Gut und sättigend: 3 Sterne

Ist die Erinnerung an vergangenes Glück eine glückliche oder eine traurige?

Vier Männer, die einander nicht kennen, hängen eine Nacht lang auf dem Bahnhof einer indischen Kleinstadt fest, ihr Zug fährt erst am Morgen. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sie alle von ihrer ersten oder bedeutsamsten Liebe: von jenen Frauen, in die sie unglücklich verliebt waren oder die sie geheiratet haben. Die vier Männer unterscheiden sich stark voneinander, was den sozialen Hintergrund, die Herkunft und den Charakter betrifft, aber eines eint sie: Jeder von ihnen hat Momente erlebt, die es wert sind, erinnert zu werden. Und so vergehen die kalten Nachtstunden mit dem Wiederbeleben dieser Erinnerungen. Makhanlal berichtet von jenem schönen Mädchen, dessen Eltern sich trotz Armut weigerten, ihn als Schwiegersohn zu akzeptieren, und Gagan erzählt von Pakhi, die ihn mehr liebte als er sie. Doktor Abanis Geschichte dagegen hat ein gutes Ende, während Bikasch eine völlig verklärte Liebe erlebt hat. Als der Morgen graut, beendet er seinen Monolog – und die vier gehen auseinander, jeder versunken in seine Gedanken.

Buddhadeva Bose ist ein 1974 verstorbener bengalischer Autor von großer Bedeutsamkeit für den bengalischen Sprachraum. Im Original erschien Das Mädchen meines Herzens im Jahr 1951. Es bildet daher bestens die damaligen Verhältnisse in Indien ab. Der Autor lässt vier verschiedene Männer, die jedoch allesamt der mittleren bis gehobenen Klasse bzw. Kaste angehören, aus ihrem Leben berichten. Sie tauchen ein in ihre Vergangenheit und graben jenen Schatz aus, der dort unter dem Schutt der Jahre verborgen liegt: eine Liebe. Es spielt keine Rolle, welchen Verlauf die Liebesgeschichte nahm. Sehr intim ist diese Nacht für die einander Unbekannten, die sich nie wiedersehen werden, nachdem sie etwas derart Persönliches miteinander geteilt haben. Mit unserem mitteleuropäischen Anforderungen an die romantische Liebe darf man die vier Geschichten in diesem Buch nicht beurteilen, denn in einem Land, in dem Ehen arrangiert werden, entscheidet nicht das Herz über den Fortgang einer Verliebtheit. Das ist sehr spannend und interessant zu lesen. Das Mädchen meines Herzens ist, wie könnte es sein, ein kleines Buch fürs Herz: sentimental, ruhig, mit einem Augenzwinkern, das der zeitliche Abstand mit sich bringt, wenn man auf sich selbst in früheren Jahren zurückblickt und erkennt, dass man seither viel dazugelernt hat. Denn letztlich ist das Aufbrechen der Erinnerung nur ein Spiel, wir gebrauchen sie, verändern sie, und ich mag die feine Ironie von Buddhadeva Bose, die bestens in diesen Worten eingefangen ist:
„Die Erinnerung bleibt. Sie ist das Einzige, was einem bis zum Ende bleibt.“
„Und welchen Wert hat die Erinnerung?“
„Nicht den geringsten!“, warf der Mann aus Delhi heiter ein. „Stört bei der Arbeit, raubt einem die Zeit und verdirbt das Gemüt. Kommen Sie, trinken wir Kaffee!“

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schön gemacht, wäre mir aber ohne Empfehlung nicht aufgefallen.
… fürs Hirn: die kulturellen Unterschiede.
… fürs Herz: das ganze Buch.
… fürs Gedächtnis: der kuriose Ausflug in bengalische Gepflogenheiten.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Zu Besuch bei einem sizilianischen Freund
Commissario Salvatore Montalbano hat ein wunderschönes Haus direkt am Strand der fiktiven Stadt Vigàta in Sizilien. Weniger schön ist, dass da eines Morgens ein zu Tode geprügeltes Rennpferd liegt. Noch bevor der Commissario dieses Rätsel jedoch genauer untersuchen kann, ist der blutige Kadaver auch schon wieder verschwunden. Dafür taucht die äußerst attraktive Reiterin Rachele auf, die ihr wertvolles Pferd vermisst und dem Commissario schöne Augen macht. Eifersüchtig reagiert da Montalbanos Bekannte Ingrid, und seine Freundin Livia darf nicht einmal Wind davon bekommen, dass ihr Salvo zum verwirrten Zielobjekt weiblicher Begierden geworden ist. Wenigstens behält der Commissario den Überblick in Sachen Pferdemord – denn wie sich herausstellt, sind gleich zwei Pferde verschwunden, und da die Geschichte in Sizilien spielt, ist die Mafia natürlich auch nicht weit …

