Gut und sättigend: 3 Sterne

Adam„Die Welt bestand nur noch aus dem Rauschen des Meeres“
Paul Anderens Sohn ist neun, die Tochter sieben – und seine Frau Sarah ist verschwunden. Lange hofft und wartet er auf ihre Rückkehr, beißt die Zähne zusammen und erträgt die Häme der Polizei, die nicht an einen Unfall oder einen gewaltsamen Tod glaubt, sondern an eine entlaufene Ehegattin. Doch als Paul die Kraft ausgeht, zieht er mit den Kindern fort: „Wir mussten uns in Sicherheit bringen, ich sah keinen anderen Ausweg, ich bot das Haus zum Verkauf an, und jetzt waren wir hier, hier würden wir versuchen zu leben, in dieser Stadt am Meer, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, und ohne lange darüber nachzudenken, vertraute ich uns ihr nun an.“ Die Entwurzelung ist hart für die Kleinen, doch der Tapetenwechsel tut den drei Gestrandeten auch gut. Paul, der eigentlich Schriftsteller ist, aber keine Zeile mehr zustande bringt, hilft mehr schlecht als recht in der Fahrschule aus, die einst seinem Vater gehörte und die sein Bruder nun führt. Das Meer gibt sich Mühe, die Trübsal aus Pauls Leben zu blasen, doch die Ungewissheit darüber, was mit Sarah geschehen ist, erschwert ihm jeden Atemzug. Bis zu jenem Tag, an dem er endlich die Wahrheit erfährt.

Der erfolgreiche französische Schriftsteller Olivier Adam entwirft in Gegenwinde die Geschichte einer Familie, die keine Familie mehr ist, weil ein wichtiges Mitglied fehlt: Ehefrau und Mutter Sarah. Ihr Verschwinden lähmt Ich-Erzähler Paul vollkommen, und die Kinder wissen kaum wohin mit ihrem Kummer. Ihr Leid und ihre Ratlosigkeit mit anzusehen, ist schmerzhaft für mich, und es gelingt Olivier Adam sehr eindrucksvoll, den Schmerz der drei Zurückgebliebenen zu transportieren. Auch der Rahmen – ein rauer Ort an der französischen Küste – ist exzellent gewählt, die Atmosphäre ist geheimnisvoll, unberechenbar und trügerisch wie das Meer. Ich spüre schnell, wie die Unruhe, die den Protagonisten umtreibt, auf mich überspringt und mich durch den Roman hetzt. Ich will weiterkommen auf der Suche nach des Rätsels Lösung, will wissen, wo Sarah ist. Und als ich es erfahre, wird der Schmerz noch größer. Auf den Punkt gebracht ist Gegenwinde kein schönes, positiv gestimmtes oder gar heiteres Buch, im Gegenteil, es geht darin um Verlust und Trauer, um die Anstrengung, die es kostet, jeden Morgen aufzustehen und weiterzumachen, wenn man eigentlich liegen bleiben und sterben möchte. Paul ist ein Held im Kleinen, er ist tapfer und mutig, er trägt die Bürde der Verantwortung für seine Kinder, und er liebt sie so sehr, dass er ihretwegen durchhält, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Olivier Adam beschreibt einen Schmerz, der wie eine wilde Katze beißt, und eine jener Wahrheiten, die nichts besser machen. Ein Leseerlebnis, das einen nicht so schnell verlässt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein mysteriöses Bild, das zur rätselhaften Stimmung des Romans passt.
… fürs Hirn: das Wissen, dass wohl nichts schlimmer sein mag als die Ungewissheit.
… fürs Herz: Pauls Liebe zu seinen Kindern sowie deren Traurigkeit.
… fürs Gedächtnis: eine ganz unfassbare Niedergedrücktheit, die kein Ende nimmt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Chatelet„Wenn man seinem Schicksal begegnet, muß das ein Geheimnis bleiben. Das ist der Preis, den die Magie erfordert“
„Marthe hat soeben ihren ersten Liebesbrief erhalten. Sie ist siebzig Jahre alt.“ Und Felix, der Verfasser des Briefs, ist sogar noch zehn Jahre älter – aber so leidenschaftlich wie ein junger Mann. Die Begegnung mit ihm bringt Bewegung in Marthes beigefarbenes Leben. Zuvor hat das Schicksal ihr nicht viel Liebe beschert, sondern einen langweiligen Ehemann und zwei brave Kinder. Der Mann ist längst tot, die Kinder sind aus dem Haus, als Felix – der Mann mit den tausend Halstüchern – Marthes Alltag durcheinanderwirbelt. Er löst all jene Gefühle in ihr aus, derer sie sich gar nicht fähig glaubte. Aber darf man das überhaupt: sich Hals über Kopf verlieben, wenn man alt ist? Wie geht man um mit den skeptischen Blicken der Nachbarn und der Familie? Und was tun, wenn das Herz will, aber der Körper nicht mehr kann: „Was hat dieser erschöpfte Körper, der sie hemmt und hindert, mit der Leichtigkeit ihrer Seele gemein, die zu allen kühnen Taten bereit ist?“ Marthe tut endlich, was sie will und mit wem sie will. Und sie spürt: Vielleicht wird die Zeit umso intensiver, wenn man weiß, dass einem fast nichts davon bleibt.

