Gut und sättigend: 3 Sterne

Schriber„Sehnsucht gibt den Füßen Flügel“
„Wer kennt sich aus in dem verworrenen Fadenknäuel, das Rosies Leben gewesen ist?“ Der Armenvogt des kleinen Schweizer Dorfs hört sie sich an, die wilden Geschichten des jüngsten Zuwachses im Armenhaus: Rosie ist zurückgekehrt in ihre Heimat, eine alte, exzentrische, verlebte Person, die sich als einst berühmte Burlesque-Tänzerin sieht und wohl doch nie mehr war als eine gewöhnliche Hure. Von ihrem Ziehvater wurde das kleine Rösli Mitte des 19. Jahrhunderts als Kind fortgeschickt ins ferne Amerika, wurde von der Ziegenwiese gejagt und musste sich aufmachen ins Ungewisse. Sie kam nur bis England und begegnete dort ihrem Schicksal in Gestalt des widerlich-charismatischen Theodor Fairchild Lent, der das unschuldig-zarte Wesen aufnimmt in seine Kompanie. Deren Star ist Julia Pastrana, die Affenfrau, die Monstrosität, die Theodor in einer Stadt nach der anderen als Fehltritt der Natur zur Schau stellt. Aus Rösli wird Rosie la Belle, die Assistentin, die durch ihre Makellosigkeit die Entstelltheit von Julia noch hervorheben soll. Lohn gibt es für beide keinen, Fairchild bereichert sich am Unglück dieser beiden Kinder, die die anfängliche Distanz irgendwann überwinden und sich ein bisschen anfreunden. Die Leute im Dorf sind genervt von der rauchenden alten Dame in Schlangenlederpumps, aber der Armenvogt lauscht gern ihren Berichten, die vielleicht nicht einmal wahr sind: „Ich habe Menschen schon immer bewundert, die das Einfärben grauer Tage beherrschen. Sie federn dahin. Nichts drückt sie nieder. Ihnen gehört das Grün an ihrem Weg. Ihnen gehören die Berge am linken Ufer, die Berge am rechten Ufer und der See dazwischen. Der Wind gehört ihnen, das Licht des Tages und das Dunkel der Nacht. So ein Mensch war Rosie.“

„Ein Mensch kann alles ertragen. Alles verzeihen. Nur nicht, dass er verachtet wird.“ Doch meist erträgt er auch das – wenn er keine Wahl hat. Davon erzählt Margrit Schriber in Die hässlichste Frau der Welt: Zwei Mädchen, so ungleich wie Tag und Nacht, sind einem Mann ausgeliefert, der sie ausbeutet. Julia, die Affenfrau, ist von so abartiger Hässlichkeit, dass ihr zu jener Zeit nichts anderes bleibt, als sich Kost und Logis als Jahrmarktattraktion zu verdienen, und Rosie wird mit nur 12 Jahren in die große Welt gejagt – ohne Geld und ohne Anhaltspunkt. Was also ist Verachtung im Vergleich zu Hunger? Theodor Fairchild Lent bekommt Bewunderung und sexuelle Gefälligkeiten, so viel er will. Über einen entstellten Menschen zu erzählen, der ob seiner Andersartigkeit als Monstrosität begafft wird, ist nicht neu – aber die Schweizer Autorin Margrit Schriber tut es immerhin auf recht originelle Weise. Sie wählt als Ich-Erzähler den Armenvogt, der so gar nichts mit der Geschichte zu tun hat und dessen Persönlichkeit dürftig bleibt. Er berichtet quasi aus zweiter Hand, was er von Rosie gehört hat – ein Erzählkniff, den ich eher kompliziert und unnötig finde. Völlig überrascht bin ich vom gestelzten und verqueren Stil, der vermutlich das Flair und die Ausdrucksweise des 19. Jahrhunderts wachrufen soll. Vielfach sind die Sätze sehr schön, aber insgesamt zwingen Perspektive und Geziertheit mich, auf Distanz zum Buch zu bleiben. Hauptperson Rosie la Belle wirkt in den Briefen, die sie unverständlicherweise ihrem Ziehvater schreibt, ohne je Antwort zu erhalten, schrecklich naiv und unglaubwürdig klug zugleich. Viel Gefühl bringe ich nicht für ihr Schicksal auf. Die hässlichste Frau der Welt hat durchaus faszinierende Aspekte und ist eine kuriose Mischung aus Märchen, Geschichtsexkurs und Gesellschaftsstudie. Ich hab es gern gelesen, aber das Feuer der Begeisterung hat sich nicht entzündet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr seltsam, sehr schön.
… fürs Hirn: die Sensationsgier der Menschen.
… fürs Herz: Grausamkeit.
… fürs Gedächtnis: wenig bis nichts.