Mit Die Spur des Fuchses – in diesem Fall ein Pferd – habe ich meinen alten Freund Montalbano im wunderschönen Sizilien besucht. Es gab eine Zeit, da kannte ich ihn gut und verfolgte in meiner heißen Krimiphase vor etwa 10 Jahren all seine spannend-kuriosen Fälle. Andrea Camilleri gehört zu den wenigen Autoren, von denen ich nicht nur mehr als eins oder zwei, sondern sogar mehr als fünf Bücher gelesen habe, manche davon sogar im Original, wo sie freilich noch weitaus lustiger sind. Irgendwann hab ich mich von ihm und Krimis generell ab- und anderen Schriftstellern zugewendet. Als ich nun Montalbanos zwölfte Geschichte in der Buchhandlung liegen sah, bekam ich große Lust auf einen Kurzurlaub im herrlichen Sizilien. Also klopfte ich bei Salvo an, und wir verstanden uns auf Anhieb wieder so gut wie früher. Ich amüsierte mich über seinen unvergleichlichen Grant: „Jedenfalls glaube ich, dass der Vertrotteltere von uns beiden ganz zweifellos Sie sind“ und schüttelte lachend den Kopf über seinen tollpatschigen Umgang mit Frauen. Ich stand ihm bei der Suche nach des Rätsels Lösung zur Seite und genoss mit ihm die grandiosen Köstlichkeiten aus dem Meer: Krebse, Garnelen, geräucherten Thunfisch, Tintenfische in Orangenmarinade, Carpaccio vom Schwerfisch … hmmm. Dann verabschiedete ich mich und schloss hochzufrieden das Buch. Vielleicht sehe ich den alten Salvo ja mal wieder. Und nach Sizilien muss ich wirklich unbedingt …

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein garstiges Cover, wenigstens ein Pferd wäre schön gewesen.
… fürs Hirn: von den literarischen Ermittlern, die ich kenne, ist Montalbano für mich der sympathischste.
… fürs Herz: ans Herz ist Salvo mir schon vor vielen Jahren gewachsen.
… fürs Gedächtnis: die vielen schönen Erinnerungen an meine literarischen Erlebnisse in Sizilien. Und der Gedanke, dass ich mich nicht so dagegen sträuben sollte, mal wieder ein Buch eines Autors zu lesen, mit dem ich etwas verbinde.

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Erinnerungen sind eine Art Hafen, und vielleicht sind sie auch das Einzige, was wirklich uns gehört“
„Mein Sexualleben gleicht einem schwedischen Kinofilm. Manchmal sogar ohne Untertitel.“ Und das ist nicht das einzige Problem des jungen Ich-Erzählers: Vielmehr raubt ihm der Tod den Großvater und versetzt ihm damit einen Schock. Die Großmutter wird ins Altersheim verfrachtet, wo sie unglücklich ist, und ihr Enkel tut sein Bestes, um sie so oft wie möglich zu besuchen. Allerdings ist er tagsüber eigentlich mit Schlafen beschäftigt, weil er nachts an einer Hotelrezeption arbeitet. Das tut er nur in der Hoffnung, von der nächtlichen Arbeit zu schriftstellerischen Höchstleistungen inspiriert zu werden, denn er möchte als Autor tätig sein. Doch daraus wird vorerst nichts, denn als seine Großmutter aus dem Altersheim verschwindet, muss er sie suchen – und findet dabei nicht nur einen Weg in ihre Vergangenheit, sondern trifft auch eine Frau, in die er sich auf der Stelle verliebt …

Ich habe David Foenkinos schon vor einigen Jahren mit dem Buch Das erotische Potential meiner Frau kennengelernt, war damals aber nicht sprachlos vor Begeisterung. So erging es mir dann jedoch mit Nathalie küsst, das ich 2011 im Zuge meiner Jurybeteiligung für den Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung lesen durfte und das ja mittlerweile mit Audrey Tatou verfilmt wurde. Dieses Buch hat mich mit seiner Leichtigkeit und Fröhlichkeit verzaubert. Dann kam Souvenirs – und mit Souvenirs ist es schwierig. Weil es ein bisschen was vom Zauber, aber auch einiges von der Enttäuschung für mich hat, die ich mit David Foenkinos schon erlebt habe. Der französische Bestsellerautor nimmt mich mit seinem neuesten Roman mit auf einen Spaziergang durch eine herbstliche Landschaft, die noch von den letzten goldenen Strahlen des Sommers durchzogen ist. Die Blätter fallen langsam durch die Luft und symbolisieren die Vergänglichkeit des Lebens – die Natur legt sich zur Ruhe wie der Großvater des Protagonisten. Es geht um Abschiede und Verlust, um das Wissen, dass nichts von Bestand sein kann und alles sich immer im Fluss befindet – was bedeutet, dass niemand ewig lebt. Ich streife durch die Wiesen, die im Schatten versinken, und erinnere mich an den Sommer, an das Leben, wenn man jung ist und voller Zuversicht. Denn die Souvenirs sind abgespeichert im Kopf und im Herzen, es sind die Erinnerungen, die als Einziges bleiben, wenn alles andere verschwindet. David Foenkinos will mir klarmachen, dass ich wertschätzen soll, was mir wichtig ist – meine Familie, meine Erlebnisse –, weil alles davon jederzeit fort sein kann.