Die Klatschmohnfrau von Noëlle Châtelet ist ein kleines würfelförmiges Punschkrapferl: süß und köstlich und klebrig und schnell weg. Ganz heiter und gelöst erzählt die französische Autorin von einer Liebe, die spät, sehr spät, aber gerade noch rechtzeitig kommt. Haut, die schon ganz fahl war, beginnt zu glühen, und zwei Leben, die schon ein bisschen angestaubt waren, kommen noch einmal in Schwung. Das ist schön und romantisch, nur ein klein wenig kitschig und wärmt ganz nebenbei das Herz. Protagonistin Marthe ist eine liebenswürdige alte Dame, cremefarben und gelangweilt, die durch die Begegnung mit Felix mit siebzig Jahren noch einmal oder überhaupt zum ersten Mal aufblüht – und ihre Vorliebe für Klatschmohnrot wiederentdeckt. Ich freue mich aufrichtig für sie und fiebere mit ihr mit, wenn sie sich aufgeregt auf ein Rendezvous vorbereitet, wenn sie zum Café eilt, um Felix zu sehen, wenn sie sich dem Musikgenuss oder der Liebe hingibt. Die Widrigkeiten, die ihnen das Leben entgegenstellt, sind schnell überwunden, und so zwinkere ich Marthe vergnügt zu, bevor ich sie mit ihrem späten, aber umso größeren Glück allein lasse. Und mir die Botschaft des Buchs in glühend goldenen Lettern mit nachhause nehme: Warte nicht, warte niemals, tu alles, was du willst, und tu es jetzt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja. Passt immerhin zum Titel, gibt aber sonst nicht viel her.
… fürs Hirn: ach, wer muss schon immer was zu denken haben!
… fürs Herz: da gibt es dafür umso mehr.
… fürs Gedächtnis: die diebische Freude über Marthes Verliebtheit.

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Wer nicht weiß, was er auf dieser Welt soll, ist zu allem bereit“
Als Till nicht zum Abitur an seiner Waldorf-Schule zugelassen wird, verkriecht er sich aus Trotz in seinem Zimmer. Anfangs wirkt es, als schmolle er einfach ein wenig, und alle haben dafür Verständnis. Aber Till kommt nicht mehr raus. Er trennt sich von seiner Freundin Kim, schränkt den Kontakt zu seinem besten Freund Jan auf ein Minimum ein, nimmt nicht mehr am Familienleben teil. Er wird zum Hikikomori, er sperrt sich selbst weg und verliert sich in der virtuellen Welt 0 im Netz, die gar nicht existiert und dennoch für ihn zum Rückzugsort wird. Die Eltern sind ratlos, die pubertierende Schwester ist mit Shopping und Liebschaften beschäftigt. Till verschließt sich also nicht nur vor der Außenwelt, er wird von ihr auch nicht behelligt. Doch wie lange kann ein junger Mann sich in einem leeren Zimmer vergraben? Und was geschieht, wenn seine letzte Verbindung zu anderen Menschen, das Internet, gekappt wird?

Kevin Kuhn, Jahrgang 1981 und somit noch jung zu nennen, hat sich in seinem Erstlingswerk mit einem Phänomen beschäftigt, das in Japan geprägt wurde und daher mit dem japanischen Ausdruck Hikikomori bezeichnet wird: dem gesellschaftlichen Rückzug eines Menschen, der sich der Welt komplett entzieht. Dafür mag es verschiedene Ursachen geben, der Auslöser im vorliegenden Buch ist auf jeden Fall der Umstand, dass der Protagonist seinem Schulalltag enthoben wird und seine Zukunftspläne fürs Erste vereitelt sind. Er reagiert darauf nicht impulsiv oder trotzig, sondern plant ganz gezielt, sich in seinem Zimmer, das er zuvor fast komplett ausräumt, einzumummen. Erstaunt und neugierig nehme ich neben ihm Platz und starre auf die Tür, die sich immer seltener öffnet. Draußen lärmt die Familie beim Essen, draußen regnet oder stürmt es, draußen entscheiden sich Tills Freunde für Studiengänge, aber er und ich bleiben drin. Nicht nur sein Verhalten, sondern auch das von Tills Eltern ist hochgradig befremdlich für mich: Die Kuratorin und der Schönheitschirurg sind finanziell gut gestellt, halten sich für intelligent und stark, sie reden über das Problem – aber sie bemühen sich nicht, es zu lösen, sie agieren nicht, nehmen Tills selbst auferlegte Einsamkeit hin. „In deinem Alter und in einer so fordernden Welt, die euch wirklich viel abverlangt, hätte ich bestimmt das Gleiche getan“, sagt die Mutter zur verschlossenen Tür. Ich will sie anbrüllen und zwingen, ihren Sohn aufzurütteln, aber als stiller Teilhaber des Geschehens bin ich dazu verurteilt, stumm zu bleiben.

Während der Lektüre frage ich mich, ob man nur Hikikomori werden kann bzw. das Dasein als solcher erträgt, wenn man eine Internetverbindung hat. Denn die Flucht ins Netz ist für Till die einzig logische und mögliche Handlungsweise. Ist er also wirklich allein? Ist sein Verhalten einfach eine Steigerung der heutigen freakigen World-of-Warcraft-Nerds? In Hinblick auf die Originalität des Romans finde ich es schade, dass Till mit dem Spiel Medal of Honor einem derartigen Klischee folgt und sich in einer digitalen Welt verliert, dass er zwischen Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden kann – was für mich im Widerspruch zu seiner Klugheit steht. Diese Welt soll frei sein von den Zwängen, denen Till unterlegt, frei von Verpflichtungen und Druck. In diesem Sinn ist diese Welt natürlich unwiderstehlich – nicht nur für Till. Je länger seine selbstgewählte Klausur dauert, umso langweiliger wird mir notgedrungen beim Zusehen, ich will mich bewegen, ich will springen und tanzen und schreien, ich will raus. Die aufgebaute Spannung verpufft für mich zum Großteil im Lauf des Romans, weil der große Konflikt, der Höhepunkt, ausbleibt. Als alles zu Ende ist, muss ich mich sammeln und den Gefühlen in mir nachspüren: Erschüttert bin ich, verwirrt, verärgert und hoffnungsfroh. Kevin Kuhn, der exzellent schreiben kann, hat in seinem Roman dem „modernen Jugendlichen“ porträtiert, der aus dem virtuellen Universum nicht mehr herausfindet. So bin ich erleichtert, als ich dieses mir fremde Universum verlassen darf – und freue mich umso mehr über meine Realität.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist ansprechend und hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: natürlich die Fragen, was einen 18-Jährigen dazu bringt, der Welt den Rücken zu kehren, welche Anteile Internet und Videospiele haben und was Eltern tun können.
… fürs Herz: eine große Traurigkeit wegen des Schweigens, des Fehlens von Zuneigung und Hilfe. Und die schöne Erinnerung an Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar.
… fürs Gedächtnis: die hochgradig krasse Badewannenszene auf der Party.

