffen sich Gregor, Mara, Daniel, dessen Freundin Juli und viele weitere Freunde zum Apfelpflücken auf einem Bauernhof. Es ist ein lauer Herbst, die Früchte duften – und auf den Tisch kommt neben der Ernte auch alles, was die vielen Jahre über ungesagt blieb.

In Legenden wechselt der irische Schriftsteller Hugo Hamilton zwischen Gegenwart und Vergangenheit, in Rückblenden berichtet er davon, was zwischen Gregor und den wichtigsten Menschen in seinem Leben vorgefallen ist. Gregor ist dabei, alt zu werden, doch es liegt keine Bitterkeit auf ihm oder Mara. Auch Gregors Mutter und sein Großvater Emil, selbst ein beliebter Musiker und außerdem Schwarzmarkthändler, bekommen eine eigene Perspektive. Da die beiden bereits im ersten Kapitel einen Auftritt haben, weiß der Leser mehr als Gregor selbst – er kann also nicht mit Gregor über dessen Herkunft rätseln, sondern kennt die Wahrheit schon. Das mag einerseits die Spannung zerstören, gibt dem Roman aber andererseits die Möglichkeit, sich auf andere Aspekte einer so lebensfüllenden Suche wie Gregors zu konzentrieren: auf das innere Ungleichgewicht, die Rastlosigkeit, die Unfähigkeit, loszulassen. Kein herausragendes, aber ein angenehmes Buch über einen Mann, seine allererste Erinnerung und ihre wahre Bedeutung.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
immerhin ist ein Apfel auf dem Cover, der Sommerfeeling vermittelt.
… fürs Hirn: der Zweite Weltkrieg als Hintergrundfarbe der Ereignisse.
… fürs Herz: wie Mara und Daniel an Gregor festhalten.
… fürs Gedächtnis: der Duft von Apfelbäumen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Bis dass der Tod euch scheidet
Paul und Skarlet sind seit der Kindergartenzeit Freunde: Beiden hat es Tante Edeltraud nicht leicht gemacht, Skarlet wegen der ungewöhnlichen Schreibweise ihres Namens, Jean-Paul wegen der Un-DDR-Haftigkeit des seinen. Es gelingt ihnen das Kunststück, über all die Jahre nicht den Kontakt zueinander zu verlieren; sie erleben den Fall der Mauer, sie studieren in Leipzig, Paul heiratet und wird Vater. Nun ist Skarlet 40. Und Paul ist tot.

Alle sterben, auch die Löffelstöre erzählt die Geschichte einer engen Freundschaft, die der Tod beendet. Viel zu früh stirbt Paul – und Skarlet muss einen Weg finden, mit ihrer Trauer umzugehen. Sie lässt die Zeit mit Paul, dem Zauberer, dem verrückten, leichtfüßigen Lebemann, Revue passieren, erinnert sich, wie er sie im Kindergarten vor dem ekligen Glas Milch mit Haut rettete, an die gemeinsame Schulzeit, an Pauls Makel wegen seiner Makellosigkeit. Paul war stets fröhlich und liebte Geschichten: “Paul hatte bei einer Feier einmal behauptet, er könne Wodka in Wasser verwandeln. Er hatte die Gläser vollgegossen, Simsalabim. Sie hatten getrunken, und Paul hatte sich geschüttelt und gesagt: Versuch mißlungen!” Wie soll Skarlet diesen Verlust verkraften? Sie findet keinen Halt, sie ist geschieden, ihre erwachsene Tochter ist im Ausland, der Job im Zoo macht ihr keinen Spaß, er ist einfach an ihr haften geblieben wie ein nasses Blatt. Sie sucht nach den richtigen Worten, um Paul und seine Freundschaft, die nie infrage gestellt wurde, in einer Grabrede zu ehren. Paul war ein stiller Revoluzzer, der stets wusste, was er wollte, und als er endlich das Glück fand, erkrankte er.