In diesem Sinne ist Souvenirs ein sehr trauriges und sentimentales Buch. Es berichtet vom Übergang von der alten zur jüngsten Generation, vom Sterben, Erinnern und Nach-dem-eigenen-Weg-Suchen. David Foenkinos schreibt wie gewohnt flüssig, klug und gewitzt und überrascht mich mit amüsanten, themenfremden kleinen Einschüben, die nicht ganz so originell sind wie bei Nathalie küsst, die ich aber trotzdem grandios finde. Sie bringen mir Interessantes über die Romanfiguren, aber auch über Presönlichkeiten wie Francis Scott Fitzgerald oder Serge Gainsbourg näher. Inhaltlich kann ich mich jedoch nicht so richtig festhalten an diesem Buch. Ich fühle mich auf meinem Spaziergang seltsam verloren, und als metaphorisch gesehen der Winter beginnt, bricht die Realität mit ihrem tausendfach dargestellten Alltag herein und erzählt mir Trostloses: dass Menschen depressiv werden, weil sie ihr Leben nicht ertragen, dass Träume sich verflüchtigen und dass die Liebe niemals bleiben kann. Desillusioniert und alles andere als verzaubert stehe ich da – die Sonne ist untergegangen, Nebel zieht auf, und mir ist kalt. Natürlich hat David Foenkinos Recht damit, was er mir auf so berührende, eindrucksvolle und emotionale Weise zeigt. Alles, was er sagt, stimmt: Der Lebensabend kommt für uns alle, ebenso wie der Tod. Aber ich vermisse etwas. Eine einzelne blaue Blume, die dem Wind trotzt. Ein letztes optimistisches Lächeln. Eine Erinnerung.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover passt von der Gestaltung her zum Vorgängerroman bei C. H. Beck, sehr sanfte Töne.
… fürs Hirn: das stets präsente Wissen um die Vergänglichkeit.
… fürs Herz: ach, alles, weil es uns Menschen immer so wehtut, jemanden gehen zu lassen, den wir lieben.
… fürs Gedächtnis:die Hoffnung, die ganz vorsichtig immer wieder um die Ecke lugt.

Souvenirs von David Foenkinos ist erschienen im C. H. Beck Verlag (ISBN 978-3-406-63947-0, 333 Seiten, 17,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Zwei Seelen wohnen – ach! – in diesem Buch
Dora und Luka lernen sich kennen, als sie zwei und er fünf Jahre alt ist: Die Begegnung ist so erschütternd, dass Luka ohnmächtig wird. Von diesem Tag an sind sie unzertrennlich, sie treffen sich an einem geheimen Felsen an der Küste ihres Heimatorts Makarska in Kroatien, sie beobachten die Wolken und verstehen einander mit Blicken. Die Luft verändert sich, wenn die beiden zusammen sind, und alle bemerken es. Doch dann greift das Schicksal in Form von Doras Eltern ein: Sie ziehen mit ihrer Tochter nach Paris. Der Schock betäubt Dora und Luka für Jahre, beide vermissen einander so sehr, dass sie den Schmerz tief in ihrem Inneren vergraben – zusammen mit der Erinnerung. An den Felsen, an die Wolken, an den Geruch des Meeres. Bis zu einem denkwürdigen Tag 16 Jahre später, als das Leben sich wieder gnädig mit Dora und Luka zeigt und sie in Paris erneut zusammenbringt. Doch diese Laune des Schicksals hält nur drei Monate, bevor sie erneut umschlägt und Dora und Luka sich widrigen Umständen gegenübersehen, die ein Zusammensein verhindern. Das ist schlimm. Aber schlimmer noch ist: dass die Liebe nicht aufhört.

Nataša Dragnić, die selbst in Split geboren ist und in Deutschland lebt, hat mit Jeden Tag, jede Stunde einen sehr dramatischen Liebesroman geschrieben. So groß ist die Liebe zwischen Dora und Luka, dass Luka regelmäßig sprichwörtlich die Luft wegbleibt und sogar ich mich schon ein bisschen erdrückt fühle. Als die beiden noch Kinder sind, ist ihr Umgang miteinander spielerisch und geschwisterlich, doch selbst da ist ihre Liebe schon schwer wie ein Anker. Niemals hätte jemand die beiden trennen sollen, denn sie können ohne einander zwar existieren, aber nicht zufrieden sein. Schon früh entdecken beide ihr jeweiliges Talent und machen daraus später ihre Berufe: Luka hat Erfolg als Maler, Dora wird eine großartige Schauspielerin. Alles fällt ihnen leicht, und alles scheint vorgezeichnet zu sein: wer sie sind, und dass sie zusammensein müssen. Doch Nataša Dragnić macht es ihren Protagonisten alles andere als einfach.

Die Autorin arbeitet sehr stark mit dem Stilmittel der Wiederholung. Das mag ich prinzipiell sehr, ist mir im vorliegenden Fall aber einfach zu viel. Genau wie die ständige Betonung darauf, wie übermächtig und bedeutend diese Liebe ist, wie viel Pathos – gewürzt mit Gedichten von Pablo Neruda – und Ausweglosigkeit in ihr stecken. Ihre ganze schriftstellerische Kraft gebraucht Nataša Dragnić, um mir klarzumachen, dass Dora und Luka Seelenverwandte sind. Ich bin auch eine Zeitlang geneigt, ihr das zu glauben, doch mir kommen Zweifel, als sich herauskristallisiert, dass eine sooo gewichtige Liebe sooo banale Hindernisse nicht überwinden kann. Dora und Luka verhalten sich ab einem gewissen Zeitpunkt derart konträr zu ihren angeblich so großen Gefühlen, dass ihre Beziehung zeitweise zu einer reinen Bettgeschichte degradiert wird. Das ist nicht schön. Und als eine unerwartete Wahrheit ans Licht kommt, fühle ich mich – wie Luka – doch ein bisschen verarscht. Trotzdem sonne ich mich während des Lesens in den funkelnden Strahlen, die von dieser Liebesgeschichte ausgehen. Die Leichtigkeit, die manchmal zwischen Dora und Luka liegt, passt zu meiner Urlaubsstimmung, denn ich habe diesen Roman am Strand von Kroatien gelesen, wo ich mir den Felsen der beiden und ihre Wolkenbilder gut ausmalen konnte. Meine Zuneigung galt diesem besonderen Paar, dem die Autorin so viel Hoffnung gibt und dem sie dann so übel mitspielt. Sie kann wunderbar schreiben, und ihr Stil hat mir sehr zugesagt. Aber ich hätte mir einfach mehr Übereinstimmung zwischen der Größe der Liebe und ihrer Lebbarkeit gewünscht. Deshalb endet Jeden Tag, jede Stunde in meinem Kopf ganz anders.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover gefällt mir gar nicht, das Foto ist auf merkwürdige Weise angeschnitten und zeigt nur eine Frau statt ein Paar. Der Titel stammt aus einem Gedicht von Pablo Neruda.
… fürs Hirn: ich kann nicht glauben, dass eine Liebe, die zu Ohnmachtsanfällen führt, gesellschaftliche Konventionen nicht besiegen kann.
… fürs Herz: eine Achterbahn der Gefühle. Um es mit Goethe zu sagen: himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.
… fürs Gedächtnis:das andere Ende in meiner Fantasie.