Hikikomori von Kevin Kuhn ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1116-9, 224 Seiten, 14,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Fettnäpfchen-Diving mit Anlauf
Manchmal kann aus einem winzigen Gefallen eine große Sache werden. Diese Erfahrung macht die junge Lula, die aus Albanien nach Amerika gekommen ist und bei Mister Stanley als Kindermädchen arbeitet – ein recht überflüssiger Job, denn Sohn Zeke ist schon 16 Jahre alt. Als Lula überraschend Besuch von ihr unbekannten Landsmännern bekommt – darunter der attraktive Rotschopf Alvo –, ist ihr gleich klar, dass diese sie mit ihrer Bitte in Schwierigkeiten bringen werden: „Winziger Gefallen konnte bedeuten, nach Dubai und zurück zu fliegen, beide Strecken Holzklasse, mit Dutzenden Kondomen voller Heroin im Arsch.“ Ganz so schlimm ist es nicht, aber trotzdem gefährlich: Lula soll eine Waffe verstecken. Obwohl sie ahnt, dass damit ein Verbrechen verübt wurde, tut sie es. Sie trifft sich außerdem mit Alvo, der ihr Avancen macht, und riskiert dadurch ihre Aufenthaltsbewilligung in den USA, an der ihr Anwalt fleißig bastelt. Um asylbedürftig zu wirken, erfindet Lula alle möglichen Geschichten über ihre Heimat. Und ahnt nicht, dass sie in den USA tatsächlich in Gefahr ist …

Lügen auf Albanisch ist ein kurzweiliger Roman über eine Protagonistin, die ebenso naiv wie sympathisch ist und von einem Fettnäpfchen zum anderen springt. Das Setting ist bekannt: Ein Mädchen kommt aus einem wirtschaftlich eher benachteiligten Land – mit Vorliebe aus dem Osten – nach Amerika, um wahlweise als Nanny zu arbeiten und/oder einen reichen Mann zum Heiraten zu finden. Im Fokus stehen dabei die kulturellen Unterschiede, die humorvoll geschildert werden. An diesen Masterplan hat sich Francine Prost gehalten. Ihre Romanheldin Lula wundert sich auf amüsante Weise über die amerikanischen Gepflogenheiten, vergleicht sie mit denen der Albaner und entlockt mir manches Schmunzeln mit Sätzen wie: „Albanische Adlereltern schubsten ihre Jungen aus dem Nest, sobald sie flügge waren, aber das taten sie vielleicht auch nur, um sicherzugehen, dass sie nach der Scheidung zurückkehrten.“

Nicht ganz feingeschliffen sind in meinen Augen die Dialoge, die pfiffiger hätten ausfallen können. Ziemlich originell ist dafür die Besetzung des Buchs: ein schweigsamer, an Liebeskummer laborierender, völlig ahnungsloser Mister Stanley, sein pubertierender Sohn Zeke, dessen abwesende und komplett durchgeknallte Mutter, ein albanischer Kleinkrimineller mit roten Haaren, seine dumpfbackigen Komplizen, eine verruchte Freundin und schließlich die hübsche, unbedarfte, tollpatschige Protagonistin. Da Lula meistens ihre gesamte Zeit allein im Haus ihres Arbeitgebers verbringt, kommt die Handlung nicht recht vom Fleck, weil einfach viel zu wenig passiert. Mit einem actionreichen Ende kann Francine Prost dieses Manko allerdings wieder einigermaßen ausbügeln. Ein wenig vermisst habe ich die ironische Schärfe, die in Romanen dieser Art oft üblich ist – wie etwa in Anya Ulinichs Petropolis – und die der Autorin trotz nachvollziehbarer Versuche nicht ganz gelungen ist. Spaß macht ihr Buch mit seinem bunt gemischten Haufen an schrägen Gestalten aber allemal, und das ist in diesem Fall die Hauptsache.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
carl’s books hat offenbar ein paar Covergestaltungstalente (man denke an den Hundertjährigen, der aus dem Fenster …)!
… fürs Hirn: hinter dem lustigen Schein auch allerlei Ernstes über Immigration, Verständigungsprobleme und Einsamkeit.
… fürs Herz: in Sachen Lovestory geht das Herz mit diesem Buch eher leer aus.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat, das die Verrücktheit des Romans auf den Punkt bringt: “Niemand ist sicher”, sagte Zeke, “wir haben Vollmond.”

