Gut und sättigend: 3 Sterne

Was wäre, wenn …?
“Sie ist nicht der erste Mensch auf diesem Planeten, der sich aus seinem Leben verabschiedet und neu anfängt, wie sie in ihrer Wahlheimat sagen. Sie ist nicht die erste Mutter, die ihre Kinder verlässt. So etwas passiert, und doch schockiert es uns, wenn wir davon erfahren.” Lydia ist aus England in die USA geflohen: 10 Jahre ist es her, dass sie ihren eigenen Tod vorgetäuscht und ihr altes Leben zurückgelassen hat. Sie hat sich selbst von ihrer Familie abgeschnitten, von ihren beiden Söhnen und von der englischen Krone. Denn früher einmal war Lydia die Prinzessin von Wales und die meistfotografierte Frau der Welt. Daran denkt sie nicht gern, und doch tut sie es jeden Tag. Ihr Sekretär Lawrence war ihr einziger Vertrauter, doch er ist lange schon tot. In der Kleinstadt Kensington hat sie sich etwas Neues aufgebaut, sie arbeitet in einem Tierheim, trifft sich mit Freundinnen und hat einen unspektakulären Alltag, der längst schon abgekühlt und gewöhnlich ist. Ihr Liebhaber heißt Carson und er spürt, dass sie etwas vor ihm verbirgt, doch wenn er sie danach fragt, weicht sie aus. Andererseits empfindet sie aber zu viel für ihn, um sich zu trennen: “Das Problem war nicht, dass er Fragen stellte. Das Problem war, dass sie sie beantworten wollte.” Und dann kommt Grabowski in die Stadt, ein Paparazzi, der Lydia einst auf Schritt und Tritt verfolgte, der Zufall führt ihn hierher. Er erkennt sie an ihren Augen. Lydia weiß, dass er sie verraten wird, und sie muss handeln.

Die gläserne Frau von Monica Ali ist ein bathtub-read: mit diesem Buch in den Händen in die wohlig warme Badewanne sinken und sich unterhalten lassen – perfekt. Dies ist ein typischer Frauenroman, angenehm leicht, sehr flüssig geschrieben, in einem gefälligen Stil. Es dauerte einige Zeit, bis mir die Parallelen im Leben von Protagonistin Lydia und der echten Prinzessin Diana auffielen – und noch einen Moment länger, bis mir klar wurde, dass sie Absicht sind. Die englische Bestsellerautorin Monica Ali hat sich überlegt: Was wäre, wenn Diana nicht tot wäre? Wo und wie könnte sie heute leben? Kein Autounfall war es – dieser kommt auch vor, ist aber nicht tödlich – , der sie das Leben kostete, sondern der eigene Wille: Sie taucht ab, zieht die Notbremse, rettet sich vor Depessionen, verräterischen Liebhabern und der Presse. Es passen allerdings nur die äußeren Umstände auf Lydia, Prinzessin Diana ist für mich nach wie vor eine eigenständige, andere Person. Deshalb ist Die gläserne Frau kein Biografieversuch und will das auch gar nicht sein. Vielmehr hat Monica Ali das Leben einer realen Person zum Anlass genommen, ihre Fantasie spielen zu lassen und eine spannende Geschichte zu kreieren, die trotz der unglaublichen Elemente nicht an den Haaren herbeigezogen ist. Ihr Schachzug, die Geschehnisse rund um Lydias Flucht anhand der Tagebucheinträge von Lawrence zu erzählen, ist genial – so muss sie sich nicht mit langen erklärenden Erinnerungen aufhalten. Ich habe ein komplett anderes Ende erwartet und bin von der Wendung überrascht, sehr zu meinem Wohlgefallen. Nichts spießt sich in diesem Roman, er ist wie ein Kinder-Pingui: etwas, das ich selten esse, ein bisschen zu süß eigentlich, aber manchmal, da muss man einfach ein Kinder-Pingui schlemmen. Am besten in der Badewanne.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein richtig schönes, stilvolles Cover!
… fürs Hirn: die Fantasie wird angeregt durch die Frage: was wissen wir wirklich? Könnte nicht doch alles ganz anders sein?
… fürs Herz: der große Schmerz einer Mutter, die ihre Kinder verlassen hat. Die Literatur behandelt ja meist die Gegenseite – die einsamen und traurigen Kinder, die sich nach der Mutter sehnen.
… fürs Gedächtnis: die Erinnerung an die kleine leckere Unterhaltungssünde von zwischendurch.