Kathrin Aehnlichs Buch über das Abschiednehmen ist nicht pathetisch, auch nicht übermäßig schwermütig – und doch ist von vornherein klar, dass es hier um Traurigkeit und Trauer gehen wird, dass ein jedes Lächeln nur eines unter Tränen sein kann. Darauf muss man sich als Leser bewusst einstellen. Bücher können ganz klar Stimmungen auslösen und steuern – Heiterkeit ist in Alle sterben, auch die Löffelstöre eher fehl am Platz. Zwar funkelt dieser Roman sprachlich nicht gerade, der Stil ist aber solide, gut lesbar, die Sätze klar und klangvoll. Insgesamt ein nachdenkliche, zärtliches Buch, das mit einem Schlusssatz überrascht, der zu den besten gehört, die ich je gelesen habe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein metaphorisch bildliches Cover, bedeckter Himmel, ein Weg, der ins Nirgendwo führt.
… fürs Hirn: das Nacherleben von DDR und Mauerfall.
… fürs Herz: das Wissen, dass wahre Freundschaft so wertvoll ist wie Liebe.
… fürs Gedächtnis: der wunderbare Schlusssatz (nicht vorher lesen!).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Ich will endlich anfangen, mein Leben zu leben” …
… so lautet der Vorsatz von Mead, Ex-Genie und Sohn eines Bestatters aus der Kleinstadt. Bisher war sein Leben nämlich in hohem Maße fremdbestimmt, vor allem von Meads ambitionierter Mutter, dem “sechsbeinigen Monster”. Sie wollte stets etwas Besseres für Mead, der eigentlich Theodore heißt, als eine Zukunft im Möbelladen und Bestattungsinstitut von Vater und Onkel. Während seiner gesamten Kindheit und Jugend war Mead daher der typische gemobbte Außenseiter, neben dem in der Cafeteria niemand sitzen wollte, der Insekten in seinem Mittagessen fand und von den Klassenrüpeln bedroht wurde. Nur sein Cousin Percy – körperlich kräftig, baseballbegabt und nicht an guten Noten interessiert – stärkte ihm den Rücken. Mit gerade einmal 15 Jahren schafft Mead es an die Universität von Chicago, wo er ein Mathematikstudium beginnt und sich eingehend mit der Riemann’schen Vermutung beschäftigt, was ihm weltweiten Ruhm einbringen könnte. Doch wenige Tage vor seiner Abschlussprüfung und seinem Vortrag vor renommierten Mathematikern schmeißt Mead alles hin, kehrt nach hause zurück, will bei seinem Vater arbeiten und von der Mathematik nichts mehr wissen. Und alle fragen sich: Was ist geschehen?

Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit ist für den 18-jährigen Mead besonders groß. Seine Klugheit und seine Strebsamkeit machen ihn einsam – und das Leben der anderen, die es gemütlich haben in ihrer Mittelmäßigkeit, erscheint ihm überaus attraktiv. Seine Entscheidung löst bei seinen Eltern und Lehrern Entsetzen aus – zumal Mead sie im Unklaren über die Vorfälle lässt, die ihn dazu gebracht haben, seine große Leidenschaft, die Mathematik, aufzugeben. Erst nach und nach kommt ans Licht, dass der naive Mead aus dem Kaff, der noch nie einen Freund hatte, den falschen Leuten vertraut hat.

Melissa Jacoby hat biografische Teile ihrer eigenen Familiengeschichte in diesen Roman einfließen lassen: Ihr Großvater war Bestatter, ihr Vater ein mathematisches Genie. Meads Erfolge beruhen zwar in meinen Augen mehr auf Fleiß als auf Genialität, die lästigen Neider hat der junge Mann aber sowieso. Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit handelt von Andersartigkeit und Einsamkeit, von Verlust und Trauer, vom Wunsch eines Jugendlichen, den richtigen Lebensweg zu finden. Mead muss stets den hohen Erwartungen der anderen gerecht werden und lernt dabei nicht, auf seine innere Stimme zu hören – bis ihm die eigenen Illusionen plötzlich zerbröseln und er hart auf den Boden der Realität aufschlägt. Er flieht, um sich über seine nächsten Schritte klarzuwerden, und der Leser erfährt in Rückblenden, was den jungen Mathematiker derart aus der Bahn geworfen hat. Melissa Jacoby hat einen leichtfüßig-amüsanten, ereignisreichen Roman mit einem liebenswerten Helden geschrieben. Etwas irritiert bin ich von den Passagen, in denen Mead Gespräche mit Menschen halluziniert, die gar nicht anwesend sind; hier schießt die Autorin meiner Meinung nach ein bisschen übers Ziel hinaus. Davon sollte man sich aber nicht abschrecken lassen, denn insgesamt ist Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit ein lesenswertes Stück Unterhaltungsliteratur, mit einem klassisch amerikanischen Touch über die Moral von Freundschaften und allerhand Einblicken in die Seele eines begabten Teenagers ausgestattet. Gut!

Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit ist erschienen bei Droemer (ISBN 978-3-426-19902-2, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Die Sprache wird nicht schön, wenn der Schreiber ein schmutziges Leben führt”
“Zu guter Letzt wurde ich also Mörder. Doch das wurde ich auf die Art, auf welche sicherlich die meisten es werden. Mehr oder weniger unabsichtlich. Eine Handlung an der Grenze zum Nichtzustandekommen. Sie könnte ebenso gut gar nicht ausgelöst worden sein. Ich weiß nicht einmal, ob das, was geschah, wert ist, Mord genannt zu werden.” Rachsüchtig ist der Mensch, neidisch, niederträchtig, um nicht zu sagen böse. Da verwundert es nicht, dass er stets nach Möglichkeiten trachtet, andere aus dem Weg zu räumen. Möglichkeiten, die keinen Verdacht erregen. Und wer wohl könnte einen perfekteren Mord begehen als ein Arzt? Wir schreiben das Jahr 1919 und der Stockholmer Arzt Pontus Revinge legt eine Lebensbeichte ab. Er hatte einst eine solch ersehnte Möglichkeit gefunden, einen Menschen unbemerkt zu töten – und sie dem Schriftsteller Hjalmar Söderberg verraten, der sich davon zu seinem Roman Tyko Glas inspirieren ließ. Wie nebenbei hat Pontus Revinge seine vermeintlich nicht nachweisbare Mordmethode aber auch selbst angewendet: “Ich schlug zu, wie man mit einem Besenstiele auf eine Ratte einschlägt, sobald sie ihre Nase hinter dem Mülleimer vorreckt.” Durch den verübten Mord hat Pontus sich eine Praxis, eine Ehefrau und die Nähe zur süßen minderjährigen Frida erschlichen. Ein schlechtes Gewissen hat er nicht. Und doch verfolgt ihn die Tat ein Leben lang …

Den schwedischen Autor Hjalmar Söderberg und seinen zu Lebzeiten des Schriftstellers skandalösen Roman Tyko Glas gibt es wirklich. Kerstin Ekman – ihres Zeichens preisgekrönte Autorin – hat darauf aufbauend eine Geschichte gewebt, die eine vermeintliche Inspirationsquelle für Hjalmar Söderberg erfindet: einen Arzt, der jemanden tötet, der ihm vertraut. Schockierend, heimtückisch, angsteinflößend: Ärzte haben es nur allzu oft in der Hand, ob ein Leben weitergeht – oder endet. Das ist der Stoff für Alpträume und gute Bücher. Denn Kerstin Ekman hat mit Pontus Revinge einen eingebildeten, antiquierten, herrischen Protagonisten kreiert, der bei aller vermeintlichen Gleichgültigkeit doch von Minderwertigkeitsgefühlen und fast schon pädophilen Neigungen gequält wird. Ich habe Kerstin Ekman vor vielen Jahren – mit den 1998 und 2001 wiederaufgelegten Romanen Stadt aus Licht und Geschehnisse am Wasser – als eine Schriftstellerin kennengelernt, die sich auf düstere Stimmungen und die Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen versteht. Das stellt sie auch in Tagebuch eines Mörders unter Beweis. Sprachlich hat sie sich angepasst an die Umstände und Ausdrucksweisen des beginnenden 20. Jahrhunderts, der Ton ist bewusst geziert und aufgesetzt gehalten. Dadurch, dass das Buch aus Tagebuchaufzeichnungen von Pontus besteht, ergibt sich logischerweise eine recht eindimensionale Sichtweise, was die Autorin jedoch durch lebhafte Schilderungen so weit entschärft, dass das Buch nicht langweilig wird. Einen erhobenen moralischen Zeigefinger muss man nicht befürchten, die Frage nach der Schuld von Pontus Revinge kann und soll nicht eindeutig beantwortet werden. Darüber nachdenken darf aber jeder. Gelungen!