Gut und sättigend: 3 Sterne

„I live in a strange place in the world. I live in the space in between people”
Budo ist ein erfundener Freund, und er ist schon seit fünf Jahren am Leben. Das ist ein hohes Alter in der Welt der imaginären Freunde, von denen manche nur ein paar Tage oder Wochen leben – solange sie eben von dem Kind benötigt werden, das sich den Freund erdacht hat. Budo ist der Freund von Max, und der braucht ihn sehr. Denn das Leben ist ein bisschen schwierig für Max, weil er mit Menschen nicht gut umgehen kann, weil er sie oft nicht versteht und spezielle Lernhilfen braucht. Und weil niemand ihn mag. Budo hatte das Glück, dass Max ihn sich wie einen Menschen vorgestellt hat, denn oft sehen die imaginären Freunde aus wie ein Kuscheltier oder ein Löffel, und ihnen fehlen wichtige Gliedmaßen. Inzwischen kennt er sich aus in der Welt der Menschen und weiß, dass nur Max ihn sehen und hören kann. Das stört ihn für gewöhnlich nicht, doch es wird zum Problem, als Max in große Gefahr gerät und nur Budo weiß, was ihm zugestoßen ist. Denn er kann es niemandem sagen und muss seinen ganzen Grips aufwenden, um Max zu helfen …

Matthew Green hat eine sehr traurige, abenteuerliche und amüsante Geschichte über einen kleinen Jungen geschrieben, den es gar nicht gibt. Budo kann die Welt nur betrachten und nicht an ihren Geschehnissen teilhaben. Anfangs verstand er nicht, warum niemand mit ihm sprach, wünschte sich liebevolle Eltern und hatte Angst davor, wieder zu verschwinden, sobald Max ihn nicht mehr brauchen würde. Was er mittlerweile über das Leben als imaginärer Freund weiß, gibt er an Kollegen weiter, wenn er zufällig welche trifft, damit sie nicht so einsam sind. Budo ist klüger als Max und hilft ihm durch den Alltag, der für Max so viele Hürden hat. Max‘ Eltern sind oft überfordert, weil sie gern einen normalen Jungen hätten und nicht wissen, wie sie Max unterstützen können. Er mag keine Berührungen und ist in allem ein bisschen langsamer als die anderen. Deshalb wird er zum Ziel von Gewalt – und nur Budo kann ihn retten, muss dafür jedoch ein großes Opfer bringen.

Matthew Green hat sich sehr bemüht, mit der Stimme eines Jungen zu erzählen und dabei glaubwürdig zu sein. Das ist ihm so gut gelungen, dass mir der Roman zum Großteil zu kindlich ist. Die Sätze sind extrem einfach, es gibt sehr viele Wiederholungen, und auch wenn es nur logisch ist, dass der Autor sich an das Niveau eines Kindes halten muss, ist das für mich bei der Lektüre ganz einfach zu wenig Herausforderung. Budo bringt mich zum Lächeln, und seine Geschichte ist rührend, wäre aber vom Inhalt her im Kinderbuchsektor besser aufgehoben gewesen. Sehr nett und märchenhaft, aber trotzdem unglaubwürdig ist zudem, dass Max mit Budos Hilfe vom lernschwachen Jungen zum mutigen Superheld wird, was dem Buch ein actionreiches Ende beschert und Spaß beim Lesen macht, aber auch ein wenig dämlich ist. Natürlich konnte ich nicht anders, als Max und Budo ins Herz zu schließen, weil sie so unbedarft, chaotisch und liebesbedürftig daherkommen. Gekauft habe ich das Buch wegen des tollen Titels und weil der Klappentext den Autor mit Mark Haddon und Emma Donoghue vergleicht. An beide reicht er jedoch nicht heran.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
mir gefällt die Schrift, ansonsten finde ich das Cover langweilig.
… fürs Hirn: die Kraft der Fantasie – und der schöne Blickwinkel, der sich durch die Erzählung eines imaginären Kindes ergibt.
… fürs Herz: die ganze Geschichte ist herzerwärmend.
… fürs Gedächtnis: wie liebevoll der Autor mit seinen kleinen Figuren umgegangen ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Nacktes Überleben
„Wolken schienen an den weit entfernten Bergen zu zerbrechen, dunkle rollende Massen, die von Gipfeln zerrissen wurden und den blauen Himmel grimmig befleckten. Frostiges Nass fiel, nicht als Schneeflocken oder Regen, sondern in winzigen weißen Knäueln, die beim Aufprall zu Tropfen zerstoben und in plötzlichem Glanz auf dem Schnee gefroren. Der Wind, der sie brachte, rüttelte am Wald, ließ die Äste gegeneinanderschlagen, und dieser wild klopfende Lärm trug weit. Ab und zu gab ein zitternder Ast nach, brach vom Stamm und fiel mit einem letzten Knurren zu Boden.“ Derart unwirtlich präsentiert sich die Welt dort, wo die 16-jährige Ree Dolly mit ihrer weggetretenen Mutter und ihren kleinen Brüdern lebt, im Hinterland von Missouri. Die Dollys sind bekannt für ihre Fähigkeiten als Meth-Köche und für ihre Gewalttätigkeit. Rees Vater Jessup ist ebenfalls Meth-Spezialist und ein Junkie, und er ist verschwunden. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, doch er hat das Haus der Familie für seine Kaution verpfändet, und wenn er seine Haftstrafe nicht antritt, steht Ree mit der geisteskranken Mutter und den Buben mitten im härtesten Winter vor dem Nichts. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als ihren Vater zu suchen – was dazu führt, dass die gewissenlosen Menschen der Gegend, statt ihr zu helfen, sie zum Schweigen bringen wollen …