Gut und sättigend: 3 Sterne

HulovaFicken, ficken, ficken für Geld
Die Dreizimmerwohnung ist eigentlich eine „Plastikfickstube“. Hierher kommen die Reibeisenbesitzer, um ihre Schwänze in das käufliche Reinstecksel zu stecken. Die Reinsteckselbesitzerin erfüllt für Geld alle Wünsche, lässt sich schlagen und bumsen, bläst und streichelt, bestellt ein zweites Extrareinstecksel, denn sie weiß über ihre Kunden: „Sie kommen in die Plastikfickstube, um sich ein bisschen Menschlichkeit abzuholen, und nicht, um sich irgendeinen Digifilm reinzuziehen, den sie anklicken und der ihnen vorgesetzt wird wie ein kalter Fisch dem Polarforscherhund.“ Abseits der kleinen Wohnung gibt es für die Reinsteckselbesitzerin nicht viel im Leben, und sie hat reichlich Muße, sich Gedanken zu machen über Männer, Frauen, Körperhygiene, das ganze Gedöns um den Sex und über das Leben im Allgemeinen: „Das Leben ist ja bekanntlich in kleine Teile aufgestückelt, genau wie eine Orange oder Torte. Der einzige Unterschied ist, dass das keine leckeren Dreiecke sind, sondern häufig ziemlich ungenießbare Jahre.“ Über ihre Kunden und deren zuweilen abartige Vorlieben kann sie nach jahrelanger Erfahrung allerhand sagen: „Meine Kunden haben ein gewisses Niewoh, und fürs Niewohvolle zahlen sie auch, und darum sind sogar die Grindigsten, mit denen ich mich treff, noch immer Kirschen auf der Torte von diesem Pack von Nuttenstechern“, und: „Wenn die nicht gewalttätig sind oder selbst Gewalt brauchen, leiden sie meistens an einer Störung des Urteilsvermögens in Bezug auf das Alter von der Reinsteckselbesitzerin – oder vielmehr vom niedlichen Fötzchenkindchen, weil die Muschiläppchen bei der Altersgruppe, auf die die ganz Speziellen abfahren, so arg wenig behaart sind wie ein frisch geschlüpftes Küken.“ Nun ja, schön ist es nicht, das Leben als Hure. Aber, so meint die Reinsteckselbesitzerin, es könnte schlimmer sein.

Petra Hůlová, die als eine der wichtigsten tschechischen Schriftstellerinnen ihrer Generation gilt, entwirft in diesem Buch eine Dreizimmerwohnung, in der über die Maßen viel gevögelt wird. Und bei der Beschreibung der schlafzimmerinternen Vorgänge ist sie äußerst explizit: Da werden saftige Fötzchen von willigen Zünglein geschleckt, Reibeisen stellen sich neugierig auf, wenn sie einen Schlag ins Gesicht hören, es gibt wolllüstige Wonnen, Gebläse und am Ende Finger, die Geldscheine zählen. Dieser Roman ist der Monolog einer Prostituierten, die sich Gedanken macht über ihren Job und die Männer, die sie für Sex bezahlen, über ihre Nachbarn und den Unterhaltungswert ihres Lebens als Fernsehserie. Ich mag es, dass Petra Hůlová ihre Ich-Erzählerin so direkt und unverblümt sprechen lässt, auch wenn die blumig-fantasievollen Metaphern und Euphemismen für tabuisierte Körperregionen und sexuelle Praktiken zuweilen ein wenig kindisch sind. Die Reinsteckselbesitzerin hat eine eigentümliche, verdrehte Art, sich auszudrücken, die diesen langen Monolog sprachlich originell macht. Freilich ist es aber auch anstrengend, einen ganzen Roman lang der lamentierenden Stimme einer Frau zuzuhören, die alles und jeden verurteilt, wie die Gesellschaft es mit ihr tut. An Direktheit, Witz und überraschenden Einsichten vermisse ich nichts, wohl aber an Handlung, denn davon gibt es – abgesehen von einem Dreier als Höhepunkt – keine. Vielmehr hat Petra Hůlová die provokanten Meinungen einer Prostituierten in eine Form gebracht, die manchen Leser schockieren mag, und ich genieße es wie ein Voyeur, zuzusehen, wie ein Tabu nach dem anderen mit lautem Knacken gebrochen wird. Zarte Gemüter macht dieses Buch nicht glücklich, alle anderen bekommen endlich mal zähe Knochen zwischen die Zähne.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
cooles Cover, der Vogel ist allerdings ein wenig schwach im Vergleich zum krassen Inhalt.
… fürs Hirn: wie wär das so, als Nutte in einer Plastikfickstube ohne Perspektiven?
… fürs Herz: nichts, hier geht es um Sex.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: „Die Digiwelt foltert mich, als wär ich nicht schnell genug; und dabei bin ich noch ganz jung und nackt und brauche Wärme und Streicheleinheiten, damit ich aufblühe wie eine Blume, die doch jede Frau ist, und heute sind auch Männer Blumen, die man pflegen muss.“

Dreizimmerwohnung aus Plastik von Petra Hůlová ist erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04522-2, 192 Seiten, 17,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Moehringer„Man ist nur lebendig, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man verliebt ist. Deshalb wirken fast alle wie tot“
„In seiner Glanzzeit war Sutton das Gesicht des amerikanischen Verbrechens, einer von wenigen, die den Sprung vom Staatsfeind zum Volkshelden schafften.“ Und dies ist seine Geschichte. Die Geschichte von Willie, dem Sohn irischer Einwanderer, einem Mick, den die älteren Brüder bei jeder Gelegenheit verprügeln und der in seinen Jugendjahren dem Hungertod stets näher ist als dem Reichtum, den er später erbeutet. 1919 lernt er Bess kennen, und diese Begegnung verändert alles: „Du musst nur auf dein Leben zurückblicken und nachsehen, ob es einen Augenblick gibt, an dem alles anders wurde.“ Die Liebe und die prekäre Wirtschaftslage machen aus dem unschuldigen Willie einen Dieb. Gefrustet und verzweifelt darüber, dass sie keine Arbeit finden, werden Willie und seine Freunde Eddie und Happy zu Verbrechern. Sie stellen sich nicht klug an, und so beginnt Willies Karriere als Gefängnisinsasse. Ebenso erfolgreich ist er allerdings beim Ausbrechen, und während die Wirtschaft von einer Krise zur nächsten taumelt, wird aus dem kleinen Willie ein umjubelter und gejagter Bankräuber. Sein Mythos ist immer noch lebendig, als er nach seiner letzten Gefängnisstrafe als alter Mann freikommt – und mit einem Reporter sowie einem Fotografen durch ganz New York fährt zu den Stationen seines bewegten Lebens.