Die gläserne Frau von Monica Ali ist erschienen bei Droemer Knaur (ISBN 978-3-426-19929-9, 384 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ich bin tot, Papa, na und?
“Langsam hebe ich die rechte Hand, eine beschwichtigende Geste, ein leises Lächeln. Es ist die letzte klare Botschaft, die er von mir in Erinnerung behalten wird, mein Lächeln. Gar nicht übel.” Als Michel Rostain seinen 21-jährigen Sohn Lion danach das nächste Mal sieht – kurze Zeit später – , ist er tot. Was Ärzte und Eltern für eine Grippe hielten, war in Wahrheit eine Meningitis, die den jungen Studenten ohne Überlebenschance dahingerafft hat. Er war zu jenem Zeitpunkt zuhause bei seinen Eltern, nicht in der Stadt, in der er studierte, und während sie glücklich sind, ihn wenigstens bei sich gehabt zu haben vor seinem Tod, hadern sie auf schlimmste Weise mit dem Schicksal: weil ihr Sohn vor ihren Augen starb, ohne dass sie es merkten, weil sein Tod hätte verhindert werden können, hätte jemand die Symptome erkannt. Da stehen sie nun, die Theaterkünstler und Easy-going-Menschen, und wissen nicht weiter. Das Leben hat ihnen den Sohn entrissen, und sie zerlegen jede Minute mit ihm in ihre Einzelteile, erinnern sich an gute Momente, bereuen die schlechte, grämen sich und wünschen sich in die Vergangenheit. “Immer wieder wird Papa diese unzähligen Minuten gedanklich durchspielen, die er wartend am Fuße des Krankenwagens vergeudet hat, anstatt hier zu sein, im Bett, im Zimmer, im Krankenwagen, bei mir, bei ihm.” Die Eltern organisieren eine wunderschöne Trauerfeier, bei der alle Freunde mit Musik, Gesang und Geschichten dem Sohn gedenken. Die eigentliche Trauerarbeit beginnt dann erst so richtig: “Papa ist mitten im Chaos seiner ersten richtigen Trauerwoche, nachdem alle Feierlichkeiten stattgefunden haben und die Freunde wieder abgereist sind. Erst mit der Einsamkeit beginnt wirklich der Tod.” Sie tun ihr Bestes, sie weinen und halten einander im Arm, sie lachen, sie finden einen Ort, um Lions Asche zu verstreuen. Jeden Tag besucht der Vater den Sohn auf dem Friedhof. Und jeden Tag merkt er: Lion wird ihm immer, immer fehlen.

Ich-Erzähler Lion berichtet in Michel Rostains autobiografischem Roman Als ich meine Eltern verließ von seinem eigenen Tod. Durch die Augen des Sohnes wirft der in Frankreich bekannte Opernregisseur einen sehr genauen Blick auf sich selbst. Nüchtern, kritisch und mit einer gehörigen Portion Schmunzelei lässt Michel Rostain seinen toten Sohn Bericht erstatten über den Schock, die Beerdigung, die Wochen danach. Dieser tut das auf die typisch lässige Weise der Zwanzigjährigen, die scharfzüngig sind in ihrem Sarkasmus und neunmalklug in ihrer Weltsicht, denn sie sind jung und glauben, sie könnnten nichts verlieren. Dass Lion aber alles verloren hat, was es zu verlieren gibt, verleiht seinem Erzählton eine hochgradig beißende Ironie. Ich kann während der Lektüre nie vergessen, dass es eigentlich der Vater ist, der spricht, dass er sich dem fiktiven Spott des Sohnes aussetzt und sich dabei gewissermaßen selbst verhöhnt: “Als guter, moderner Stoiker glaubt Papa – wie heute wahrscheinlich jeder – , dass das wahre Glück der Augenblick sei, den man gerade erlebt. Nicht auf die Zukunft hoffen, sich nich an der Vergangenheit festhalten, voll und ganz den Moment leben, und schon habe man Glück. Eine Gleichung: Ist also jetzt, da ich tot bin, dein wahres Glück der empfundene Schmerz?” Frei von Pathos sei das Buch, heißt es in den Kritiken und im Klappentext, und für ein Buch ist das ein Kompliment. Es ist nicht unbedingt Pathos, das ich vermisse, denn in der unendlich traurigen Verabschiedungsfeier steckt viel davon drin, aber der gesamte Roman ist eine fast schon kakophemistische Auseinandersetzung mit dem größten Leid, das ein Vater erleben kann. Um das Leid ertragen zu können, verlacht er es, der Theorie des Schwarzen Humors zufolge, er bietet ihm die Stirn, indem er den Sohn sagen lässt: Mein Gott, Papa, stell dich nicht so an.

Die Umsetzung ist zutiefst ehrlich und authentisch, aber manchmal wird die Situation für meinen Geschmack zu sehr ins Lächerliche gezogen. Wir alle wissen, wie nah Lachen und Weinen miteinander verwandt sind, und dieses Buch ist die Rede eines Vaters, dessen Sohn gestorben ist, eine Rede, in der er so verbissen lacht, dass man kaum erkennen kann, ob die Laute nicht doch eher Schluchzer sind. Die Mutter spielt im Buch eher eine Nebenrolle, und der Sohn selbst bleibt sehr blass, wenig erfahren wir über sein Leben, nichts über seine Kindheit, die Freundin, die er hatte, wird nur einmal kurz erwähnt. Es reicht, dass er tot ist, und es geht im Roman in erster Linie um die harte Probe, die sein Tod für die lebensbejahende Einstellung des Vaters bedeutet. Selbst bekomme ich es mit der Angst zu tun, weil ich oft nachdenke über ein Schicksal, das mir meine Lieben rauben könnte, vielleicht gerade jetzt, während ich schreibe, oder dir, während du liest, und dann zerpflücke ich die letzten gemeinsamen Momente, wie die Eltern von Lion es tun. Es ist klar, dass Als ich meine Eltern verließ per se ein trauriges Buch ist, das den Leser auf die eigenen Ängste zurückwirft. Aber es ist auch ruppig, fies, grausam und verklärend zugleich, sehr verstörend in jedem Fall. Ein Buch, das vom Schlimmsten erzählt und dabei eine Aufgabe hat, wie Michel Rostain im Nachwort erklärt: “Der Tod ist ein Teil des Lebens, und man kann damit leben. Nicht jammern, nicht in Selbstmitleid und am Elend zergehen, sondern leben! Wie? Das weiß ich nicht, und ich werde mich hüten, hier Rezepte zu erstellen oder Lektionen zu erteilen. Jeder muss selbst herausfinden, wie es ihm möglich ist.”

