Gut und sättigend: 3 Sterne

Rudis„Im Leben gibt es nur zwei Wege. Der eine führt nach oben. Der andere auch. Aber auf dem Umweg über unten“
„Sicher ist nur, dass ich in dem Moment, wo ich auf der Welt keinen mehr hatte, hier stecken geblieben bin“ – und zwar in Liberec in Tschechien, wo Fleischman seit seiner Geburt lebt. Seine Eltern sind bei einem Unfall gestorben, und der vulgäre Jégr, ein entfernter Verwandter, hat den Jungen bei sich aufgenommen. Er betreibt das höchste Hotel der Stadt, in dem kaum jemals Gäste schlafen, sich aber dennoch einige schräge Vögel herumtreiben: Patka, der eine vermutlich hochgiftige Substanz als „Happy“-Serum verkauft, der alte Franz, der nach Liberec zurückgekehrt ist, um zu sterben, oder die Zimmermädchen Ilja und Zuzana, von denen eine hinter Fleischman her ist – der sich jedoch nur für die Wetterfee aus dem Fernsehen interessiert. Fleischman hat keine Ambitionen, er schafft es nicht, aus Liberec zu entkommen, und auch die Therapie bei einer Psychologin bringt ihn nicht weiter. Jégr, der ihn einen „unfähigen Einhandflötisten“ nennt, geht ihm mit Bemerkungen wie „Wer Fußball nicht liebt, vögelt nicht“ furchtbar auf die Nerven, er zieht sich zurück in seine eigene Welt, in der er sich am liebsten mit Wetterbeobachtungen beschäftigt und allein ist: „Wenn ich könnte, würde ich für einen Moment alle Menschen ausschalten, damit ich in der Stadt ganz allein sein könnte. Und hören könnte, ob die Stadt ein Herz hat …“

Grand Hotel von Jaroslav Rudiš ist ein skurriles Buch. Ich-Erzähler Fleischman berichtet von seiner Kindheit, die mit dem Tod der Eltern ein abruptes Ende fand, und von seinen Tätigkeiten als Mädchen für alles im Hotel, das die ganze Stadt überragt. Seine Beschäftigung mit dem Wetter ist eine einsame, er hat sich selbst der hübschen Fernseh-Meteorologin versprochen, die natürlich unerreichbar bleibt – seine Briefe an sie werden stets nur mit Autogrammkarten beantwortet. Seine Anekdoten über das Leben im fast leerstehenden Hotel sind ein Sammelsurium aus lustigen Begebenheiten, schrägen Dialogen und traurigen Einblicken in das Leben von einem, der eigentlich nur jeden Tag herumbringt, ohne zu wissen, wohin das Leben ihn führen soll. Deshalb führt es ihn auch nirgendwohin, und ich gestehe, dass ich zwischendrin ein bisschen das Interesse verliere an dieser Selbstdarstellung eines niedergeschlagenen jungen Mannes. Generell aber habe ich das Buch des tschechischen Autors gern gelesen, weil es eine gute Mischung aus absurd, witzig und melancholisch bietet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja … ein schönes Blau immerhin.
fürs Hirn: dass einem manchmal das Leben zu eng werden kann.
… fürs Herz: keine Lovestory, nur eine schwache Schwärmerei.
… fürs Gedächtnis: für mich nicht allzuviel.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Enter„Eigentlich konnte man sich hier nirgends richtig festhalten“
„So also war es, einander wiederzusehen! Launisch, fragmentarisch wie der Blick in einen zersprungenen Spiegel – mit scharfen Kanten und blinden Flecken.“ Zwanzig Jahre lang haben sich Vincent, Paul, Lotte und Martin nicht gesehen, nun folgen Vincent und Paul der Einladung von Lotte und Martin, die schon lange zusammenleben, und fahren mit dem Zug zu ihnen ans Meer. Sie unterhalten sich über die neueste Zeitungsmeldung – die mögliche Unsterblichkeit des Menschen – und Belanglosigkeiten und berühren nie das Thema, das alle vier einst verbunden hat: das Klettern. Als Studenten waren sie mit Begeisterung in den Bergen unterwegs. Ihren letzten gemeinsamen Kletterurlaub verbrachten sie in den Lofoten nördlich des Polarkreises, und was dort geschah, hat ihre Bande aufgelöst. Nun steht das Wiedersehen unmittelbar bevor – und obwohl in den zwanzig Jahren viel geschehen ist, sind die Erinnerungen noch frisch.

Drei Männer, eine Frau, die Berge und viel Schnee – das sind die Zutaten, die der niederländische Autor Stephan Enter zu einem spannenden, aber nicht unbedingt spektakulären Roman vermixt. Seine vier Figuren waren einst Freunde oder zumindest Kletterpartner, die sich aufeinander verlassen konnten, und haben sich dann aus den Augen verloren. Als junge Studenten suchten sie den Kitzel der Gefahr und die Hitzigkeit von Diskussionen. Und so glücklich wie damals sind sie tatsächlich nie wieder gewesen. Lotte als einzige Frau hat jeden der drei Männer irgendwie beeindruckt, sie war nicht auf klassische Weise schön, aber intelligent und scharfzüngig. In einen der drei war sie verliebt, mit einem anderen teilt sie ein Geheimnis, und den dritten hat sie geheiratet. Doch obwohl Lotte der schillernde Dreh- und Angelpunkt der damaligen Ereignisse ist, bleibt sie im Buch als Einzige stumm, was ich sehr schade finde – zu gern hätte ich auch ihre Stimme gehört und ihren Blick auf die Dinge gesehen.