Knapp am Herz vorbei ist der neue Roman des New Yorker Autors J. R. Moehringer, der mit Tender Bar auf sich aufmerksam machte. Er nahm die wahre Geschichte des Bankräubers Willie Sutton als Vorlage für diesen facettenreichen und abenteuerlichen Roman. Alle Figuren – den hübschen Happy, den frustrierten Eddie, die kühle Bess, den Safeknacker Doc, die vielen Verräter – hat es wirklich gegeben, genauso wie den Reporter und den Fotografen, die laut J. R. Moehringer einen leider nur oberflächlichen Artikel zuwege gebracht haben. Wenig Aufschluss geben auch die zwei von Willie Sutton verfassten Autobiografien, da sie sich widersprechen. Der Weg für J. R. Moehringer, anhand der belegten Tatsachen eine wilde, herzergreifende, lebendige Geschichte zu stricken, war somit frei.

„Die Entfremdung von Mutter und Vater, der Missbrauch durch die Geschwister, die harte Arbeit in den frühen Jahren, dein Leben, das von einer Reihe der schlimmsten wirtschaftlichen Erschütterungen in der Geschichte begleitet war – das alles hat ein ungewöhnlich gefährliches und starkes Hexenbräu geschaffen.“ Inhaltlich packt Willies Geschichte mich nach einer Weile sehr, und er schleift mich quer durch New York, atemlos hetzen wir von einem Raubzug zum nächsten, wir lassen uns Anzüge schneidern und genießen das Leben in den kurzen Intervallen, in denen es möglich ist. Wir sitzen in Isolationshaft, schwimmen in Scheiße und lesen jedes Buch, das uns in die Finger kommt. Und immer, immer vermissen wir Bess, die ich allerdings im Verdacht habe, dass es ihr nicht so geht. Das einzige Manko des Buchs liegt in meinen Augen darin, dass J. R. Moehringers Sprache mir für die rasante Geschichte zu stumpf und flach ist. Die klischeehaften Ausdrücke aus dem Gaunerjargon, durchsetzt mit Umgangssprachlichkeiten, passen zum Thema, lassen mich aber mehr als einmal mit den Augen rollen. „Dann bist du im Arsch, Kleiner“, ist so ein Beispiel dafür, dass das Netz, das der Autor nach mir auswirft, viel zu grobmaschig ist. Ich vermisse Poesie und Melodie, fühle mich immer wieder aus der Geschichte gedrängt – vor allem durch die stupiden Aussagen von Knipser und Schreiber, die beide durch die Abwesenheit von Intelligenz glänzen. Schade ist zudem, dass J. R. Moehringer einiges, das interessant gewesen wäre – wie Suttons Ehe und sein Kind – unter den Tisch hat fallen lassen.

Dennoch ist Knapp am Herz vorbei ein liebenswertes, lesenswertes Buch über einen Helden, der für viele Menschen all das verkörperte, was sie sich wünschten: Verwegenheit, Mut, Reichtum, Respektlosigkeit vor dem Gesetz. Willie Sutton hat einen hohen Preis für seine Beutezüge bezahlt: seine Freiheit. Der einzige Vorteil der Gefängnisaufenthalte war, dass sie ihm Gelegenheit zum Lesen gaben, und hier treffen wir uns wieder, hier sind wir uns einig: „Es ist nie Zeitverschwendung. Jedes Buch ist besser als kein Buch. Langsam und sicher führt dich eines zum nächsten, und irgendwann bist du bei den besten. Ein Buch ist die einzige wirkliche Flucht aus dieser gefallenen Welt.“

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
von der Gestaltung her gefällt mir das Cover, die Auswahl des Fotos erschließt sich mir nicht.
… fürs Hirn: Wirtschaftskrise, Weltkrieg, New York in den 1930er- und 1940er-Jahren, Verrat, Betrug, Diebstahl, Gefängnis – dieses Buch vereint all das zu einer atemberaubenden, spannenden Story.
… fürs Herz: nun ja, die unerfüllte Liebe zur schwer greifbaren Bess natürlich.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: „Ein Safe ist wie eine Frau. Sie sagt dir, wie du sie öffnen kannst, du musst nur gut zuhören.“

Knapp am Herz vorbei von J. R. Moehringer ist erschienen im S. Fischer Verlag (ISBN 978-3-10-049603-4, 448 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