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
wieder ein sehr schönes Cover vom Bertelsmann Verlag (2011 hatte Der stumme Pianist für mich das schönste Cover des Jahres), ebenfalls mit transparentem Umschlag, darunter befinden sich Alltagsgegenstände eines jungen Menschen.
… fürs Hirn: Epikur und seine Genossen, die Fragen, die seit jeher die Menschen umtreiben: Warum? Was bedeutet das Leben? Was der Tod? Und die Schlussfolgerung, dass dem Menschen im Angesicht des Todes nur eins bleibt: ein resigniertes Lächeln.
… fürs Herz: die furchtbare, nie endende Traurigkeit.
… fürs Gedächtnis: mein Wechselbad der Gefühle – mal ganz beim trauernden Vater, dann wieder weggestoßen von seinem Sarkasmus, die Verwirrung über die Frage: Wenn man sich selbst gegenüber pietätlos ist, ist das dann überhaupt pietätlos?

Als ich meine Eltern verließ von Michel Rostain ist erschienen im C. Bertelsmann Verlag (Edition Elke Heidenreich, ISBN 978-3-570-58032-5, 160 Seiten, 18,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vom harten Los, ein Künstler zu sein – und ein Freund
Mark und Dennis sind seit der Schulzeit beste Freunde, gemeinsam aufgewachsen im Ruhrpott, und sie haben sich die Freundschaft bis ins Studium erhalten. Dabei sind sie grundverschieden. Dennis zieht es mit seinem ganzen Herzen zur Kunst, er lebt asketisch und fertigt überproportional große Plastiken von Gliedmaßen aus Beton. Markt lässt nichts anbrennen, gurkt durch sein Studium und lässt sich von Frauen umgarnen. Oder wie er die Unterschiede zwischen den Freunden ausdrückt: “Dennis trank keinen Alkohol, rauchte nicht, ging nicht ins Kino, hörte keine Musik, interessierte sich nicht für Fußball oder sonst einen Sport. Er ruhte in seiner eigenen Welt. Ich wäre vor Langeweile geplatzt.” Vorbei ist es mit der Ruhe, als Dennis die Kommunistin Lily kennenlernt und sich verliebt: “Lily und Dennis waren ein Paar wie John Lennon und Yoko Ono, symbiotisch, unzertrennlich, nicht von dieser Welt.” Das Schicksal hält noch mehr für Dennis bereit: Über absurde Umwege wird er über Nacht berühmt, taucht in die Berliner Kunstszene ein und reist um die Welt. Mark dagegen heiratet, wird sesshaft und stellt fest, dass man manchmal einen Freund ziehen lassen muss.

Das kaputte Knie Gottes – so heißt eine der Betonplastiken von Dennis – ist ein herrlich unterhaltsamer Roman, sarkastisch und pfiffig, eine Hymne an die Freundschaft, eine Persiflage auf die Kunstszene. Marc Degens hat allerhand gute Ideen und verrückte Einfälle in dieses Buch eingebaut: erheiternde Vorgänge in einem Pornokino, tausend Dosen Hundefutter, ein Theaterstück mit zwei Schauspielern, das nie aufgeführt wird, ein Riesenpenis, der aussieht wie eine Bürste und, und, und. Zum Glück wird der fiese Humor in Das kaputte Knie Gottes nie dumpfbackig oder banal. Dieses Buch handelt von jungen Menschen und ihren Idealen, die sich verändern. Sie werden erwachsen und lernen die Vorzüge von Geld, guter Gesellschaft und Ansehen zu schätzen – wobei ihre Freundschaft fast zwangsweise auf der Strecke bleibt. Das ist ehrlich, traurig, schmerzhaft und glaubwürdig – ein harmloser, sehr unterhaltsamer, gut geschriebener, in sich stimmiger Roman. Deshalb gibt es eine Empfehlung für alle, die mal wieder gepflegt schmunzeln möchten.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
nun ja – ist das die Bananenschale, die einem das Leben in den Weg wirft?
… fürs Hirn: ist das Kunst oder kann das weg?
… fürs Herz: der Schmerz, wenn eine Freundschaft zerbricht.
… fürs Gedächtnis: jede einzelne hochgradig lustige Szene – toll!

Das kaputte Knie Gottes von Marc Degens ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0426-2, 17,99 Euro, 256 Seiten).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Was einmal kaputt ist, wird nie wieder ganz”
Plav ist Künstler – auch ein (Über)Lebenskünstler. Geschickt mit den Händen ist er und kreativ, seine Wohnung ein Sammelsurium aus Figuren und Basteleien, die sogar das Interesse einer Galerie weckt. Doch Plav fällt nicht nur mit Talent aus der Reihe, sondern auch mit nonkonformem Benehmen, was ihn in einer reglementierten Gesellschaft viel kostet: den Job, die Beziehung, den Kontakt zur ungewollt gezeugten Tochter. Er arbeitet in einer Spritzgussfabrik und fertigt nachts Marionetten aus altem Holz und Schrott, die so authentisch hässlich sind, dass man kaum hinschauen mag. Nicht nur das Dasein im Jetzt bereitet ihm Schwierigkeiten, auch die Vergangenheit nagt an seinem Gesundsein: Er kam mit seiner Mutter aus dem ehemaligen Jugoslawien, eine slawische Hassliebe voll Brutalität und Zärtlichkeit verband ihn mit ihr. Die Mutter an einen deutschen Mann zu verlieren, hat Plav geschmerzt. Und bei all der Qual, die seine Seele würgt, redet er mit seinem Daumen, der ihn versteht, ihm zuhört, seine Einsamkeit teilt.