Tagebuch eines Mörders ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3492054270, 17,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein tschechisches Geschichtenkarussell
„Ich bin gekommen, weil ich weiß, dass Sie hier in Prag allein sind, der Kommunismus ist vorbei und Yaromir ist tot. Jahrelang haben wir still und über riesige Entfernungen miteinander gekämpft, nie haben wir uns gesehen, und jetzt habe ich genug davon. Ich habe mir gesagt: Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein, wo er uns doch beide geliebt hat.“ Dabei wirken sie auf den ersten Blick grundverschieden: die „ätherisch-ruhige Maruška“ und Luiza, der „kleine Kernreaktor, ein unerschöpfliches Energiereservoir“. Was sie über Kontinente hinweg verbunden hat, war ein Mann: Yaromir. Maruškas Jugendliebe floh vor dem Krieg aus Prag und heiratete in Brasilien Luiza. Mit Maruška hielt er über all die Jahre brieflich Kontakt, und Luiza konnte das nur schwer akzeptieren: „Ich wusste, dass mich Yaromir nicht verlassen würde, und doch entwischte er mir irgendwohin in ein Reich aus eigenen Erinnerungen, der Realität seiner Heimat und Maruškas immateriellem, papierenem Zauber.“ Nun sind beide im hohen Alter, und Luiza steht eines Tages vor Maruškas Tür. Die Sprachbarriere überwinden die betagten Damen mithilfe von Marta und Lena – beide in Brasilien aufgewachsen, beide mit tschechischen Wurzeln –, die in Prag ihrem Lebensglück auf die Spur kommen wollen.

In Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein führt der Zufall vier Frauen zusammen – zwei davon haben ihr Leben bereits hinter sich, zwei sind noch jung. Ihre Familiengeschichten sind geprägt von der Auswanderung bzw. Flucht vieler Tschechen nach Brasilien im Zuge des Zweiten Weltkriegs. Dreh- und Angelpunkt im Leben von Maruška und Luiza ist der geheimnisvolle, charismatische Yaromir, den die tschechische Autorin Markéta Pilátová ebenfalls zu Wort kommen lässt. Aufgrund der vielen verschiedenen Perspektiven – insgesamt sind es fünf – ist es anfangs ein wenig schwierig, in den Roman hineinzufinden. Ist diese Hürde jedoch überwunden, entwickelt sich Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein zu einer runden Sache: gut geschrieben, voller unterschiedlicher Charaktere, gewürzt mit dem Zauber bedeutungsvoller Begegnungen. Dieses Buch handelt von der persönlichen Suche eines jeden nach der eigenen Heimat, es beschäftigt sich mit der Frage, wo – an welchem Ort, in welchem Land – ein Leben am besten gelebt werden und wo es enden soll. Jede der vier Frauen findet darauf eine andere Antwort. Markéta Pilátová, die selbst in Südamerika lebt, schreibt unpathetisch, gelassen, fast ein wenig flapsig. Sie zeigt auf, wie politische Hintergründe die Lebensgeschichten verschiedener Menschen beeinflussen können. Und sie hat vier Frauenfiguren geschaffen, die sich letztlich tatsächlich irgendwie ähnlich sind: in ihrer Suche nach dem Lebensglück.

Lieblingszitat: „Meine Mutter war eine Blondine mit einem kleinen, festen Hintern und einer Schweißermaske.“

Vielen Dank an die Bibliophilin für dieses Buch!

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Ja, man steht rum, langweilt sich, also spuckt man”
Hanna ist 35 und Journalistin. Als sie beschließt, eine Reportage über die Welt von Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin zu schreiben, trifft sie den 25-jährigen Tamer. Hanna will ihn näher kennenlernen, in sein Leben eintauchen, ein Porträt über ihn verfassen. Die journalistische Objektivität sowie ihre Distanz gehen ihr dabei recht schnell verloren. Und Hanna verändert sich: “Alles hat sich verschoben. Immer wieder sehe ich mich selbst in diesen unterwürfigen Momenten, in denen ich geradezu um Tamers Gunst bettle. In denen ich eine andere Frau bin, die ich vorher nicht kannte und, ehrlich gesagt, auch nicht kennen wollte. Ich weiß nicht, wo sie herkommt, und ich kann nur hoffen, dass sie wieder verschwindet, sobald dieser Artikel geschrieben ist.” Tamer ist ein Macho, er ist intolerant, rüpelhaft, frauenfeindlich und kriminell. Und Hanna, eine selbstbewusste, erfolgreiche Frau, hält immer öfter den Mund, verirrt sich ein wenig in Tamers Stadt – obwohl diese doch eigentlich auch ihre Heimat ist.