Winters Knochen von Daniel Woodrell ist ein Buch der Extreme, trocken wie ein Bachbett, an dessen Ufer man verdurstet, und lieblos wie ein Schlag ins Gesicht. Davon steckt Ree auf ihrer Suche einige ein, denn in der abgefuckten Gegend, in der sie aufwächst, schreckt absolut niemand davor zurück, zuzuschlagen oder gar zu töten. Es herrscht Hunger, die Kälte ist unbesiegbar, Zukunftsperspektiven gibt es keine. Eilig zusammenverheiratete Teenager hausen mit ihrem ungewollten Nachwuchs im Wohnwagen. Ree kann nicht in die Schule gehen, weil sie sich um ihre Brüder und ihre unfähige Mutter kümmern muss, und ihr größter Traum, von dort fort und zur Armee zu gehen, wird sich wohl nie erfüllen. Der US-amerikanische Autor Daniel Woodrell erzählt von einem Ort, an dem es zugeht wie in der Dritten Welt, obwohl er sich mitten im wohlständigen Amerika befindet. Hier schert sich niemand um nichts, es geht ums nackte Überleben.

Protagonistin Ree kann es sich nicht leisten, eine 16-Jährige zu sein, die sich ihrem Alter entsprechend jugendlich-pubertär verhält. Auf ihren Schultern lastet all die Verantwortung, die die egoistischen Erwachsenen achtlos fallengelassen haben. Während ich mit ihr durch das verschneite, leblose Tal stapfe, kommt es mir vor, als sei ich an einem der Enden der Welt gelandet, wo Gerechtigkeit, Hoffnung und Schönheit niemals hinkommen. Das Leben hier ist Dreck. Sehr direkte, knallharte Worte findet Daniel Woodrell für die Geschichte rund um Verrat, Drogen, Aussichtslosigkeit und Verlust. Sein sparsamer, reduzierter, alltagssprachlicher Stil passt perfekt zum Inhalt. Es ist logisch, dass Winters Knochen mich deprimiert, denn es ist nichts Freudvolles an diesem Roman – weil es eben im Leben vieler Menschen keine Freude gibt, weil nicht einmal und schon gar nicht die Drogen sie glücklich machen können. Und es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass ich dieses trostlose, dunkle Elend am Ende des Buchs verlassen kann. Sehr beklemmend, inhaltlich mächtig, ein Buch der lauten Töne und Drohungen, in dem die leise Traurigkeit am meisten brüllt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist düster und passt gut, aber wo ist der Schnee?
… fürs Hirn: die Ausweglosigkeit mancher Orte, die so wirken, als führte keine Straße von ihnen weg, sondern maximal im Kreis herum.
… fürs Herz: Ree und ihre selbstlose Tapferkeit im Kampf gegen das beschissene Leben, um das sie nicht gebeten hat.
… fürs Gedächtnis: die Eindringlichkeit des Buchs.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Zehn herrlich skurrile Kurzgeschichten
Barbara freut sich, dass ihr etwas zurückgebliebener Sohn so gern in seinem neuen Baumhaus sitzt. Bis sie erfährt, was er dort treibt … Eine negative Überraschung erlebt auch Nina, die ihrer wagemutigen Freundin Irma nach Panama folgt und dort mit aller Kraft versucht, ihre siebentausend Ängste zu überwinden. Ellen lernt endlich ihren alten Vater kennen und hat ihm nichts zu sagen, und Rebecca muss sich von einer Großmutter verabschieden, die sie nie gekannt hat …

Viele Blogger rufen regelmäßig Challenges aus, bei denen man ein neues Genre entdecken oder viel Englisch lesen soll. Es ist zwar keine derartige Challenge, aber ich möchte an meiner Aversion gegen Kurzgeschichten arbeiten. Ich habe gemerkt, dass mein Leseverhalten sich verändert hat, dass ich jetzt oft nur für kurze Zeitphasen lese und Short Stories vielleicht besser zu mir passen als früher, da ich für Stunden in einem Roman abtauchen wollte. Bei meiner Suche für die nächste Herausforderung bin ich über eine Empfehlung für Das Glück geht aus von Sonja Heiss gestolpert – und ich bin froh, dass ich ihr gefolgt bin. Die Stories der jungen deutschen Autorin sind tatsächlich so lakonisch, wie der Klappentext behauptet.