LevineEine verbotene Freundschaft in Zeiten der Rassentrennung
Die 12-jährige Marlee ist nicht stumm, redet aber so gut wie nichts: In der Schule schweigt sie, gibt keine Antworten, auch wenn sie alles weiß, und sogar ihrer Familie gegenüber äußert sie sich einsilbig. Das ändert sich langsam, als ein neues Mädchen an die Schule kommt und Marlee aus der Reserve lockt: Liz wird ihre erste richtige Freundin. Dass der Unterricht überhaupt stattfindet, ist ein kleines Wunder, denn in diesem Herbst 1958 kämpfen in Little Rock, Arkansas, zwei Parteien gegeneinander: die „segregationists“, die für die Rassentrennung sind, und die „integrationists“, die den Schwarzen mehr Rechte einräumen würden. Die „black people“ dürfen immerhin schon im selben Bus fahren wie die „white people“, doch als 1957 neun schwarze Jugendliche die Highschool besuchen wollten, gab es einen gewalttätigen Aufstand. Die Schule von Marlees Schwester Judy ist geschlossen, sie wird zur Großmutter geschickt, und Marlee verliert ihre Verbündete. Umso mehr klammert sie sich an Liz – die jedoch plötzlich aus der Schule verschwindet. Ein überraschendes Geheimnis wird gelüftet: Liz ist eine sehr hellhäutige Schwarze, die durch ihren Schwindel nicht nur ihren Platz an der Schule verliert, sondern in Lebensgefahr gerät. Auch Marlees Familie wird von hasserfüllten Weißen bedroht. Und während sich die Gemüter immer weiter erhitzen, weigern zwei kleine Mädchen sich, die Rassengesetze hinzunehmen. Marlee ist zwar schüchtern – aber sehr mutig.

Kristin Levine, deren Familie aus der Nähe von Little Rock stammt, hat ein historisches Ereignis – die Geschichte der „Little Rock Nine“ – zum Hintergrund ihres fiktionalen Romans gemacht. Ein Buch mit einem kindlich-jugendlichen Protagonisten zu lesen, ist für mich jedes Mal ein Wagnis, zu oft empfinde ich die Charaktere als altklug und künstlich auf erwachsen getrimmt. Im vorliegenden Fall hat die Autorin einen passenden jungen Erzählton gewählt, der The lions of Little Rock einen Jugendbuch-Touch verleiht. Die Probleme, mit denen der Roman sich befasst, sind aber alles andere als kindisch: Wir schreiben das Jahr 1958, schwarze Mitmenschen gelten immer noch als Menschen zweiter Klasse, die Hausangestellte von Marlees Eltern darf bei der Arbeit nicht einmal ein Glas Wasser trinken. Wer schwarz ist oder sich mit Afroamerikanern öffentlich zeigt, wird angefeindet. Marlee sieht sich Hass und Gewalt gegenüber, aber sie ist nicht gewillt, ihre Freundschaft zu Liz aufzugeben. Zwar finde ich die Story an manchen Stellen ein wenig pathetisch, doch ich kann mir durchaus vorstellen, dass es vielleicht genau so war – dass vereinzelt Menschen und Familien Widerstand leisteten, dass sie sich verbündeten, aus persönlichen Gründen heraus, um für Gerechtigkeit einzustehen. Dafür ist The lions of Little Rock ein wunderbares, liebevoll erzähltes Beispiel.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist schrecklich, es lässt das Buch wie eine Schmonzette wirken, die es nicht ist.
… fürs Hirn: das Wissen, dass all dies genau so geschehen ist, dass viele Menschen gestorben sind im Kampf um die Gleichberechtigung zwischen Schwarz und Weiß. Die Wikipedia-Darstellung der Geschichte der “Little Rock Nine” könnt ihr hier nachlesen.
… fürs Herz: natürlich Marlee und Liz.
… fürs Gedächtnis: dieser Teil der amerikanischen Geschichte.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Thome„Aber alles passiert, wenn es passiert, zum ersten Mal“
Alle sieben Jahre flippen die Bewohner von Bergenstadt ein bisschen aus: Drei Tage lang wird beim Grenzgang gewandert, gelacht und gesoffen. Es ist ganz Bergenstadt ernst mit dieser alten Tradition, die immer gleich abgehalten wird, es gibt Vereine, Fahnen, Abzeichen, Rituale. Sieben Jahre lang freuen sich alle auf dieses Wahnsinnsfest, das den Ort für kurze Zeit aus seiner Belanglosigkeit reißt. Ehen entstehen und zerbrechen beim Grenzgang – wie jene von Kerstin, die ihren Mann Jürgen einst bei diesem kollektiven Besäufnis kennengelernt hat und seinetwegen ihre Karrierepläne aufgab, um in dem hessischen Kaff zu bleiben. Mittlerweile ist Jürgen der Mann einer anderen, der gemeinsame Sohn pubertiert, und Kerstins Mutter wird zum Pflegefall. Aus ihrem Selbstmitleid gerissen wird Kerstin von Thomas, einst Uni-Professor und mittlerweile Lehrer ihres Sohnes, mit dem sie eine Erinnerung an den letzten Grenzgang teilt, der beide mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Und bald beginnt das verrückte Fest erneut …

In seinem Debütroman Grenzgang, der 2009 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, macht Stephan Thome einen kleinen Ort in Hessen zum Schauplatz, der in seiner Beschaulichkeit und Beliebigkeit für jede deutsche Kleinstadt stehen mag, in der wie überall geliebt und betrogen, nach dem Glück gesucht und viel geweint wird. Alle sieben Jahre findet der Grenzgang statt, und alle sieben Jahre setzt Stephan Thomes Erzählung ein. Alle wichtigen Ereignisse im Leben von Protagonistin Kerstin hängen direkt oder indirekt mit dem Grenzgang zusammen, sie treten im Roman jedoch nicht in chronologischer Reihenfolge auf. Der Autor konzentriert sich hauptsächlich auf 1999 und 2006, reist aber auch in die Vergangenheit und gibt einen Ausblick in die Zukunft.