Lügen auf Albanisch von Francine Prose ist erschienen bei carl’s books (ISBN 978-3-570-58511-5, 320 Seiten, 14,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Von den Masken, die wir alle tragen
„Man kann niemanden mögen. Menschen sind klein. Man muss sie durchschauen. Was tut ihnen weh? Was wollen sie? Man muss mit ihnen Schach spielen.“ Mit dieser Aussage bringt der Redakteur Ludwig seinen Charakter auf den Punkt: Er ist manipulativ und berechnend, emotional distanziert und kalt. Niemand weiß das besser als seine Freundin Anna, die mit Ludwig in Hamburg bei einer Zeitung arbeitet, die Beziehung aber auf seinen Wunsch geheim hält. Eigentlich hat Ludwig mit Anna Schluss gemacht. Trotzdem sitzt sie in der Nacht an seinem Bett und redet mit ihm, unsicher, ob er sie hören kann, denn Ludwig hat eine Menge Schlaftabletten geschluckt. Will er, der alle verachtet und über allen Dingen steht, tatsächlich nicht mehr leben? Macht vielleicht ein Leben voller Partys, Models, schicker Klamotten und Ruhm doch nicht glücklich? Oder hat es ihm so krass zugesetzt, was sein bester Freund über seine Artikel verraten hat? Anna kann sich keinen Reim auf Ludwigs Tat machen. Aber sie kann die Gelegenheit nutzen, dass er endlich einmal still ist, und ihm in aller Ruhe das erzählen, was sie ihm nie gesagt hat.

Arezu Weitholz schreibt in ihrem ersten Roman Wenn die Nacht am stillsten ist über einen Mann, Ludwig, der großkotzig, erfolgreich und dabei zutiefst einsam ist, und über eine Frau, Anna, die sich einer Gemeinschaft anpasst, zu der sie gar nicht gehören will, und die dadurch zu einem jener erbärmlichen Menschen wird, die „eigentlich ganz anders sind, aber nie dazu kommen“. Anna schleppt die Sorge um ihre kranke Mutter, den Selbstmord des Vaters und die Ungewissheit, was aus ihr werden soll, mit sich herum. Beim egozentrischen Ludwig kann sie nichts davon abladen, und trotzdem fühlt Anna sich zu dem emotionalen Eisbrocken hingezogen, womöglich, weil er ihr Gegensatz ist, oder weil sie die Hoffnung hegt, er könnte sich ändern, wenn die Gefühle ihn überwältigen. Anna nimmt ab, kauft die gleichen Klamotten wie die Mädchen in der Redaktion, verschweigt, wie viel Ahnung sie von Musik hat, und gibt das stille Mäuschen. Wie eine Maus in einem Experiment wird sie auch von Ludwig betrachtet, als er ihre Beziehung aus einer Laune heraus beendet. Was hat Anna bei ihm gesucht? Liebe wohl eher nicht, ein bisschen Ablenkung vielleicht schon eher. Dass er so unvermittelt zu Tabletten greift, kann sie nicht verstehen und zeigt ihr, dass sie ihn nicht im Geringsten kennt. Diese Verzweiflungstat lässt alle Geschehnisse in einem anderen Licht erscheinen.

Mit scharfem Blick und scharfer Zunge erzählt Arezu Weitholz eine lesenswerte Geschichte über Lebensentwürfe und ihr Scheitern. Allerdings erzählt sie dieselbe Geschichte zwei Mal. Im ersten Teil sitzt Anna an Ludwigs Bett, während er sanft in den Tod gleitet, sie holt nicht Hilfe, sondern berichtet von ihren Eltern, ihrem Aufenthalt in Südafrika, von dem Menschen, der sie wirklich ist oder gern wäre. Im zweiten Teil lässt die auktoriale Erzählerin Anna den Tag davor erleben, von dem diese bereits in Teilen gesprochen hat. Für mich hält der Rest des Buchs daher viele Details und schöne Sprachbilder bereit, aber ich vermisse eine inhaltliche Offenbarung. Arezu Weitholz hat eine lockende Stimme, die mich dazu bringt, aufzustehen und ihr neugierig nachzulaufen, sie hat einen angenehmen Stil und ein feines Gespür für die Zwischentöne. Zwar sind ihre Figuren Ludwig – von sich eingenommen, nach außen arrogant, innerlich verstört – und Anna – orientierungslos, folgsam, selbstzerstörerisch – reichlich klischeehaft, aber ich hab die recht düstere Geschichte über ihr Zusammentreffen und Auseinandergehen dennoch gern gelesen. Noch lieber wäre mir eine inhaltliche Schleife am Ende gewesen, eine Auflösung, eine große Stimmigkeit; auch den Funken, der in mir die Begeisterung entfacht hätte, habe ich vermisst. Geblieben ist aber Wohlwollen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
vom Stil her finde ich das Cover schön, die Farbgebung ist dagegen sehr unspektakulär.
… fürs Hirn: die Diskrepanz zwischen dem Verhalten der Menschen und ihren wahren Gefühlen.
… fürs Herz: der Kummer, der in jeder Zeile mitschwingt.
… fürs Gedächtnis: ein großes Aufatmen am Ende, als ich die Düsternis verlassen kann.

Wenn die Nacht am stillsten ist von Arezu Weitholz ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3-88897-775-6, 224 Seiten, 17,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Wenn uns jemand wirklich kennt, sind wir ganz wir, was immer der andere auch weiß, und sei es die finsterste Wahrheit“
Bran wurde von seinem Volk, das er einst als Marschall führte, auf eine einsame Insel verbannt. Dort lebt er seit zehn Jahren, hat sich angepasst an den Rhythmus der Natur. Was er zum Leben braucht, fängt er im Meer, um Feuer zu machen, sticht er Torf. An die Einsamkeit hat er sich, so gut es geht, gewöhnt, aber er denkt noch oft zurück an jenen Mann, seinen Nachfolger, der ihn verraten hat, und jene Frau, die er liebte. Brans Methoden als Marschall waren brutal und ohne Rücksicht auf alte und kranke Mitmenschen, sie sollte das Überleben der Mehrheit sichern – und brach ihm selbst politisch das Genick. Als eines Tages auf seiner Insel, die in zwanzig Jahren im Meer versunken sein wird, sein einstiger Widersacher und Kriegsgegner Andalus angeschwemmt wird, beschließt Bran, dass es Zeit ist, nachhause zurückzukehren. Er geht davon aus, gefangen genommen und hingerichtet zu werden. Nur mit einem rechnet er nicht: dass ihn niemand erkennt. Oder tun alle nur so? Inszenieren sie ein großes Schauspiel, um ihn zu täuschen? Wo ist seine Frau? Und warum spricht Andalus nicht? Bran hat das Gefühl, verrückt zu werden – und liegt damit vielleicht gar nicht so falsch …