Mit ihrem ruhigen, geerdeten Erzählton tut die Autorin so, als sei in ihren Geschichten ja alles ganz normal – obwohl eigentlich nichts normal ist, wenn man genauer hinschaut. In den vermeintlich banalen Alltagsmomenten finde ich mich zum Teil wieder oder kann sie mir zumindest lebhaft vorstellen – doch Sonja Heiss hat meist eine kleine Überraschung in petto, die mich verblüfft auflachen lässt. Ihre Geschichten entfalten keine nachhaltige Wirkung, sie stellen die Welt nicht auf den Kopf, aber sie sind amüsant, schlau, witzig und unterhaltsam – genau das Richtige, um zwischendurch minutenweise oder eine halbe Stunde lang zu lesen. Das bedeutet aber nicht, dass Das Glück geht aus leichte, oberflächliche Kost ist, im Gegenteil: Die Lebensweisheit steckt im Detail. In jeder Story verbirgt sich eine authentische kleine Botschaft darüber, dass der Anschein niemals die Wahrheit ist. Ist doch normal.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
sehr lustiges Cover, schön abgefuckt.
… fürs Hirn: dass Lebenswahrheiten nicht immer groß, pathetisch und metaphorisch sein müssen, sondern auch stimmen, wenn sie das Gegenteil sind.
… fürs Herz: all die tragikomischen, tapferen, lebensechten Figuren.
… fürs Gedächtnis: die Geschichte “Sprich mit mir”!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Die Mama wird’s schon richten
“Wie toll wäre es, wenn Mutterschaft wieder normal wäre? Es nervt, dass alles, was mit ihr zu tun hat, emotional und moralisch so extrem aufgeladen ist. Jeder Hans und Franz weiß es besser als die Mutter, und statt einfach mal die Klappe zu halten, posaunen alle ihre Meinung ungefragt heraus, nie ohne vor Spätfolgen durch mütterliche (Fehl-)Entscheidungen zu warnen.” Sagt eine, die es wissen muss: Rike Drust. Die erfolgreiche Werbetexterin hat die Gesamtausgabe all ihrer Muttergefühle zu Papier gebracht – und zwar auf offene, ehrliche und witzige Weise. Als ihr Sohn Oskar zur Welt kam, war sie überrascht von der Bandbreite der Emotionen, die auf sie einstürmten, denn nicht alle davon waren positiv. Wenn ein Kind geboren wird, soll gemäß den Erwartungen Friede, Freude, Eierkuchen herrschen bei der frischgebackenen Mutter. Oft ist es jedoch nicht so, Schlafmangel und Ratlosigkeit mischen sich mit dem Glück und der Liebe. Oder das Glück und die Liebe sind noch gar nicht da. Rike Drust suchte zur Lichtung des Gefühlschaos ratgebende Bücher, fand aber keine, die das Tabuthema Mutterschaft schonungslos behandelten. Also beschloss sie: So ein Buch muss sie selbst schreiben.

Klar ist, dass Rike Drusts Muttergefühle. Gesamtausgabe dringend nötig war. Klar ist auch, dass es sich bei diesen Gefühlen um die der Autorin handelt, weshalb das Buch sehr subjektiv ist. Ratgeber ist das keiner. Und das ist auch gut so! Denn Rike Drust gibt Einblick in das Leben mit Kind und erzählt einfach frei Schnauze, wie es eben ist, wenn da plötzlich ein hilfloses, abhängiges Menschlein rund um die Uhr versorgt werden muss. Sie berichtet, wie es sich anfühlt, wenn der Sohn etwas so Tolles macht, dass man vor Stolz ohnmächtig werden möchte, und wie schwierig es ist, Mamasein und berufliche Erfüllung zu vereinen – und dabei auch noch eine liebevolle Ehefrau zu bleiben.

Ich habe aus ganz persönlichen Gründen zu diesem Buch gegriffen (und wegen der schwärmerischen Rezension der Bibliophilin): wegen meiner eigenen Muttergefühle. Mein Sohn ist etwa so alt wie Rike Drusts Oskar zum Zeitpunkt des Schreibens. Und ich erkenne natürlich viele Situationen wieder, zum Beispiel: “Früher konnte ich mir nicht vorstellen, dass man mit einer Zahnbürste in der Hand so unglücklich hinfallen kann, dass sie durch die Nase direkt ins Hirn sticht. Heute ist das eine meiner leichtesten Übungen.” Ich muss sogar ein paar Mal laut lachen – und das ist etwas, das mir beim Lesen eigentlich nie passiert. Aber man merkt, dass Rike Drust Texterin ist und ihr Geld mit Worten verdient. “Mit der Geburt bekam ich nämlich nicht nur ein Kind, sondern auch eine Eintrittskarte in eine neue Welt, in der meine Hemmschwelle für Peinlichkeiten niedriger ist als die eines Nacktradlers” bringt mich zum Schmunzeln, genau wie: “Und nach der Geburt fing ich an, mit meinem Sohn zu sprechen, und zwar bereits in einer Phase, in der zwischen seinen Ohren so viel los war wie im Bücherregal von Claudia Effenberg.” Das Buch schenkt mir nicht nur neue Lachfalten, sondern auch eine andere Sicht auf mich selbst: Ich merke, dass ich eine viel geduldigere und entspanntere Mutter bin, als ich bisher dachte. Und jedem, der – wie ich auch stellenweise – sich manchmal denkt, dass die Autorin auf hohem Niveau jammert, nimmt sie geschickt den Wind aus den Segeln, indem sie genau das vorschlägt: mit den Augen zu rollen und sich über sie aufzuregen. Letztlich ist dieses Buch wie das Gespräch mit einer guten Freundin, die ebenfalls Mutter ist und die den wohltuenden Satz sagt: “Ach Gott, ja, das ist bei uns genauso.”