Mit Wunderland hat Sophie Albers ein kluges, befreiend einfaches Büchlein über das Miteinander verschiedener Kulturen geschrieben. Ihre Protagonistin Hanna sieht die Welt und vor allem die eigene Umgebung mit einem Mal durch Tamers Augen. Dessen Blick ist in erster Linie geprägt von Unmut, Antisemitismus und Machtgehabe. Tamer ist unflexibel und gebieterisch, ein junger Klischeearaber: “Er betrachtet die Dinge immer nur einmal. Danach kennt er sie ja schon. Einen zweiten Blick, einen zweiten Gedanken sind sie ihm nicht wert.” Hanna stößt das sauer auf: “Ich frage mich immer wieder, wieso ich mich dem eigentlich aussetze, warum ich mir diesen völlig sinnlosen Scheiß anhöre, der aus diesem verklebten Hirn quillt, das ich manchmal gern durchspülen würde: 120 Minuten im Vernunftvollwaschgang mit Toleranz-Zusatz und anschließendem Besonnenheitsschleudern.” Doch während sie sich ihre Meinung bildet über Tamer und über die Akzeptanz von Einwanderern, merkt sie: Sie selbst ist in Tamers Welt alles andere als willkommen.

Sophie Albers beschreibt eine Art Parallelwelt, von der jeder weiß, die aber kaum jemand bisher selbst betreten hat: Sie hat sich der Frage angenommen, wie junge Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin leben, welche Ansichten und Wünsche sie haben. Ganz ohne moralischen Zeigefinger erzählt sie uns eine Geschichte, die die bekannten Probleme und Diskussionen zum Thema hat, ohne sich aber auf ein Urteil zu versteifen – und die trotzdem angenehm und schnell zu lesen ist. Ein wenig schade finde ich, dass Tamer arg stereotyp geraten ist – aber ansonsten funktioniert ein Roman über die Koexistenz fremder Kulturen vermutlich nicht so gut. Tamers Anschauungen sind Hanna fremd, und doch wird sie davon beeinflusst, sie steht nicht über ihm, zum Glück. Der Stil der Autorin ist prägnant und direkt, ihre Sprache will nicht als Kunstform beeindrucken, sondern dient als Werkzeug – das ist fast erholsam. In Wunderland geht es um den Verlust von Objektivität, der notwendig ist, um einmal einen ganz unverstellten Blick auf den Umgang von Deutschen und Einwanderer(kinder)n miteinander zu werfen. Wie definiert sich Heimat? Darüber nachzudenken, ist heilsam und wichtig. Ohne es auch nur einmal zu sagen, stellt dieses Buch die Forderung nach mehr Toleranz.

Lieblingszitat: “Er meinte, früher sei alles einfacher gewesen, da war man auf dem Spielplatz, und wenn ein Kind einen blauen Pulli anhatte wie man selbst, war das Grund genug, sich zu mögen.”

Wunderland ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0398-2, 14,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vom Verlust des Vaters und der Balance
Als Johns Vater, der Anthropologe Albert James, stirbt, gerät sein Leben aus dem Gleichgewicht: Er fliegt von London nach Delhi, wo seine Eltern zuletzt gelebt haben, und findet eine äußerst distanzierte Mutter vor. Die Beziehung zwischen John und Helen ist geprägt von Missverständnissen, sie finden keinen Weg, miteinander zu kommunizieren. In der lauten, schmutzigen, fremden Stadt sucht John nach Spuren seines Vaters – und findet nichts. Die publizierten Theorien von Albert über Verhaltensweisen und Kommunikation sind ihm ein Rätsel. Als Biologe kommt er mit seiner Forschung nicht vom Fleck, zudem geht ihm, dem ewigen Studenten, das Geld aus. Und seine Freundin, die Schauspielerin Elaine, weicht ihm aus. Helen dagegen sieht sich mit dem Amerikaner Paul konfrontiert, der eine Biografie über Albert schreiben will und der trotz Helens Ablehnung beharrlich bleibt. Aber dann scheint es, als bräuchte Helen eigentlich doch jemanden zum Reden … Und als ein Sandsturm über Delhi aufzieht, kommt es zum Showdown zwischen allen Beteiligten: John, Helen, Paul und der geheimnisvollen Jasmeet.