Alastair Bruce nimmt mich in seinem ersten Roman mit in eine sehr archaische Welt in einer Zeit vor der Industrialisierung, als die Menschen von der Bewirtschaftung des kargen Landes lebten und der Natur verbissen abrangen, was sie benötigten. Bran war einst ihr Anführer – aber war er es wirklich? Wie sehr kann er seinen Erinnerungen trauen? Der Autor präsentiert mir einen Ich-Erzähler, dem ich anfangs notgedrungen jedes Wort glaube, bis mir – genau wie ihm selbst – Zweifel kommen. Auf die Erzählstimme ist kein Verlass, und das macht die Sache spannend, aber auch sehr verwirrend. Ab dem Zeitpunkt, da ich mit Bran in sein früheres Zuhause zurückkehre, verliere ich immer wieder die Spur, denn ich kann aufgrund der Perspektive nur seinen Schritten folgen, und er kennt den Weg selbst nicht. Was für ein Spiel wird in diesem Roman gespielt? Kreuzen sich Traum und Realität? Bran trägt schwer an seiner Schuld, die niemand mit ihm teilen will, und an den Entscheidungen, die er einst getroffen hat. Es dreht sich viel um Moral und Gesellschaftsmodelle sowie um das gezielte Auslöschen unangenehmer Erinnerungen.

Bei der Lektüre funkt mir meine Vorstellungskraft immer wieder dazwischen und zeigt mir auf amüsante Weise, wie sehr bereits gesehene Bilder prägen: Ich stelle mir Bran stets wie Tom Hanks in Cast Away vor, er hat in meiner Fantasie sein Gesicht als moderner Robinson, obwohl die Geschichte in einer apokalyptischen Fantasiewelt mit eher mittelalterlichen Zügen spielt. Ansonsten aber wird die Figur für mich nicht richtig greifbar. Bran berichtet mir seine Version der Geschichte, die aber augenscheinlich nicht stimmt, er rechtfertigt sich, er wiederholt sich, und ich weiß nicht, ob das, was er sieht, tatsächlich existiert. Das bedeutet: Die Wand der Zeit ist ein sehr ungewöhnliches, bildreiches, spannungsgeladenes, aber auch unklares und anstrengendes Buch. Einerseits ist die Sprache mächtig, die Beschreibungen sind sehr detailliert, andererseits geschieht im ganzen Roman insgesamt recht wenig, die Handlung kommt nicht vom Fleck. Das ist sehr schade, denn mit ein bisschen mehr Drive und einer handfesten Auflösung hätte Alastair Bruce mich wesentlich mehr begeistert. So bleibt ein immerhin originelles, aber letztlich unbefriedigendes Leseerlebnis.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein wirklich schönes Cover.
… fürs Hirn: vermutlich kann jemand, der zehn Jahre allein auf einer einsamen Insel lebt, gar nicht anders, als seinen Verstand zu verlieren.
… fürs Herz: das kleine Mädchen.
… fürs Gedächtnis: mein Bestreben, den Durchblick zu behalten – und mein Scheitern dabei.

Die Wand der Zeit von Alastair Bruce ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3-88897-774-9, 256 Seiten, 18,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Man erkennt sich selbst ja immer erst an seinen Taten, nicht an den hunderttausend Möglichkeiten, die es zuvor gab“
„Das Krankenhaus ist die Schleuse zwischen Leben und Nichtleben“, und hier treffen einander die Pariserin Hélène und der Amerikaner David. Sie beginnt gerade hoffnungsvoll mit einer In-vitro-Behandlung, er hat ein Trauma aus dem Krieg im Irak mitgebracht. Sporadisch laufen sie sich in der Klinik über den Weg, und nachdem sie erkannt haben, dass sie beide Gedichte lieben und sich sympathisch sind, nutzen sie alle paar Monate die Gelegenheit, sich zu unterhalten. Für beide läuft die Behandlung nicht wie geplant: Hélène erleidet mehrere Fehlgeburten, David kann seine depressiven Angstzustände nicht überwinden. Sie vertrauen sich einander an und werden zu „zwei Krüppeln, die sich gegenseitig stützen“. David macht Hélène über die Jahre hinweg Mut, sie begleitet ihn auf Spaziergängen und hört den Berichten von seinen grausigen Kriegserlebnissen zu: „Wissen Sie, woran ein Zivilist zu selten denkt, das ist, dass der Krieg nicht auf einem Sportplatz stattfindet, sondern mitten in der Welt, die dafür nicht gemacht ist. Da leben Menschen, Tiere, da gibt es eine Natur, und plötzlich rollen Panzer darüber hinweg, explodieren Häuser, wird die Erde umgepflügt und mit toten Menschen und Tieren gedüngt.“ Hélène und David sind Weggefährten, die einander helfen – und danach wieder auseinandergehen.

Der preisgekrönte deutsche Autor Michael Kleeberg erzählt in Das amerikanische Hospital vom Krieg und den gewaltigen Lücken, die er ins Leben reißt, von dem brennenden Wunsch nach einem Kind und einem Körper, der ihn nicht erfüllen kann – und von zwei Menschen, die im Leid des anderen das eigene Spiegelbild erkennen. In diesem Sinne ist seine Geschichte voll des Kontrasts zwischen Menschlichkeit und Wärme einerseits und der harten Realität der Weltgeschichte andererseits. Der Roman lebt von den Gesprächen zwischen Hélène und David – und diese Dialoge sind wohlfeil, intelligent, voll von belesenen Anspielungen, gewitzt und philosophisch. Kurz: Im echten Leben gibt es wenige bis gar keine Menschen, die sich stets auf derart elegante Weise unterhalten – schon gar nicht, wenn einer davon eine Fremdsprache sprechen muss. Vielleicht sollte mich dieser Umstand nicht stören, weil ich ja auch wiederum keine alltäglichen 08/15-Dialoge lesen mag, aber er tut es. Ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Roman allzu sperrig und konstruiert für mich ist.