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja. Immerhin ist das Cover nicht kitschig.
… fürs Hirn: viele lustige Situationen. Und vieles, mit dem man nicht übereinstimmen muss. Fürs Gehirn also einfach nur: Entspann dich mal!
… fürs Herz: die Liebe und das Glück, wenn sie dann doch noch kommen (oder von Sekunde 1 da waren).
… fürs Gedächtnis: das Gefühl, nicht allein zu sein mit all den Emotionen, die das Muttersein mit sich bringt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein hochpubertärer Sommer
Max ist 15. Und das an sich wäre ja eigentlich schon schlimm genug. Aber in jenem Sommer, in dem sein Vater anfängt, die Bilder von Max’ verschwundener Mutter schwarz zu übermalen, bringt die Hitze auch das Blut von Max’ bestem – und einzigem – Freund Jacob in Wallung, er verliebt sich in die Klassenschönheit. Und Max bleibt außen vor, weil die Pubertät ihn bisher übergangen hat, weil er kein Interesse an Partys hat und weil er einsam ist. Sein Vater verhält sich geheimnisvoll, der Großvater lebt im Altersheim und redet nur übers Wetter, und so bleibt Max niemand, mit dem er über seine Sorgen und Ängste sprechen könnte. Am liebsten vergräbt er sich in einem Buch über Insekten: “Wunderbare Insekten übte eine magische Macht auf mich aus. Wenn ich darin las, zum Beispiel das herrliche Kapitel über die Evolution der Insekten (>Grüße aus dem Paläozoikum<), vergaß ich alles, die Tristesse des Sommers, meinen Vater und den Psychofritzen, die Unterzucker-Aktion von Vanessa Weinhold, den Mappenwahn, einfach alles. Auch mich selbst." Aber noch bevor er zu Ende geht, hält der Sommer eine Überraschung für Max bereit: Er lernt ein Mädchen aus Wien kennen, das hübsch ist und klug und das sich für sein angesammeltes Wissen interessiert. Und dann ist sie plötzlich voll da, die Pubertät …

Elias Wagner erzählt in Vom Liebesleben der Mondvögel die Geschichte eines Teenagers, der mit seinen widersprüchlichen Gefühlen kämpft: Einerseits will er dazugehören, andererseits etwas Besonderes sein, seine Mutter fehlt ihm, aber darüber reden kann er nicht. Max selbst berichtet in der Ich-Form, und Elias Wagner, hat sich viel Mühe gegeben, die authentische Perspektive eines Fünfzehnjährigen zu schaffen. Ich denke, dass ihm das durchaus gelungen ist – denn ich habe den ganzen Roman über das Gefühl, ein Jugendbuch zu lesen. Das stört mich anfangs gar nicht, weil ich im Gegensatz zu vielen Blogger-Kollegen nie Jugendromane zur Hand nehme und durchaus offen für Abwechslung bin, doch nach einer Weile fällt mir auf, warum ich dieses Genre – dem Vom Liebesleben der Mondvögel offiziell gar nicht angehört – meide: Ich bin der Welt, die dieser Roman beschreibt, entwachsen. Ich kann mich erinnern, ich weiß, wie es war, so unerfahren und hilflos zu sein, den eigenen Gefühlen ohne Kontrolle ausgeliefert. Aber jetzt, da ich bald – oh Schreck – doppelt so viele Jahre zählen werde wie Max, scheinen mir all seine Probleme gegenstandslos, mit Ausnahme des Verlusts seiner Mutter. Elias Wagner hat sich dennoch meine Gunst erschrieben – mit einer ausgezeichneten, klangvollen, ernsten Sprache. Sehr erwachsen ist sein Ton, was das Buch für mich persönlich gerettet hat – mich aber gleichzeitig vor die nächste Schwierigkeit stellt: Für einen 15-Jährigen drückt Max sich übermäßig gewählt aus. Man spürt und hört und sieht den erwachsenen Autor hinter jedem Satz, weshalb Max zwar klingt wie ein Jugendlicher, aber wie ein sehr altkluger. Das lässt sich vielleicht durch sein Interesse für Naturwissenschaften erklären, aber nur bedingt, denn der große Nerd, als der er dargestellt werden soll, ist er in meinen Augen gar nicht; und er schreibt auch keine guten Noten, eine Intelligenzbestie verbirgt sich also nicht in ihm. Deshalb irritiert es mich, wenn er nie jemanden ansieht, sondern immer “auf die Foeva centralis” einstellt, “den Ort des schärfsten Sehens”, oder wenn seine “renitalen Zapfen” ihre “Probleme” bekommen, während er sich “ins Halbdunkel eines Waldes tastet”. Das alles wirkt auf mich ein wenig aufgesetzt und krampfig. Schön sind aber die schlauen Vergleiche der Menschen mit Insekten und die abgebildeten Käferlein im Layout.