Tim Parks ist ein ausgezeichneter Schriftsteller. Mit Cleaver hat er mich in seinen Bann gezogen, Dreams of rivers and seas habe ich geschenkt bekommen. Zwar finde ich darin nicht die Cleverness und Schärfe von Cleaver, denn Dreams of rivers and seas ist nicht so böse und brillant, dafür aber von einer leichten erzählerischen Eleganz. Tim Parks hat ein gutes Gespür für den Aufbau einer spannenden Geschichte und konstruiert die Handlung mit sicherer Feder. Sein Protagonist John ist, man kann es nicht anders sagen, ein Idiot, ein Biologe ohne Geld und ohne Aussicht auf Festanstellung, ein recht hilfloser junger Mann, der die Zügel für sein eigenes Leben am liebsten aus der Hand gibt. Seine Mutter Helen ist willensstark und klug, selbstsicher und verschlossen: Sie verschweigt ihrem Sohn ein schwerwiegendes Geheimnis, vertraut es nur dem Journalisten Paul an. In Dreams of rivers and seas präsentiert Tim Parks interessante Theorien über die Menschheit und die Fäden, an denen wir alle hängen, indem er sie dem Anthropologen Albert James in den Mund legt. Zudem gibt er einen schillernden Einblick in das Land Indien, das er in seiner Armut, Schmutzigkeit und Faszination porträtiert.

7

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine gruselige Kindheit und ihre Auswirkungen
Lorrie Fisher arbeitet als Familientherapeutin in London – was sehr ironisch ist, da sie selbst eine schreckliche Kindheit hatte, und zwar unter dem Namen Caroline Stern. Ihre Eltern, zu denen sie keinen Kontakt mehr hat, gehörten einer strengen sektenähnlichen Organisation an, und die lebenslustige kleine Caroline wurde in der Gemeinschaftsschule regelmäßig von der Direktorin Miss Fowler gegängelt. Niemand glaubte ihr, niemand half ihr, und als der Druck auf Caroline schließlich so groß wurde, dass sie es nicht mehr ertrug, hatte das dramatische Folgen …

25 Jahre später trifft Caroline alias Lorrie auf ihre ehemalige Schulkollegin Amy und sieht auch Mr. Steinberg, den Griechischlehrer, in den sie einst verliebt war, wieder. Schicksalshafte Begegnungen, denn nun kommt endlich ans Tageslicht, was damals geschehen ist. So sollst du schweigen ist ein voyeuristisches Buch, das den Blick durchs Schlüsselloch zulässt auf eine Kindheit voller Demütigungen. Clara Salaman hat in diesem Roman eigene Erlebnisse verarbeitet – vermutlich sind die Beschreibungen der Sekte deshalb so düster und eindringlich. Carolines Eltern glauben an das Absolute, ihre Überzeugungen scheinen eine Mischung aus verschiedenen Religionen zu sein, die Kinder müssen gar Sanskrit lernen. Es herrschen raue Sitten, der Umgang ist extrem lieblos. Zwar gelingt Caroline die Flucht, richtig abschütteln und vergessen kann sie ihre Kindheit jedoch nie. Sie lebt eine Lüge – und belastet auch ihre Beziehung zu Joe.