Ich entwickle natürlich Sympathie für die zwei angeschlagenen Protagonisten, die sich in dem mitleidslosen, auf Ergebnisse ausgerichteten Betrieb einer Klinik wiederfinden und tapfer versuchen, nicht in ihre Einzelteile zu zerfallen. Aber ich fühle nicht mit ihnen mit. Michael Kleeberg hat die Perspektive eines Ich-Erzählers gewählt, der weder Hélène noch David ist, sondern ein außenstehender Beobachter, der bei keinem einzigen der im Krankenhaus stattfindenden Gespräche anwesend ist, sie aber bis ins Detail wiedergeben kann und der auch jede Gefühlsregung der beiden kennt. Als der Ich-Erzähler sich als jemand entpuppt, über den das ganze Buch lang in der dritten Person gesprochen wurde, bin ich ob dieses Tricks nicht überrascht, weil er meinen gefühlsmäßigen Eindruck, etwas stimme mit der verqueren, merkwürdig distanzierten Perspektive nicht, bestätigt. Nichtsdestotrotz ist Das amerikanische Hospital ein überaus kluges Buch, das sich an zwei unzusammenhängende, aber in ihrem Kern schmerzhafte Themen wagt: ein unerfüllter Kinderwunsch und schreckliche Gewissensbisse aufgrund der eigenen Beteiligung an einem Krieg. Zu lachen gibt es in diesem Buch für niemanden etwas, auch nicht zu lächeln. Dafür aber bereitet der Autor die wichtigsten moralischen Gedanken und Einwände, die Gegenargumente und möglichen Konsequenzen zur Thematik auf, und das ist sowohl interessant als auch informativ. Nur lebensecht und lebendig, das ist es nicht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
recht passendes, sehr pathetisches Cover.
… fürs Hirn: der Moment, in dem man vom Leben ausgebremst wird, weil es nicht so weitergeht, wie man es sich vorgestellt hat, weil man innehalten und sich neu ordnen muss.
… fürs Herz: die beschädigten Figuren von Hélène und David.
… fürs Gedächtnis: mein Gefühl, einem recht hölzernen Theater zuzuschauen, das nur dazu dient, einen moralischen Standpunkt zu vertreten.

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Es heißt, die Windböen an Sturmtagen seien die Toten, die keine Ruhe finden“
„Ich gehöre zu den Leuten, die man nicht sieht“, sagt die Ich-Erzählerin und sorgt auch ganz absichtlich dafür, dass das so bleibt: Sie verkriecht sich in La Hague, einer rauen Küstenstadt in der Normandie, lebt dort zusammen mit einem Bildhauer und seiner Schwester in einer WG. Sie verdient ihr Geld damit, die Vögel beim Kommen und Gehen zu beobachten, und sie ist gern allein. Sie hat einen Verlust erlitten, der sie ausgebrannt hat, die Liebe gibt es nicht mehr in ihrem Leben. Als der rätselhafte Lambert im Dorf auftaucht, ist bald klar, dass er nicht so fremd ist, wie er scheint: Er war als Kind schon hier und hat als Jugendlicher das Schlimmste erlebt, denn seine Eltern und sein kleiner Bruder sind bei einem Ausflug im Meer ertrunken. Nun will Lambert das Haus verkaufen und Abschied nehmen. Doch zuvor braucht er endlich eine Antwort auf die Frage, die ihn seit 40 Jahren quält: Hat der alte Théo damals tatsächlich das Licht im Leuchtturm ausgemacht? Ist er schuld am Tod von Lamberts Familie? Die Protagonistin spürt, dass Lambert ein Einsamer ist wie sie und fühlt sich von ihm angezogen. Nicht Verliebtheit entsteht zwischen ihnen, aber doch eine Art Einverständnis. Und sie entdeckt Überraschendes bei dem Versuch, Lambert zu helfen …

Die Brandungswelle von Claudie Gallay ist ein sehr melancholisches Buch. Die Ich-Erzählerin ist in dem rauen Küstenort keine Einheimische, aber sie verschmilzt perfekt mit dem Grau, dem Nebel, der Meeresgischt, sie hat in La Hague ein Zuhause für ihre Einsamkeit gefunden, die sie hier zelebrieren kann. Und ihre Geschichte war in Frankreich ein Bestseller, der sich auch in zahlreiche Länder verkaufte. Es geht um Abschied und Neuanfang, um den Tod und das Allein-Zurückbleiben. Und es geht um das Meer, das seine Toten niemals wieder zurückgibt. Die Brandwungswelle ist ein Roman, der von der Inszenierung und Hochstilisierung der Traurigkeit, der Abgeschiedenheit und der deprimierenden Atmosphäre lebt. Diese alles umfassende düstere Stimmung spiegelt sich in Sätzen wie: „Man sagt hier, der Wind sei manchmal so stark, dass er den Schmetterlingen die Flügel fortreiße“ oder „Am Abend, im Hof, das Sternenlicht in den Wellen. Zitternde Lichter. Wie ertrunken.“ Dominierend in Die Brandungswelle sind die Naturgewalten, denen der Mensch wenig entgegenzusetzen hat und denen er immer wieder seine Liebsten opfern muss. Dominierend ist auch der Schmerz, den dieser Verlust verursacht. Die Ich-Erzählerin trägt schwer an diesem Schmerz und daran, dass die Liebe sie verlassen hat – in Form jenes Mannes, den sie mit Du anspricht: „Ich wäre gern erstickt und mit dir begraben worden.“ Sie kann nicht verhindern, dass sie den ihr fremden Lambert, zu dem sie sich hingezogen fühlt, weil er ebenso leidet wie sie, mit ihrem verstorbenen Mann vergleicht: „Es hätte zehn seiner Hände gebraucht, um daraus eine einzige von deinen zu machen.“