In einem Textseminar habe ich einst gelernt, dass man sich von Sätzen, in die man sehr verliebt ist, meistens trennen sollte. In Vom Liebesleben der Mondvögel meine ich einige Sätze entdeckt zu haben, von denen ich glaube, dass Elias Wagner vielleicht ein bisschen zu sehr verliebt in sie ist. Einzig im Kapitel, in dem jeder Satz mit “Es war” beginnt, kann ich diese Verliebtheit nachvollziehen: Da erwischt sie mich auch. Was bleibt, ist eine sehr wohl lesenswerte, düster-traurige, anmutige Geschichte über einen jungen Menschen, der viel sucht und zumindest ein bisschen was findet, eine Geschichte, die mich zurückwirft in eine Zeit, in der alles dramatisch und mein Herz ein Pingbongball war.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein schöner Hingucker und themaptisch passend.
… fürs Hirn: der Gedanke: Gott sei Dank werde ich nie wieder 15 sein!
… fürs Herz: Max und seine Tapferkeit, wie er mit dem Verlust der Mutter und dem Schmerz des Vaters umgeht. Sehr anrührend!
… fürs Gedächtnis: das “Es war”-Kapitel.

Vom Liebesleben der Mondvögel von Elias Wagner ist erschienen bei Hoffmann & Campe (ISBN 978-3-455-40356-5, 240 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Krissi Donald is back!
Endlich ist ihr Leben im Gleichgewicht: Krissie wurde nach ihren blutigen Abenteuern in Dead Lovely von ihren Eltern aufgenommen, führt eine wunderbare Beziehung mit dem rücksichtsvollen Chas und ist eine liebevolle Mum für den inzwischen dreijährigen Robbie, der sie als Säugling fast in den Wahnsinn trieb. Da alles so gut läuft, verlassen die drei Krissies Elternhaus, ziehen in eine eigene Wohnung und versuchen, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen: Maler Chas bereitet sich in seinem Atelier auf seine erste Ausstellung vor, Robbie ist entweder bei ihm oder im Kindergarten und Krissie nimmt einen Job als “criminal justice social worker” an. Die ersten zwei Männer, die sie zugeteilt bekommt und für die sie ein Gutachten erstellen muss, sind ausgerechnet ein Kinderschänder und ein vermeintlicher, noch nicht verurteiler Mörder. Er heißt Jeremy, und Krissie kann sich nicht vorstellen, dass dieser attraktive, freundliche, verzweifelte junge Mann seine Schwiegermutter brutal niedergestochen haben soll. Deshalb beginnt sie nachzuforschen, lernt Jeremys Frau Amanda kennen und lässt sich so sehr von diesem Fall vereinnahmen, dass sie Chas und Robbie darüber vernachlässigt. In ihrer grenzenlosen Naivität erkennt Krissie nicht, dass der Job in ihrem Leben Überhand nimmt – und zwar nicht metaphorisch, sondern auf sehr direkte, grausame Weise …

My last confession ist der Nachfolger von Dead lovely und, wenn auch weniger splatterig, genauso spannend. Helen Fitzgerald lässt erneut ihre sympathische, hochneurotische und leicht verrückte Heldin Krissie Donald als Protagonistin auftreten – und serviert ihr eine weitere Ladung Mord und Totschlag. Dass Krissie mit mordlustigen Menschen und pädophilen Männern zu tun hat, ergibt sich aus ihrem extem anstrengenden Job, dass diese Mörder und Psychopathen sie und ihre Familie bedrohen, ergibt sich aus ihrer unfassbaren Unfähigkeit, sich aus etwas herauszuhalten und die Gefahr zu erkennen. Da ich als Leserin der Perspektive von Krissie folge, weiß ich selbst zuerst nicht, wer eigentlich mit wem ein falsche Spiel treibt. Aber Helen Fitzgerald gibt mir früh genug die Möglichkeit, es zu erahnen, damit ich mich ausreichend um Krissie sorgen und beim blutrünstigen Showdown mitfiebern kann. Lyrische Satzperlen darf man sich in diesem Buch nicht erwarten, Fitzgeralds Stil zielt eher darauf ab, leicht und schnell den Inhalt zu transportieren, zu unterhalten und zu amüsieren. Flapsig und ironisch ist der Ton, stets gibt Krissie sich selbst Ratschläge, an die sie sich dann nicht hält, und bringt mich zum Schmunzeln. Mit dem zweiten Teil ihrer Suspense-Reihe mit weiblicher Helding, den man allerdings auch gut lesen kann, ohne das erste Buch zu kennen, hat Helen Fitzgerald einen rasanten, witzigen, temporeichen und fesselnden Thriller vorgelegt. Wer das Genre mag, sollte diese Autorin unbedingt kennenlernen!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja. Des Covers wegen hätte ich den Roman nicht gekauft. Die deutschen Cover des Galiani Verlags sind viel schöner.
… fürs Hirn: die Frage: ist Jeremy unschuldig oder nicht? Und die Herausforderung, die Lügen zu durchschauen – auch die der Autorin!
… fürs Herz: Krissie selbst, weil sie glaubt, die tougheste Braut der ganzen Stadt zu sein, während sie in Wahrheit auf jedes Lächeln hereinfällt.
… fürs Gedächtnis: Anmerkung für die Erinnerung: Autorin im Auge behalten!?