Plav ist einer, der am Abgrund steht und allen zuruft, was er dort sieht – aus Angst wenden sie sich ab, sie wollen es nicht hören. Er gebärdet sich verrückt, er brabbelt, er schreit, er läuft nackt durch den Schnee, er juchzt. Plav kennt keine Grenzen und schert sich nicht um Konventionen, er ist direkt, ehrlich, sexuell aufgeladen, begabt und nicht zu schubladisieren. “Holz wie Delphinhaut. Fasst sich an wie meine Eichel”, sagt er zu einem Mädchen in einer Bar, dem er eine Puppe zeigt, die er geschnitzt hat. Und das Mädchen sagt: “Das ist so fein. Mit so viel Liebe. Die ganze Fitzelarbeit. Du musst in deinem Inneren schrecklich leiden, dass du so was Hässliches machen musst.” Und so ist es auch.

Mit kraftvoller, hastiger Prosa erzählt der deutsche Schriftsteller Thomas Podhostnik in diesem schmalen Band die energiegeladene Geschichte von einem, den niemand mag, nicht einmal und schon gar nicht er selbst. Plav ist fremd, der Welt und sich selbst, und es scheint, als müsse er sich selbst für diese Fremdheit bestrafen. Mit rauen, selbstgenügsamen Worten hält Thomas Podhostnik wie in einer Bleistiftskizze das Bild eines Mannes fest, der aufgrund seiner Andersartigkeit von einer Aura der Unberührtheit umgeben ist, die Hand in Hand geht mit einer tiefen Einsamkeit. Sehr dicht, komplex, leichtfüßig und doch substanziell.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
klare Bildsprache, ein schönes Blau.
… fürs Hirn: das eigene Erschrecken über Plavs Verhalten, das Wissen, dass man sich – an einer Bushaltestelle zum Beispiel – peinlich berührt von ihm abwenden würde im Glauben, er sei betrunken und/oder verrückt.
… fürs Herz: Plavs Kindheitserinnerungen, die für mich noch ausgeschmückter hätten sein dürfen.
… fürs Gedächtnis: wie Plav im Schnee gegen Rowdys kämpft, so völlig desinteressiert am möglichen eigenen Tod.

Die Hand erzählt vom Daumen von Thomas Podhostnik ist erschienen im Luftschacht Verlag (ISBN 978-3-902373-87-8, 16 Euro, 92 Seiten).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Wenn du mit einem Schweden um die Wette saufen willst, solltest du zumindest Finne oder Russe sein”
Allan Karlsson hat ein stolzes Alter erreicht: 100 Jahre zählt der Schwede, der geistig noch verblüffend fit ist und deshalb keine Lust hat, im Altersheim mit den Greisen, der lästigen Schwester Alice und dem Bürgermeister seinen Geburtstag zu feiern. Er klettert kurzerhand aus dem Fenster – in Pantoffeln und mit wenig Geld – und marschiert zum Busbahnhof. Dort stiehlt er einem jungen Mann ebenso spontan einen Koffer, in dem zufällig mörderisch viele Kronen stecken, und mit seiner völlig ungeplanten Busfahrt nach Byringe beginnt ein abenteuerlicher Roadtrip, der Allan neue Freunde, viele Zeitungsschlagzeilen, zwei Todesopfer und die Bekanntschaft mit einem Elefanten bescheren wird. Den Hundertjährigen kann aber so schnell nichts überraschen, hat er doch mehr erlebt, als auf eine Kuhhaut passt: Er hat mit General Franco, Präsident Truman und Stalin getrunken, seine Finger beim Bau der Atombombe im Spiel gehabt, eine von Maos Frauen gerettet, jahrelang Urlaub gemacht und unter anderem Brücken, Autos sowie eine gesamte russische Stadt in die Luft gesprengt. Und das ist nur ein Auszug aus seinen Erlebnissen in den letzten 100 Jahren. Man könnte auch sagen: Allan Karlsson hat seine Lebenszeit voll ausgenutzt – und er denkt auch jetzt nicht daran, es mal ein bisschen langsamer angehen zu lassen.