Die Brandungswelle zieht mich hinunter. Derart schwermütig ist das Buch, dass ich ab einem bestimmten Zeitpunkt merke, wie ich mich mit aller Kraft gegen den eisernen Anker stemme, der mich auf den Meeresgrund sinken lässt. Ich will zurück ans Licht, ich mag nicht mehr. Dabei trifft Melancholisches meinen Lesegeschmack prinzipiell sehr gut – aber ich ertrage es nicht, 550 Seiten lang deprimiert zu sein. Andere Leser meinten im Austausch, es ginge bei diesem Roman eben um die Stimmung – aber dass die Stimmung gewaltig trübsinnig ist, das habe ich ja auch nach wenigen Seiten schon verstanden. Und inhaltlich bietet mir Die Brandungswelle nicht viel anderes als – durchaus plastische – Landschaftsbilder vom Meer, von Höhlen und den darin brütenden Vögeln, viele griesgrämige Einwohner und ein sehr wohl interessantes Rätsel, das ich aber gelöst habe, lange bevor das Buch zu Ende ist. Claudie Gallay schreibt sehr feinsinnig, eindrucksvoll und melodisch, und ich habe an ihrer schönen Geschichte nur auszusetzen, dass sie mir zu sehr mit grauen Schlieren durchzogen und mit depressiven Schüben durchwirkt war. Ich habe mich stellenweise sehr wohlgefühlt in dieser eleganten Sprache – und mich andernorts gelangweilt. Da nirgends Licht zu sehen war in dieser Finsternis, war die Reise übers Meer mit Claudie Gallay für mich sehr anstrengend. Ich weiß aber, dass Die Brandungswelle viele begeisterte Leser hat – verdienterweise, wie ich finde. Ich bin womöglich einfach zu ungeduldig.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
eine sehr schöne Idee mit den Wellen, die in der Form aussehen wie ein Mensch.
… fürs Hirn: die Trauer darum, jene Momente nicht ungeschehen machen zu könen, die uns viel gekostet haben.
… fürs Herz: sehr viel Schmerz, Traurigkeit, Einsamkeit, aber auch ein vorsichtig glimmendes Licht am Leeresufer.
… fürs Gedächtnis: die alles überschattende Schwere.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das Leben der Anderen
Diego kehrt wegen einer Augenerkrankung aus Shanghai nach Italien zurück, um sich operieren zu lassen. Er quartiert sich in der leerstehenden Wohnung seiner Eltern ein, die lange schon tot sind, seine Schwester lebt ebenfalls im Ausland. Diego ist ruhelos, verloren, einsam: „Nirgendwo erwartete mich etwas. Mein ganzes Leben lang war ich unterwegs gewesen, von einem Ort zum nächsten, so als würde ich mit jedem Ortswechsel um einen Zentimeter wachsen. Doch an diesem Abend fühlte ich, dass ich nicht mehr weiterwachsen konnte.“ Ablenkung von seinen Problemen findet Diego in der Besonderheit des elterlichen Telefons: Wird jemand im Haus angerufen, klingelt es – und Diego kann das Gespräch mithören. Zu seinem Glück telefonieren die Bewohner viel, und so lauscht er selbstvergessen ihren Berichten: Er erfährt, dass die schmächtige Agnese ihrem Freund die Nase gebrochen hat, dass die junge Giulia jede Mahlzeit auskotzt und dass Marta Brustkrebs hat. Diego hört diesen fremden Menschen jedoch nicht nur zu – er begegnet ihnen auch und drängt sich in ihr Leben. Während Marta sich über seine Aufmerksamkeit freut, hat Diego großes Interesse an Agnese. Er weiß mehr über sie, als Agnese ahnt – aber das Wichtigste weiß Diego über die junge Frau noch nicht …

Die italienische Bestsellerautorin Federica de Paolis greift in ihrem vierten Roman Ich höre dir zu eine geniale Idee auf: Ein Mann, der Ich-Erzähler Diego, kann die Gespräche seiner Nachbarn mithören. Und zwar nicht nur einseitig, weil es durch die Wände dringt oder weil jemand, wie heute allgemein üblich, neben ihm ins Handy brüllt – nein, Diego hört alles. Geheimnisse dringen an sein Ohr, die ihn nichts angehen und deshalb umso mehr faszinieren. Vor allem, da es sich um große Geheimnisse handelt, die entweder mit Sex oder mit dem Tod zu tun haben. Es ist ihm ein Leichtes, sich den Menschen, die er ausspioniert, zu nähern – und er braucht diese Menschen dringend, denn er ertrinkt in seiner Einsamkeit. So leer erscheint ihm sein Leben, dass er gar nicht merkt, dass er zwei Jahre jünger ist, als er denkt – alles ist ihm einerlei und nichts verändert sich, er könnte auch schon älter sein. Federica de Paolis zeichnet das Bild eines Mannes, der stets wie wild herumgehastet ist – und dann plötzlich, mitten im Schwung, abgebremst wird von der Glaswand, gegen die er knallt: von der Erkenntnis, dass er eigentlich ein ganz anderes Leben führen will. Die Autorin macht es ihrem Schützling aber nicht einfach: Sie vergrößert die Geheimnisse und weitet sie auf seine Familie aus.