Da ich selten so aufmerksamkeitsheischende, spannende Bücher in die Hand nehme, hat So sollst du schweigen fast etwas Verbotenes für mich. Ich finde den Roman recht fesselnd und mitreißend, auch wenn mir der Ton manchmal zu flapsig und urteilend ist. Durch die wechselnden Erzählperspektiven in Vergangenheit und Gegenwart treibt Clara Salaman die Handlung – vor allem durch die Rückblenden – geschickt auf ihren Höhepunkt zu. Ich bin ganz fasziniert von dieser schmutzig-fiesen Geschichte und genieße die seichte Unterhaltung und den leichten Grusel. So sollst du schweigen ist wie ein Pro7-Eigenproduktion-Fernsehfilm: alles andere als niveauvoll, aber doch gut genug gemacht, dass man ein wenig neugierig wird und nicht umschaltet. Auch wenn man sich ein wenig dabei schämt. Weiß ja keiner.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Subtile Gesellschaftskritik
An der jungen Clarissa ist eigentlich alles ganz normal: Ihre Kindheit war nicht sehr glücklich, aber auch nicht auffällig traumatisch, sie hat einige Freunde, hat sich selbst einigermaßen gefunden und ist momentan auf Arbeitssuche. Nichts Ungewöhnliches also. Nur ist normal nicht unbedingt gleichbedeutend mit gut: Clarissa treibt orientierungslos und ohne Halt durch ihr Leben, an dem es objektiv gesehen nicht viel auszusetzen gibt. Clarissa findet daran im Gegenzug aber auch nicht viel, was der Mühe wert wäre: Nachdem sie an ihrem letzten Arbeitsplatz gemobbt wurde, ist sie sprichwörtlich ganz unten angekommen – sie wohnt bei Freunden im Keller. Sie ist antriebslos und pleite, ihre Eltern haben sich bewusst aus dem Familienkreis entzogen. Zwar ist Clarissa durchaus von vielen Menschen umgeben – aber die schauen in erster Linie nur auf sich selbst.

In Unter uns zeichnet die österreichische Autorin Angelika Reitzer ein düsteres Bild unserer Gesellschaft: Die Zusammekünfte von Clarissas Freunden Kevin, Susanna, Florian, Vera, Marie und Gerd sind geprägt von Positionsgehabe und Geltungsdrang. Clarissa selbst ist aus dem Rhythmus von Geldverdienen, Karrieremachen und Kinderkriegen hinausgefallen und findet sich plötzlich im feuchten Keller wie in einer metaphorischen Unterschicht wieder. Über ihr und ohne sie findet das Familienleben von Tobias und Klara mit den Kindern Kyra und Selma statt. Deren lärmendes Treiben führt Clarissa ihre eigene Einsamkeit stets aufs Neue vor Augen. Von ihrer eigenen Familie ist keine Hilfe zu erwarten, die Eltern investierten ihre Zeit und Aufmerksamkeit schon früher nur in ihr Gasthaus und feierten dann ihren Abschied von der Familie, Clarissas Schwester ist aus ihrem Leben verschwunden. Clarissa ist eine schwer greifbare Person, sie wirkt verträumt und rätselhaft.

Das Wort, das diesen Roman in meinen Augen am besten charakterisiert, ist mäandern. Die Handlung fließt wie ein Fluss mit vielen Nebenarmen über die Seiten, versickert mancherorts und kommt woanders wieder zusammen. Stellenweise bin ich etwas überfordert mit der Vielfalt der Namen, den Träumen und dem steten Wechsel der Perspektive, die Atmosphäre im Buch hat aber etwas faszinierend Unheilvolles, sodass ich es kaum weglegen mag. In einem sehr nüchternen, schnörkellosen Stil entlarvt Angelika Reitzer in Unter uns die Scheinheiligkeit der Menschen Mitte dreißig und stellt sie in ein abschätziges Licht. Ein jeder versucht, ein bisschen was vom Glück zu erhaschen – und wer dabei nicht so erfolgreich ist, wird schnell bemitleidet. Ein wirkliches Miteinander gibt es nicht. Angelika Reitzer zeigt sich dabei als Meisterin des Ungesagten: Das tatsächlich Wichtige, wie Clarissas Kindheit oder das schmähliche Benehmen ihres Chefs, wird nur angeschnitten, die Konsequenzen muss man selbst erkennen. Dieser Roman hat zudem etwas undefinierbar Österreichisches, was mir natürlich sehr zusagt. Trotz einiger Schwachpunkte wie verwirrende Einschübe und manchmal anstrengende Detailverliebtheit ist Unter uns ein eindringliches, lesenswertes Buch mit einem unerwarteten Ende. Sehr bedrückend und voll von der Poesie des Alltags.

Unter uns ist erschienen im Residenz Verlag (ISBN 978-3701715497, 21,90 Euro).