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand ist ein Buch, das mit schwingenden Schritten daherkommt, keine Ansprüche stellt, nicht hochliterarisch sein mag, sondern vor allem eins will: Spaß machen. Dies ist ein wildes, kurioses, erfreulich unernstes Buch, in dem ein Autor – der Schwede Jonas Jonasson – sich nach Herzenslust ausgetobt hat, ganz ohne Rücksicht auf historische Tatsachen, die Grenzen der Realität oder Geschmacklosigkeit. Das ist dermaßen verrückt und übertrieben, dass man kopfschüttelnd lachen muss, ob man will oder nicht. Protagonist Allan interessiert sich nicht die Bohne für Politik – hat aber, als unbedarfter, freundlich-naiver Hans-guck-in-die-Luft, größten Einfluss auf so ungefähr alle wichtigen Ereignisse der gesamten Weltgeschichte. Dieser Roman ist komplett erstunken und erlogen – und will das gar nicht verbergen, nein, charmant und mit ironischem Augenzwinkern führt Jonas Jonasson den Leser an der Nase herum und tischt ihm eine gigantische Lügengeschichte auf. Um sich das Vergnügliche aus diesem Buch herauszupicken, muss man eine ordentliche Portion und den Willen, belustigt zu werden, mitbringen; ich vermisse bei all der Clownerie ab und zu die Abgeklärtheit von John Irving oder Arto Paasilinna. Die absurden Rückblenden sind in meinen Augen wesentlich witziger als die verquere Flucht Allans und seiner Freunde vor der schwedischen Mafia und der Polizei. Gesoffen wird unendlich viel in diesem Roman, der Schnaps fließt in Strömen, und unter diesem Aspekt verwundert Allans Alter nicht: Er ist in Alkohol eingelegt und konserviert. Es gibt kaum Adjektive, die diesem Buch gerecht würden: amüsant ist es und herausfordernd, opulent, unglaublich, bunt. Wer offen dafür ist, hört die Botschaft heraus, das Leben nicht so ernst zu nehmen. Fazit: Münchhausen at his best!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
ein schönes, filigranes Cover, die Idee mit dem Reisekofferetikett finde ich sehr gut. Auch innen ist der Elefant gezeichnet.
… fürs Hirn: das Hirn ist auszuschalten in diesem Fall. Nicht nachdenken, nur unterhalten lassen!
… fürs Herz: dieses Buch mag nicht ans Herz gehen, sondern an die Lachmuskeln.
… fürs Gedächtnis: wegen der übergroßen Vielfalt an Verrücktheiten kann einem kaum ein Einzelereignis aus diesem Roman in Erinnerung bleiben. Eher das ganze schillernde Buch!

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand ist erschienen bei carl’s books (ISBN 978-3-570-58501-6, 14,99 Euro, 416 Seiten).


Dieser Roman ist nominiert für den “M-Pionier”-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Mennoniten, Männer und Mexico City
“Ich merke manchmal nur an dem Schmerz in meiner Brust, dass ich noch lebe, denn im Himmel gibt’s keine Schmerzen.” Grund für Schmerzen hat Irma genug, denn das Leben ist nicht einfach in einer strengen mennonitischen Familie in Mexiko. “Vor langer Zeit, in den zwanziger Jahren, reisten einmal sieben Mennoniten – alles Männer – von Manitoba zum Präsidentenpalast in Mexico City, um einen Handel abzuschließen. Man hatte ihnen das Land hier billig angeboten, und sie hatten beschlossen, das Angebot anzunehmen und ihre ganze Sippschaft aus der kanadischen Kolonie nach Mexiko zu verpflanzen, wo sie ihre Kinder weder in die staatliche Schule schicken noch ihnen Englisch beibringen oder normale Kleider anziehen müssten.” In Kanada hat auch Irma mit ihrer Familie gelebt – doch nach dem tragischen Tod ihrer älteren Schwester Katie, über den Stillschweigen bewahrt wird, bestimmte der Vater den Umzug. Inzwischen ist Irma 19, und um den Mexikaner Jorge heiraten zu können, hat sie mit ihrem Vater gebrochen. Jorge hat es ihr gedankt, indem er sie verlassen hat, und so lebt Irma nun wie eine Aussätzige auf dem Nebenhof ihrer Eltern ohne Kontakt zur Außenwelt und fragt sich: “Wie komme ich auf dieser Welt zurecht, ohne mich an die Anweisungen von meinem Vater, meinem Mann oder Gott zu richten?” Sie bekommt bald Gelegenheit, das herauszufinden, denn auf dem dritten Hof zieht eine Filmcrew ein und engagiert Irma als Übersetzerin. Die Mennoniten sind davon nicht im Geringsten begeistert, und dass der Regisseur völlig wahnsinnig ist, verbessert die Situation auch nicht gerade. Als sich die Lage plötzlich zuspitzt, muss Irma mit ihrer 13-jährigen Schwester Aggie und dem frischen Baby Xemina Hals über Kopf fliehen, in ihren altmodischen Röcken, planlos, voller Angst – und damit beginnt der Ärger erst.