Und hier verbirgt sich das Problem, das ich mit diesem pfiffigen, amüsanten und originellen Roman habe: Es gibt bestimmte Arten von Geheimnissen, die so klischeehaft sind, dass sie nicht einmal mehr in Seifenopern vorkommen sollten. Ein solches wird hier aufgedeckt, und ich winde mich vor Entsetzen und Enttäuschung. Denn abgesehen von dieser Kurve nach unten ging es mit diesem abgedrehten, melancholischen und ebenso leichten wie tiefgründigen Buch für mich anfangs steil nach oben. Die Figuren sind liebenswerte Chaoten, denen das Schicksal ein Bein stellt. Ich höre ihnen gern zu – und bin am Ende froh, dass mein Telefon nur ganz normal funktioniert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Frau mit Zopf gefällt mir, auch wenn ich ihr Abbild nicht mit dem Inhalt in Verbindung bringen kann. Die Coverfarbe finde ich bedenklich.
… fürs Hirn: man beschütze mich vor solchen Familiengeheimnissen!
… fürs Herz: so einiges, denn jeder der Charaktere hat mit gravierenden Problemen zu kämpfen.
… fürs Gedächtnis: die gute Romanidee.

Ich höre dir zu von Federica Paolis ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0475-0, 288 Seiten, 16,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das Korsett des Alltags
Eine Frau – von ihrem Vater als Kind „Katinka“ gerufen – hat eine entzückende Tochter namens Paula und führt mit Theaterkritiker Micha eine harmonische Ehe. Bis sie ihn eines Tages aus heiterem Himmel verlässt, in die Straßenbahn steigt, bis zur Endhaltestelle am äußersten Rand Berlins fährt und dort die heruntergekommene Kneipe namens Hellersdorfer Perle betritt. Am Tresen sitzt ein älterer Mann mit Hörgerät und Stock, der eine unerklärliche Faszination auf die Frau ausübt. Er befiehlt ihr, einen Rock zu tragen, wenn sie das nächste Mal kommt – und sie gehorcht. Von da an befiehlt der Mann der Frau so einiges, das sie befolgt: ein wahnsinnig enges Korsett anzulegen, zu Fuß durch halb Berlin nachhause zu gehen und sich willenlos von ihm nehmen zu lassen. Während ihre Freundin, die Schauspielerin Tina, sie mühevoll dazu überredet, in den Alltagstrott mit Micha zurückzukehren, merkt Katinka, dass nichts mehr so ist wie zuvor. Zwar will sie ihrem Kind ein glückliches Zuhause bieten – aber sie will auch zügellosen Sex mit dem Mann, den sie nie beim Namen nennt. Nun ist klar: Sie kann eine Zeitlang ein Doppelleben führen und beides haben, aber früher oder später muss sie sich entscheiden.

Katja Oskamp stellt in ihrem teils recht provokanten Roman die Frage: „Was wäre, wenn man allem Vertrauten den Rücken zukehrte, einfach so? Wenn man sich auf das Unerhörte einließe?“ Dann gibt sie mit ihrer Geschichte rund um die Ich-Erzählerin eine Antwort. Sie entspinnt einen Faden und verfolgt eine der vielen Möglichkeiten: Was kann alles passieren, wenn man es zulässt? Der Frau passiert eine Begegnung mit einem unattraktiven, älteren Mann, dem sie sich nicht entziehen kann. Und die Affäre mit ihm ist ihr sehr willkommen, denn sie fühlt sich in ihrer ruhigen, liebevollen Beziehung mit Micha kaltgestellt. Ganz plötzlich wird ihr langweilig, und sie will das, was sie hat, nicht mehr. Das ist verständlich, das ist menschlich, und auch ich kann mich – wie vermutlich jeder – zumindest ein Stück weit mit ihr identifizieren. Es geht also in Hellersdorfer Perle um das uralte Rätsel: Wenn das Feuer der ersten Liebe erloschen ist und man vor der Asche steht, wie kann man es wieder entfachen? Soll man es überhaupt versuchen? Oder lieber woanders ein neues entzünden? Das zu beurteilen, vermag weder Katja Oskamp noch ich. Sie bastelt aus dem Problem, vor dem viele Paare stehen, einen überraschenden, wilden, lasziven Roman, in dem geknurrt, geleckt und gevögelt wird – und in dem alle verletzt werden. Denn so einfach, wie es klingt, ist es freilich nicht, die eigene Ehe und das mühsam aufgebaute Glück zu zerbrechen. Es tut weh. Wobei es mich doch ein wenig wundert, dass im Verlauf der Handlung das, was zuvor unaussprechlich war – Sex mit einem anderen – auf einmal so normal wird. Die Frau ist unentschlossen, unfair und egozentrisch, Ehemann Micha gibt sich resigniert, lasch und völlig frei von Kampfgeist. Originell wird die Geschichte durch Katja Oskamps Schachzug, Katinkas Objekt der Begierde nicht wie ein junges Model, sondern wie einen alten Haudegen aussehen zu lassen, der noch dazu herrisch und unfreundlich ist. Klarerweise fällt es mir schwer, dessen Anziehungskraft nachzuvollziehen. Die Sexszenen sind in meinen Augen teilweise prickelnd und teilweise abstoßend. So bleibt abschließend zu sagen: Ich fand es aufregend, der Frau bei ihren Fahrten durch das nächtliche Berlin und ihrer Suche nach einem Abenteuer zu folgen – aber ich war sehr froh, dass ich dann nachhause zurückkehren konnte.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schön anrüchig.
… fürs Hirn: die Aufgabe, sich auf ewig mit der Frage zu quälen, ob die Monogamie sinnvoll ist.
… fürs Herz: eher wenig, die Herzen werden gebrochen.
… fürs Gedächtnis: mein eigener Widerwille beim Gedanken, mit einem Mann, der älter ist als mein Vater, ins Bett zu gehen.