Kerstin ist in jeder Hinsicht das Abziehbild einer deutschen alleinerziehenden Mutter Mitte vierzig: Sie hadert mit dem Alter und dem Wissen, gegen eine Jüngere ausgetauscht worden zu sein, findet keinen Zugang zu ihrem Teenager-Sohn und hat nur oberflächliche Freundschaften. Der Hausfrauenfrust macht ihr ebenso zu schaffen wie die zunehmende Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter. Alle jugendliche Leichtigkeit und Unbeschwertheit sind verschwunden, und der Swingerclub, in dem Kerstin letztlich mit ihrer Nachbarin landet, hat den abgefuckten Charme eines Orts, der von Verzweiflung durchdrungen ist. Ich habe tiefes Mitgefühl für Kerstin, und zugleich geht sie mir furchtbar auf die Nerven. Stephan Thome erzählt in diesem Provinzroman von dem Leben einer Frau und dem Leben eines Mannes, das so ist, wie eben alle unsere Leben: absolut belanglos. „Zeit totzuschlagen ist so ein Ausdruck, den sie nie recht verstanden hat – eher ist es doch ein langsames Strangulieren, und die eigentliche Henkerskunst besteht auch nicht darin, Minuten oder Stunden rumzubringen, sondern Jahre.“ Tiefe Resignation durchzieht dieses Buch, der Erzählton ist recht sachlich und nüchtern. Die Idee mit den Sieben-Jahres-Zeitsprüngen gefällt mir gut, und es ist dem Autor exzellent gelungen, die Klischees und Schemata einzufangen, um die sich das Leben in deutschen Kleinstädten wickelt: verliebte Blicke und Versprechungen, auf die das Zerbrechen von Beziehungen am langweiligen Alltag folgt, danach Einsamkeit und die Suche nach einem, der sich nebenbei auf die Couch setzt. Damit all das halbwegs erträglich wird, dürfen die Bürger im geregelten Rahmen alle sieben Jahre durchdrehen – weil ja sonst nichts passiert. Und ein bisschen wünschte ich mir schon, es wäre in diesem Buch mehr passiert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
gut gemacht!
… fürs Hirn: wie spießig wir doch alle sind …
… fürs Herz: … und wie austauschbar.
… fürs Gedächtnis: ein Zitat, das die Resignation elegant auf den Punkt bringt: „Wir sind erwachsen, wir haben zu viele Rechnungen gesehen, um an Gratisangebote zu glauben.“

Eine grandiose Rezension findet ihr auf den Schönen Seiten von Caterina, die sogar beim echten Grenzgang in Biedenkopf mitgewandert ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Flor„Wir sind alle käuflich“
Mit dem willkürlich gewählten Namen Lilly und einem Blowjob im Fahrstuhl landet eine junge Frau aus einem europäischen Land, in dem sie nicht mehr sein will, ihr Ziel: Sie heiratet den amerikanischen Medientycoon Basil Duncan. Es folgen die Aufnahme in die illustre Gesellschaft, ein Haus am Meer, zwei Söhne – und der ebenso vorhersehbare wie klischeehafte Austausch gegen eine jüngere Frau. Lilly, die keine Gefühle für Duncan oder ihre Kinder hegt, ist weder verletzt noch überrascht, doch die Saat, die zu einem ausgewachsenen Rachebedürfnis werden soll, ist gelegt. Einen Verbündeten findet sie dafür in Alexander, Duncans Handlanger und Nachfolger, an den sie von ihrem Ehemann mit einem belustigten Schmunzeln weitergereicht wird. Lilly akzeptiert die Scheidung und Alexander als den neuen Mann an ihrer Seite, aber im Innersten will sie nur eins: Blut sehen.

Die Königin ist tot von Olga Flor ist ein verstörender, zutiefst beunruhigender Roman über eine Frau, die alles hat und nichts davon liebt. Die österreichische Schriftstellerin, die mit einem anderen Buch für den Deutschen Buchpreis nominiert war, fängt mit ihrer Ich-Erzählerin jene Vorstellung ein, die man haben kann von osteuropäischen, aufoperierten Frauen, die sich als schönes Dekorationsobjekt an den Arm eines reichen Mannes hängen und dabei vor allem durch ihren leeren Blick auffallen. Geldgierig sind sie, süchtig nach Schmuck und Schuhen und Anerkennung. Für Lilly erfüllen sich all diese Träume, doch es wirkt, als hätte sie sie nie gehabt, so emotionslos steht sie ihrem Leben im Überfluss gegenüber. Sie ist eine Puppe, antriebslos, willenlos, orientierungslos, und trägt selbst die Schuld daran, dass sie für ihren Mann letztlich austauschbar wird. Um Macht und Manipulation geht es in diesem bitterbösen und düsteren Buch, um Kontrolle und innere Leere.