Miriam Toews hat sich in Kleiner Vogel, klopfendes Herz an ein grandioses Patentrezept gehalten: Wähle einen überaus ungewöhnlichen Protagonisten, der allein durch seine Andersartigkeit interessant ist, und bilde die Welt durch seinen verblüffenden Wahrnehmungsfilter ab. Als Zugangsart hat sie sich nicht den melancholischen Blick auf ein Außenseiterdasein ausgesucht, sondern Witz und trockenen Humor. Komik ist Tragik in Spiegelschrift, so beweist es einmal mehr diese kanadische Autorin mit ihren beißend ironischen Sätzen wie: “Dann verstreuten sie sich über die ganze Welt und bildeten ihre Kolonien, auf der Suche nach Frieden, Freiheit, Einsamkeit und Käseverkaufsmöglichkeiten” oder “Ich überlegte, ob ich mir eine Kuh ins Haus holen sollte, zur Gesellschaft, bloß eine einzige. Eine kleine. Ich hätte auch im Stall schlafen können, wie Jesus, bloß ohne das ganze Gefolge und den Leistungsdruck.” Das ist sehr erheiternd, artet aber stellenweise ein wenig aus und wird zur Herumreiterei auf den ewig gleichen Themen. Das Wissen über den mennonitischen Alltag bringt Miriam Toews aus ihrer eigenen Lebensgeschichte mit; sie arbeitet in diesem Roman Autobiografisches auf. Dabei kann man nur hoffen, dass nicht allzu viele Ähnlichkeiten zwischen ihr und Buchfigur Irma bestehen, hat diese doch ein extrem großes Paket an – berechtigten – Schuldgefühlen zu tragen und kommt vor lauter Selbstgeißelung kaum zu etwas anderem. Irma ist – obwohl ihre Lebenssituation Sympathie wecken möchte – ein schwieriges, sprunghaftes, überraschend egoistisches Persönchen, und der Roman hält für sie wie für den Leser mehrere unerwartete Wendungen bereit. Kleiner Vogel, klopfendes Herz ist ein hektisches, anstrengendes und überladenes Buch, das aber gleichzeitig in seiner Sanftheit und Klugheit bewegt. Widersprüche müssen sich nicht auflösen, sie dürfen nebeneinander bestehen, und so ist dieser Roman witzig und traurig, hysterisch und ruhig, nervtötend und hervorragend zugleich. In jedem Fall einzigartig – und das will etwas heißen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sensationell! Ein einfallsreiches, tolles, wunderschönes Cover. Falls man es nicht erkennen kann: Das schwarze Knäuel besteht aus Filmrollen. Das zweitbeste Cover in diesem Jahr so far!
… fürs Hirn: die interessanten und humorvollen Bemerkungen zur Entstehung und zum Leben der Mennoniten.
… fürs Herz: die Szene, in der Irmas Mutter ihr Baby Xemina anvertraut.
… fürs Gedächtnis: die gesamte Ungewöhnlichkeit von Mennonitin Irma.

Kleiner Vogel, klopfendes Herz ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 9783827010292, 22 Euro, 288 Seiten).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Des Frühlings Licht und Dunkelheit”
Krimiautorin Susanne sieht sich an Bord der Oden, einem Eisbrecher im Nördlichen Polarmeer, mit einem Szenario konfrontiert, das einem ihrer Bücher entstammen könnte: Jemand dringt immer wieder in ihre Kabine ein und hinterlässt ebenso widerliche wie mörderische Botschaften. Mögliche Kandidaten gibt es viele, denn auf dem riesigen Schiff tummeln sich Forscher wie Ulrika und John, Fernsehjournalisten, Matrosen, Schiffsarzt Anders und viele mehr. Wer hat es auf Susanne abgesehen und warum? Sie wollte die Schifffahrt eigentlich zum Schreiben nutzen, doch nun hat sie ein Rätsel zu lösen, und die Reise führt sie in ihre eigene Vergangenheit: zu ihrer Mutter Inez und deren Zwillingsschwester Elsie, zu ihrer Jugend als Mauerblümchen und zu ihrem Halbbruder Björn, der 40 Jahre zuvor mit der Band “Typhoons” zum gefeierten Popstar wurde – und dessen Schicksal die ganze Familie zerstörte.

Majgull Axelsson ist eine Grande Dame der schwedischen Unterhaltungsliteratur. Vor Jahren habe ich Die Aprilhexe (2001) und Augustas Haus (2002) gelesen und sehr gemocht. Der Inhalt von Eis und Wasser, Wasser und Eis klingt vielversprechend – und es gelingt Majgull Axelsson auch in diesem Fall, dem Leser einen mitreißenden Einblick zu geben in eine Familie, die glücklich hätte sein können und es nie geworden ist. Die Stärke der schwedischen Autorin, die auch in Deutschland Erfolge feiert, sind groß angelegte Sagas und fein ausgearbeitete Charaktere. Sie gibt ihnen allen eine Chance, sich zu äußern: Susanne und Björn, Inez, Elsie und Schiffsarzt Anders. Die einen leben und erzählen in der Gegenwart, auf dem Schiff, die anderen in der Vergangenheit. Jeder liefert ein Puzzleteil, und während diese sich zu einem großen Ganzen zusammensetzen, steigt die Spannung. Man kann Eis und Wasser, Wasser und Eis getrost einen Thriller nennen, in dem die Protagonistin bedroht wird und einen Anschlag verhindern muss; düster und unheimlich ist die Stimmung auf der Oden unter diesem Aspekt, jeder könnte der Täter sein, ganz klassisch. Rundherum gibt es nichts außer meterdick gefrorene Kälte und Eisbären – und doch ist Susanne, ohne es zu wissen, mit jemandem an Bord verbunden.

Sprachlich passieren Majgull Axelsson kaum Ausrutscher, ihr Stil ist geschmeidig und routiniert, ihre Vergleiche sauber und schön: “So machten es alle Erwachsenen. Antworteten mit einem Scherz. Ließen den Ernst zu Boden tropfen, dass er aufgesaugt wurde und in dem roten Flausch verschwand.” Dieser Roman bietet gute Unterhaltung, wie ein spannender Film zum angenehmen Zeitvertreib. Plastisch geschrieben ist das Buch allemal, sodass man es sich bereits vor dem geistigen Auge auf der Kinoleinwand vorstellen mag. Für alle, die das Rätselraten, sympathische Figuren, kluge Rückblenden und (wie ich) Schweden mögen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
blau, blau wie das Meer ist das Cover – eine logische Konsequenz aus dem Titel. Es wirkt bei näherer Betrachtung ein bisschen gruselig, was sehr passend ist.
… fürs Hirn: die interessanten Hintergrundinformationen zum Polarmeer und seinem Eis.
… fürs Herz: dass Susanne seit jenem Schicksalsschlag völlig ohne Liebe lebt.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Eisberge werden, genau wie alles andere, größer und schöner, wenn man sie in Einsamkeit erlebt.”

Eis und Wasser, Wasser und Eis ist erschienen bei C. Bertelsmann (ISBN 978-3570100417 22,99 Euro, 544 Seiten).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Meine Frau findet mich gerade etwas zu klein für mein Gewicht”
Unterhaltsam sind sie, die 61 in diesem Buch versammelten Kolumnen von Jan Weiler aus der Welt am Sonntag. Der Autor hat vor allem mit Maria, ihm schmeckt’s nicht – das auch verfilmt wurde – und Antonio im Wunderland Aufmerksamkeit erregt, beides witzige Bücher über seinen Schwiegervater, den Italiener Antonio. Mit dem Humor ist es ja, wir wissen es alle, so eine Sache: Der eine lacht sich schief, der andere verzieht nicht einmal den linken Mundwinkel. Die beiden genannten Romane von Jan Weiler habe ich gelesen, und sie haben mich in heitere Stimmung versetzt. In abgeschwächter Form gelang dies auch mit Mein Leben als Mensch. Für genügend Erzählstoff sorgen in Jan Weilers Leben seine Kinder Nick (der ihn schon mal einen Scheißpapa nennt) und Carla (die mit neun Jahren schon pubertätsähnliche Verhaltensweisen zeigt), sein bekannter Schwiegervater, seine Frau Sara und die Frustrationen des Alltags im Allgemeinen. Er wandelt das, was ihm passiert, um in jeweils drei Buchseiten Geschnatter.

Mein Leben als Mensch wirkt ein wenig wie ein lustiges Tagebuch, wie ein lesenswerter Blog. Nicht allzu geistreich, aber genau das Richtige für zwischendurch, um abzuschalten, zu schmunzeln und zu merken: Achja, das Chaos wohnt nicht nur bei mir daheim. Auch bei Jan Weiler ist es des Öfteren zu Gast. Dieser Autor ist ein typisch deutscher Mann, der schreiben kann und erzählt, wie es ihm so ergeht im Leben. Die Geschichte mit dem “Flakebildschirm” gefällt mir am besten. Alle sind sie Momentaufnahmen, Anekdoten, Gedankengänge. Es ist ja so eine Sache mit dem Wort nett, es gilt als verpönt. Jan Weilers Kolumnen sind aber nett – im besten Sinn, den dieses Wort noch hat. Sie versprechen keinen Tiefgang, sondern Unterhaltung. Und dieses Versprechen halten sie ein. Ein “Best of”, ansprechend illustriert von Larissa Bertonasco.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
gelungenes Cover, zeigt gleich, was einen erwartet.
… fürs Hirn: hmmm … eigentlich nichts. Und das muss auch mal sein.
… fürs Herz: das Schmunzeln darüber, wie Jan Weiler in seiner Familie stets überstimmt wird – sogar vom Au-pair-Mädchen.
… fürs Gedächtnis: das Aufseufzen ob der eigenen Kindheitserinnerungen an die Urzeittierchen aus dem Ybbs-Heft.

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Schauen will ich, so viel, wie in meine Augen hineinpaßt”
Als Franz zur Welt kommt, sind die Hebamme und die Verwandten nicht gerade begeistert: Schon wieder ein Mädchen! Franz kann mit diesem Urteil wenig anfangen, fühlt er sich doch weder weiblich noch männlich, sondern menschlich: “Er beschloß, zu dem zu werden, der er war, und nicht der zu sein, welchen die Welt in ihm zu sehen fest entschlossen war.” Als später der kleine Bruder Steffen geboren wird, ist die Familienehre gerettet. Mit ihm und der großen Schwester Lena schlägt Franz die Zeit tot in der Wohnhaussiedlung. Während der Vater durch den Frust des Alltags immer grauer wird, bemüht die Mutter sich nach Kräften um Sauberkeit und Ordnung: “Für die Mutter war das Leben etwas, das man erledigte. Je weniger Spuren man dabei machte, desto besser.” Gegen Spuren hat auch Franz etwas. Die Pubertät macht deutlich, dass er eigentlich eine Franziska ist. Er kommt aufs Gymnasium, er ist klug, aber an seinen körperlichen Entwicklungen hat er kein Interesse: “Unter allen Umständen war zu vermeiden, daß mit ihm das geschah, was mit anderen geschah.” Ältere hübsche Frauen findet Franz anziehend, Jungs sind ebenfalls interessant. Es kommt zu ersten Knutschereien und Partys, auf denen geschwoft wird. Immer mehr denkt Franz über die klassische Rollenverteilung in der Gesellschaft nach – und sucht nach einem Mittelweg für sich selbst.