Dieser Roman ist für mich wie ein Schnitt in den Finger. Unangenehm und ein wenig ärgerlich, aber dennoch faszinierend, sodass ich daran herumdrücke, um zu sehen, wie das Blut hervorquillt. Ich starre Lilly an, betrachte sie von allen Seiten, suche ihre Wunde und frage mich, ob sie echt ist, weil sie so distanziert und frei von Emotionen scheint. „Was meine eigenen Gefühle betrifft“, sagt sie mir, „habe ich manchmal den Eindruck, als seien sie von mir abgetrennt und sicher unter Glas verwahrt, in kleinen musealen Glasbehältern wie interessante Tierpräparate, die ich hervorholen und bewundern kann auf ihren gedrechselten Bodenplatten.“ In ihrem Verhalten ist Lilly mir so fremd, dass ich ein fast abartiges Vergnügen daran habe, ihrer monotonen, kalten Stimme zu lauschen. Besonders krankhaft – oder gar normal? – für mich Lillys Gefühllosigkeit ihren Kindern gegenüber: „Ich weiß, dass es an der Zeit wäre, eine enge Beziehung zu den Kindern aufzubauen, doch es gelingt mir nicht, ich sehe mir selbst dabei zu, wie ich Gefühle konstatieren muss, ohne zu wissen, wie sie empfunden werden.“ Einzig in der Rache, im Blutdurst, spürt Lilly plötzlich sich selbst, behält aber ihren klinisch-nüchternen Erzählton bei. Wie diese Rache beschaffen sein wird, ist klar, und indem sie derart mit Klischees spielt, macht Olga Flor diesen Roman zu einer Persiflage auf eine gewisse Gesellschaftsschicht und unseren Umgang mit klassischen Gerüchten. Eine befremdliche, unerfreuliche, sonderbare und höchst bizarre Lektüre, die ich nicht vergessen kann.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
der Fahrstuhl steht in Verbindung zum Inhalt, der Hirsch ist … rätselhaft.
… fürs Hirn: ein blubberndes Lachen, das einem nicht im Hals, sondern im Hirn steckenbleibt, weil da eigentlich überhaupt gar nichts lustig ist, sondern die Realität sich als grausam entpuppt.
… fürs Herz: nichts, nichts, gar nichts, die Gefühllosigkeit der Protagonistin ist Dreh- und Angelpunkt des gesamten Romans.
… fürs Gedächtnis: das Eingeständnis, dass Olga Flor es geschafft hat, mich zu provozieren und zu schockieren.

Die Königin ist tot von Olga Flor ist erschienen im Zsolnay Verlag (ISBN 978-3-552-05578-0, 224 Seiten, 18,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

JäckleVom selbstgewählten Ende eines Lebens
„Man muss sich vorstellen, wie das wohl ist, wenn einer den letzten Augenblick gesetzt hat, wie man einen Punkt setzt, nach dem beendeten Satz, wie das wohl ist, wenn einer geht.“ Noll ist noch nicht alt, aber Noll ist krank. Deshalb hat er beschlossen, dass es an einem Dienstag geschehen soll, um 16 Uhr, dass er aus dem Leben scheidet. Er will diesen Zeitpunkt selbst bestimmen, und zuvor will er sich erinnern: an die alte Geschichte des Großvaters, der sich selbst den Finger abgehackt hat, um nicht in den Krieg zu müssen, an die Beziehung zur Schwester, an die Frauen seines Lebens. Zu ihnen gehört Mara, mit der er nach Spanien ging, wo er ohne sie zurückblieb, Mara, die nirgendwo glücklich sein konnte: „Es ist ein Graus, wie man selbst alles dafür tut, das Glück unmöglich werden zu lassen, findest du nicht, hatte Mara gefragt.“ Das Glück sucht Noll schon lang nicht mehr – nur noch ein bisschen Würde.

Nina Jäckle widmet sich in ihrer kurzen Erzählung Noll auf recht nüchterne Art dem Freitod eines Menschen. Wie mag es sich anfühlen, wenn der Tag näher rückt, wenn die Stunde kommt, in der alles zu Ende sein wird? Die Autorin arbeitet gezielt mit Wiederholungen und Schleifen, immer wieder kehrt sie zurück zu Noll an den Küchentisch, wo er sitzt und nachdenkt, über die praktischen Details seines Selbstmords einerseits und über sein Leben andererseits. Ich setze mich also zu ihm und betrachte diesen kranken Mann, der niemandem etwas von seinem Plan sagt, der sich nicht verabschiedet und der mit seinen schweren Gedanken ganz allein ist. Seine Traurigkeit wird überstimmt von einer festen Entschlossenheit und einem Gefühl der Resignation, das auch all seine Erinnerungen überzieht. Weniger gut gefällt mir der zweite Teil des Buchs, in dem eine von ihrem Leben gelangweilte Versicherungsangestellte zu Wort kommt. Sie versucht, dem Geheimnis von Noll nachzuspüren, aber sie ist eine derart durchsichtige Gestalt, dass ich kein Interesse für sie aufbringen kann. Dennoch hat Nina Jäckles kühler Bericht über einen freiwilligen Abgang eine Wucht, die mich nicht kaltgelassen hat.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
so banal, wie das Leben eben ist.
… fürs Hirn: man muss sich vorstellen, wie das ist, wenn einer geht.
… fürs Herz: recht wenig Selbstmitleid, was gut ist.
… fürs Gedächtnis: eine gewisse Abgebrühtheit.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Mengestu„Nichts ist so wandelbar wie das Bild, das wir von uns selbst haben“
Drei Jahre musste Mariam zuhause in Äthiopien warten, bis sie ihrem Mann Josef nach Amerika folgen konnte. Dort angekommen, sehnt sie sich zurück in die Heimat, denn der Mann ist ihr ebenso fremd wie das Land und die Sprache. Mit dem Auto brechen die beiden, die sich kaum kennen, zu einer Hochzeitsreise ohne nennenswerte Highlights auf, einer Reise, die mit Gewalt beginnt und mit Gewalt endet. Dreißig Jahre später folgt Jonas, der Sohn von Mariam und Josef, den Spuren seiner Eltern und versucht zu ergründen, was auf dieser Reise geschehen ist und warum seine Jugend im lieblosen Elternhaus ihn nicht loslässt. Er hat seine Frau verlassen, ist geflohen vor den Problemen, die sich in der Ehe angehäuft haben wie Müllberge, und er hat den einzigen Job, den er je gern gemacht hat, verloren. Was er sucht, kann er nicht finden: Erlösung. Aber womöglich, so hofft er, öffnet sich ein Ausweg.

Die Melodie der Luft von Dinaw Mengestu, der in Äthiopien geboren und nach Amerika geflohen ist, ist ein vielschichtiges Buch. Es geht darin um Einwanderung, Entwurzelung und Fremdsein, um die Schwierigkeiten, die jede zwischenmenschliche Beziehung prägen, und um den Einfluss, den Eltern auf ihre Kinder haben. All diesen Themen widmet der Autor sich in seiner Geschichte, die er abwechselnd von Jonas in der Gegenwart und von Mutter Mariam in der Vergangenheit erzählen lässt. Feine, poetische Worte findet er für die Traurigkeit und die Ratlosigkeit, die auf diesen beiden Menschen liegen, und ich mag viele seiner Sätze, weil sie die Gefühle geschickt einfangen: „Hab keine Angst, ich bin gleich wieder da. Sie sagte es auf Englisch, der Sprache, die sie immer dann benutzte, wenn sie nicht sicher war, ob sie die Wahrheit sagte.“

Obwohl ich mich sowohl mit Jonas als auch mit Mariam auf einer Reise befinde – auf der gleichen Reise auf demselben Weg, nur zeitversetzt –, habe ich den Eindruck, mit diesem Buch nirgendwo anzukommen. Ich weiß nicht, wohin es mich führen soll, und die Erkenntnisse, die ich mir von meiner Spurensuche gemeinsam mit Jonas erwartet habe, bleiben aus. Am Ende blicke ich zurück auf eine einsame Straße, gepflastert mit schönen Sprachbildern, aber genauso leer wie zu Beginn. Vielleicht habe ich zu den beiden Figuren nicht genug Zugang gefunden, um jenes Mitgefühl zu entwickeln, das sie gebraucht hätten. Ihr Schicksal ist letztlich, wie unser aller Schicksal, banal, und es dauert erschreckend lange, bis sie es selbst in die Hand nehmen. Dinaw Mengestu hat sie ausgestattet mit einer Vergangenheit, mit Ängsten und Hoffnungen, aber sie bleiben dennoch Figuren, denen all ihre Eigenschaften anhaften wie Kleider aus Papier. Sie sind mir zu wenig lebendig, und ich möchte sie mehr als einmal gern auffordern, doch bitte wenigstens laut zu schreien, um zu zeigen, dass sie existieren. Uns allen gemeinsam ist zum Schluss eine große Orientierungslosigkeit, aber vielleicht ist das ja auch die zutreffendste Aussage, die man über das Leben machen kann: Sicher ist nichts.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein schönes, geheimnisvolles Cover.
… fürs Hirn: viele Themen, die angeschnitten werden, eines davon trauriger als das andere – man bleibt sehr desillusioniert zurück.
… fürs Herz: der Gedanke, dass wir es nicht schaffen können, die Liebe zu halten, nie.
… fürs Gedächtnis: die schreckliche Szene mit Josef und Mariam im Auto, zu Beginn ihrer Reise.

Gut und sättigend: 3 Sterne

HeijmansEin Vater, sein Kind, ein Boot und das endlose Meer
Donald hat seinen Job verloren, und er nutzt die gewonnene Zeit, um sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen: Er segelt über die Nordsee. Auf dem letzten Teil der Strecke, von Thybordøn in Dänemark bis Harlingen in den Niederlanden, begleitet ihn seine kleine Tochter Maria. Donalds Frau Hagar war dagegen, das Kind für zwei Tage auf die unberechenbare See zu lassen, doch der Vater hat sich durchgesetzt. Es dauert nicht lange, bis ein Sturm aufzieht, der Donald an die Grenzen seiner Kraftreserven bringt, muss er doch die Nacht durchwachen und auf den Funk sowie auf andere Schiffe achten. Und während die Müdigkeit ihm langsam den Verstand zerschneidet, stellt sich mitten auf dem hochgepeitschten Gewässer die Frage: Was ist überhaupt real – und was nicht?

Auf der ersten Seite von Toine Heijmans‘ Buch gehe ich auf eine Fahrt, von der klar ist, dass sie gefährlich wird – und mich in die Irre führen soll. Ich klettere an Bord eines Boots, dessen Ziel zwei Tagesreisen entfernt ist und doch, als ein Sturm losbricht, unerreichbar scheint. Den Sturm habe ich erwartet, natürlich, denn was wäre ein Boot auf einem Meer ohne einen Sturm, doch es gelingt dem Autor trotzdem, mir Angst zu machen mit der dunklen See und dem Ich-Erzähler Donald, dem nicht zu trauen ist. Ich weiß, dass er mich belügt. Denn das mit dem In-die-Irre-Führen gelingt dem Autor weniger, schon zu Beginn des Buchs ist mir völlig klar, wie es enden wird, es scheint nur einen logischen Weg auf dem schmalen Grat zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu geben. Das dämpft für mich freilich die Spannung ziemlich, aber ich folge dennoch mit großem Interesse der Fährte, die Toine Heijmans für mich ausgelegt hat, und untersuche fasziniert das Konstrukt, das er entworfen hat. Perfekt eingefangen ist die unheimliche, unheilvolle Stimmung in den grandiosen schwarz-weißen Illustrationen von Jenna Arts, die das Buch besonders machen. Die Sprache ist solide, aber ich hätte sie mir wuchtiger gewünscht, als Gegenpol zum schäumenden Meer.