Das Mädchen Franz ist eine sensible Erzählung über das typische Verhalten von Frauen und Männern, über Schubladendenken und Klischees. Frauen putzen und gehorchen in diesem Buch, Männer verdienen das Geld. Dazwischen gibt es nicht viel, das merkt auch Franz schnell. Es stört mich allerdings, dass Sabine Neumann letztlich keine Möglichkeit für Franziska findet, als etwas Drittes zu leben – es bleibt bei Überlegungen zu diesem Thema. Franz ist im ersten Teil des Buchs ein “er”, dann eine “sie”. Von Bisexualität oder Transsexualität ist nicht die Rede, Franz fühlt sich eigentlich nicht im falschen Körper. Was also will dieses Buch? Ein wenig nachdenken über Stereotype. Franz ist unsicher und grübelt, aber das Aufbegehren leitet sich später ab in lange Haare, John-Lennon-Musik und Anti-Atom-Sticker. Sabine Neumanns Schreibstil ist nicht übermäßig auffallend, der Lesefluss eher abgehackt, weil viele einzelne Sätze in einer eigenen Zeile stehen. Kinder dürfen echte Kinder sein in dieser Erzählung, die raufen und kleine Tiere tot treten. Beim Lesen kommt es mir oft so vor, als würde die Handlung in Österreich spielen, weil die bayerische Mentalität – Sabine Neumann stammt aus Regensburg – sehr ähnlich ist. Am besten bringt das der Satz auf den Punkt: “Alles ist nur halb so schön, wenn man nicht dabei gesehen wird.”

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
naja.
… fürs Hirn: die klugen Beobachtungen über die automatisierte Zuteilung von weiblichen und männlichen Eigenschaften in unserer Gesellschaft.
… fürs Herz: ans Herz geht diese Erzählung nur bedingt.
… fürs Gedächtnis: die derben Dialoge zwischen Franz, seinen Eltern und Großeltern.

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Mach nie die Tür auf, lass keinen rein …”
“… ist erst die Tür auf, dann ist’s zu spät” – das sang die EAV im Lied Ding Dong in den 1990er-Jahren, und ich habe es bei der Lektüre von Evelyn Grills Winterquartier im Ohr. Denn es trifft die Situation der 42-jährigen Änderungsschneiderin Roswitha, die jemanden in ihre Wohnung lässt – und nicht mehr loswird. Aufgrund einer Kinderlähmung ist Roswitha gehbehindert, und für ihre Eltern, die Schwester, das ganze Dorf und auch sie selbst war immer klar, dass Roswitha nie einen Mann finden würde. Doch dann steht auf einmal einer vor der Tür: Max, ein staubbedeckter Bauarbeiter mit schlechten Zähnen. Er gehört zum Bautrupp, der an Roswithas Haus die Fassade erneuert. Sie seien beide allein, sagt er, und was sie davon halte, ihn zu heiraten? Roswitha erbittet sich Bedenkzeit – und lässt Max schon am nächsten Tag bei sich einziehen. Von Hochzeit ist bald keine Rede mehr, Roswitha sieht sich zur Putzfrau und Köchin degradiert, Max ist respektlos und grob – und Hilfe ist von außen keine zu erwarten.

Ist ein schlechter Mann immer noch besser als gar keiner? Diese Frage stellt – und beantwortet auf seine Weise – der Roman Winterquartier der österreichischen Autorin Evelyn Grill. Roswitha ist ein gequältes Wesen mit einer von der Einsamkeit gepanzerten Seele. Das einzig Schöne an ihr, das sie selbst lieben kann, sind ihre eleganten Hände. Kaum wird Max als potenzieller Gatte bei ihr vorstellig, lässt Roswitha ihn in der Hoffnung auf ein bisschen Glück in ihr Leben – und wird erneut getreten. Max nimmt Roswithas Dienste in jeder Hinsicht in Anspruch, und die hat nie gelernt, für die eigenen Wünsche einzustehen: “Zwar fühlt sie, daß sie etwas ändern, sich widersetzen sollte, doch ist sie einerseits zu niedergeschlagen, um etwas zu tun, andererseits beruhigt sie sich mit dem Gedanken, daß alles ja nur ein Mißverständnis gewesen sei.” Und so steigt in klassischer Manier der Druck auf Roswitha so lange an, bis er irgendwohin entweichen muss …

Winterquartier ist ein unangenehmes Buch über einen schwachen Menschen, der stets ausgenutzt und verachtet wird. Eindrucksvoll zeigt Evelyn Grill, wie unsere Gesellschaft tickt, wie schnell jemand auf der Strecke bleibt, wie wenig Anteil Umstehende nehmen, wenn Türen sich schließen und man so einfach wegschauen kann. Dafür ist das österreichische Dorf, in dem die Handlung spielt, exemplarisch. In diesem schmalen Büchlein geht es um häusliche Gewalt, um verrohtes männliches Gebärden, um Opferhaltung. Roswitha ist ganz allein mit ihren Gefühlen, ihrem Kummer, ihren Sehnsüchten. Das Ende erscheint mir ein wenig hysterisch, ist aber die logische Schlussfolgerung der Ereignisse. Winterquartier ist ein gut geschriebenes Buch über eine niedergedrückte Frau, die den falschen Mann ins Haus lässt, und eine Studie einer gepeinigten Seele.

Lieblingszitat: Da wurde sie sich selbst zum Käfig, bis an die Stäbe vollgestopft mit Verlassenheit.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein wunderschönes Foto auf dem Cover, das mir insgesamt aber zu frauenbuchmäßig erscheint.
… fürs Hirn: die Hilflosigkeit derer, die ausgegrenzt werden, die Opfertypisierung.
… fürs Herz: das Mitleiden mit Roswitha, besonders nachts.
… fürs Gedächtnis: die dramatische Schlussszene.