Irrfahrt ist ein Ausflug, den man nicht machen möchte, ein kleines Stück Horror, eine Welle, die über dem Kopf zusammenschlägt. Es ist, so scheint es mir, Irrsinn, dass Menschen sich freiwillig hinausbegeben auf das gefräßige Meer, und es ist ebenfalls Irrsinn, dass sie denken, genau zu wissen, was sie tun. Denn manchmal kann die Einbildungskraft unglaublich stark sein – und das ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Wer es wagen will, mit Donald und Maria in See zu stechen, dem möchte ich ganz leise und sarkastisch ins Ohr flüstern: Viel Spaß. Und pass auf dich auf.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein tolles Cover, und die Illustrationen im Innenteil sind genial.
… fürs Hirn: was geschieht wirklich und was ist nur Einbildung? Das Hirn ist in Alarmbereitschaft.
… fürs Herz: das Herz erlebt keine Lovestory, darf aber zwischendurch gern mal ein bisschen stehenbleiben.
… fürs Gedächtnis: meine eigene Sherlock-Holmes-Vorausahnungskombinationsfähigkeit.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Jacobson„Liebe hemmungslos, und aller Schmerz steht dir offen“
Felix Quinn ist ein Antiquar und ein cuckold. Das bedeutet: Er ist zum einen ein feinsinniger, gebildeter, belesener Mann und zum anderen begierig danach, betrogen zu werden. Seine sexuelle Erregung steht in engem Zusammenhang mit dem Begehren anderer Männer – in Hinsicht auf dieselbe Frau. Felix will leiden, er will von der Eifersucht zerfleischt, betrogen und gedemütigt werden. Und seine Ehe mit Marisa beginnt diesbezüglich vielversprechend, spannt er sie doch ihrem ersten Ehemann aus, was einiges über Marisas moralische Vorstellungen von Treue verrät. Da Marisa allerdings nicht unbedingt Anstalten macht, Felix fremdzugehen, nimmt dieser die Sache selbst in die Hand: Er sucht für seine Frau einen Liebhaber. Der perfekte Kandidat ist der jüngere, arrogante Marius, und Felix plant wie besessen die Affäre seiner Frau mit dem Rivalen. Beinahe furchterregend einfach ist es, Marisa zum Betrügen zu verführen – aber schnell verliert Felix über die Gefühle aller Beteiligten und die daraus resultierenden Ereignisse die Kontrolle.

Liebesdienst ist ein verstörender, ausgeklügelter, intelligenter und quälender Roman. Der britische Erfolgsautor Howard Jacobson macht Ich-Erzähler Felix zum Dreh- und Angelpunkt dieses Buchs, seine Wahrnehmung ist der Filter, der über allen Personen und Geschehnissen liegt. Und er ist eine schwierige, ungefällige, unsympathische Figur, die ich manchmal bemitleiden, dann wieder belächeln muss. Sein eigenes Elend ist ihm stets bewusst, er suhlt sich darin. In erster Linie ist Felix ein Beobachter, und der gesamte Roman besteht sozusagen aus dem inneren Monolog, den er hält, aus seinen Gedanken und Vorstellungen, aus den Urteilen, mit denen er sich seine Welt formt: „Frauen, die fremde Blicke auf ihren Busen lenken wollen, haben immer etwas Bedürftiges“, sagt er, und: „Die Pornografie ist ein heikles Medium. Sie gestattet nur den klaren, kühlen, dunklen Strich sexueller Gewalt und die nachfolgende Stille.“ Einerseits finde ich es durchaus interessant, was Felix über seine Mitmenschen zu sagen hat, andererseits macht diese extrem einseitige Perspektive Marisa und Marius sehr blass. Sie, die eigentlich Handelnden, wirken wie Marionetten, was sie – da Felix die Fäden zieht – auch sind. Viele ihrer Handlungen kann ich nicht nachvollziehen, weil es so aussieht, als hätte eigentlich niemand Spaß an diesem außergewöhnlichen Dreier.

Liebesdienst hat mir bestimmt eine Runzelfalte auf der Stirn beschert – weil ich mich gewundert habe über die Perversionen der menschlichen Natur und weil ich gerätselt habe darüber, ob ich Gefallen finden soll an dieser abstrusen Geschichte. Beantworten kann ich diese Frage auch am Ende nicht. Gereizt hat mich der Roman wegen der hochoriginellen Idee, dass ein Mann seiner Frau einen Liebhaber sucht – und fasziniert hat mich diese Idee während der gesamten Lektüre. Auf manch allzu detailreichen Ausflug in kulturelle Gefilde hätte ich verzichten können, generell aber bietet das Buch viele lesenswerte Informationen über Musik und Literatur. All diese Eigenschaften machen Liebesdienst zu einem richtig anstrengenden Roman, der mich dennoch fesselt und nicht loslässt, der mir haufenweise negative Gefühle gebracht hat, der mich nachdenken ließ und der mir, so zwiegespalten ich ihm auch gegenüberstehe, im Gedächtnis bleiben wird. Und das ist ja das Höchste, was ein Autor mit einer Geschichte erreichen kann.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr elegantes und ästhetisch ansprechendes Cover.
… fürs Hirn: allerhand, dies ist ein überaus verkopftes Buch.
… fürs Herz: masochistischer Schmerz und die Wonne darüber.
… fürs Gedächtnis: diese ganze wahnsinnige Leseanstrengung.

Lesenswerte Besprechungen von Liebesdienst findet ihr auch bei Mara und Dorota.

Liebesdienst von Howard Jacobson ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04406-8, 400 Seiten, 22,99 Euro).