Wenn angekündigt wird, dass es einst bei einem Kletterurlaub in den Bergen ein dramatisches Geschehnis gab, ist die Auswahl freilich beschränkt: Ich erwarte einen Absturz, Mord, Verrat, Betrug. Was ich bekomme, entspricht der erwarteten Dramatik nur bedingt. Ich übe mich in Geduld, ich warte ab, bin gespannt auf das Platzen der Bombe, die Ohrfeige der Überraschung, den Knalleffekt, als alle einander endlich wiedersehen. Doch all dies bleibt aus, es gibt nur eine Vorbereitung darauf, dann ist plötzlich alles zu Ende, die Energie verpufft – und ich schaue durch die Finger. In so einem Fall stellt sich freilich immer die Frage, ob die Erwartungen einfach zu hoch waren, von einem unglücklich formulierten Klappentext aufgeputscht, oder ob die Enttäuschung berechtigt ist. Warum füttert mich Stephan Enter mit so viel Smalltalk zwischen Vincent und Paul, warum dehnt er zu Beginn alles aus und nimmt sich am Ende nicht mehr die Zeit, die losen Enden zusammenzuführen? Wieso ist dieses Geheimnis von damals, das er mir recht bald verrät, so einigermaßen harmlos und schmal, dass ich ihm kaum die Sprengkraft zutraue, die es gehabt haben soll? Zu viele Fragen bleiben für mich offen, und all das, was die Charaktere einander nie gesagt haben, scheint mir recht klischeehaft bzw. angesichts dessen, dass die Konfrontation ausbleibt, belanglos. Stilistisch überzeugt Stephan Enter mich sehr, und ich denke, dass er das Lob, das er bekommt, absolut verdient – und dass es vermutlich schwierig ist, in einem so melancholischen Stil einen spannungsgeladenen Roman zu schreiben. Ich war mit diesem Buch wohl wie ein unerfahrener Bergsteiger: Ich habe mir das Spektakuläre erhofft und dabei das kleine Schöne am Wegrand (fast) übersehen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
für mich eins der schönsten Cover bisher 2013. Der Nagellack war übrigens vorher nicht drauf.
… fürs Hirn: das Wissen, dass Erinnerungen trügerisch sind und die Jugend schnell verfliegt.
… fürs Herz: Martin und Lottes kleine Tochter.
… fürs Gedächtnis: eher ein enttäuschtes Gefühl, denn auf dem Gipfel angekommen, zeigte sich der Ausblick nebelverhangen.

Im Griff von Stephan Enter ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3827010995, 224 Seiten, 17,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Weidenholzer„Das Leben ist ein Hund, es erwischt einen ohnehin, wenn man am wenigsten damit rechnet oder wenn man ihm zu lange in die Augen sieht“
„Aber das Wichtigste im Leben ist nicht der Platz, den man hat, man kann auch mit wenig Platz gut leben. Das Wichtigste ist die Versorgung, dass sich jemand kümmert, das ist wichtig, findest du nicht.“ Maria hat nicht unbedingt viel Platz, und kümmern muss sie sich um alles ganz allein. Seit die Verkäuferin im besten Alter ihre Stelle verloren hat, dehnen sich die Tage vor ihr aus, und sie muss sich die Zeit vertreiben zwischen Bewerbungen-Schreiben, Affirmationen-Üben und Den-Nachbarn-aus-dem-Weg-Gehen. Maria war eine gute Verkäuferin, aber auf dem Arbeitsmarkt ist sie unerwünscht, weil sie zu alt ist und ihre Erfahrung zu wertlos. Von Mann und Haustier ist nichts geblieben, und so kämpft Maria jeden Tag tapfer gegen den übermächtigen Feind: die Verzweiflung.

Der Winter tut den Fischen gut von Anna Weidenholzer ist ein deprimierendes Buch. Auf über 200 Seiten widmet sich die junge österreichische Autorin mit Fingerspitzengefühl einem Schicksal, das nicht ungewöhnlich ist: ungewollte, unverschuldete Arbeitslosigkeit, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt. Maria tut (fast) alles, was das Arbeitsamt ihr befiehlt, sie biedert sich an, bewirbt sich, motiviert sich, scheitert immer wieder. Es scheint keinen Platz für sie zu geben in den vielen Bekleidungsgeschäften, in denen die Verkäuferinnen jung, dünn und schlecht ausgebildet sind. Was bleibt dann? Endlose Tage, Spaziergänge, den Körper waschen und mit Nahrung versorgen, sich irgendwie über Wasser halten. „Wenn einem das Haustier im Kühlschrank gefriert, ist das eine unangenehme Situation“ – dieser Satz fasst Marias Misere am besten zusammen. Es gab einmal einen Mann, und es gab einmal ein Haustier – wer wer ist, kann ich anfangs kaum auseinanderhalten, so ähnlich sind die Gefühle von Maria, wenn sie sich erinnert. Sie legt ein eigenartiges Verhalten an den Tag, eine Mischung aus Engagement und Apathie, die mir für jemanden in ihrer Lage sehr glaubwürdig erscheint. Maria ist wahnsinnig einsam, fürchtet aber zugleich den Kontakt zu anderen Menschen, und in ihrem Inneren hadern Groll und Resignation miteinander.

Anna Weidenholzer erzählt sanft, klar und nüchtern von dem, was wir alle wissen, aber selten aussprechen: dass es richtig scheiße ist, arbeitslos, unterfordert und „unnütz“ zu sein. Dieses Buch ist mehr Bericht als Geschichte, es ist ein Sich-Hineindenken und Sich-Hineinfühlen. Die Autorin bildet die Situation ab, ohne sie zu verändern, und ich muss gestehen, dass ich mir eine solche Veränderung sehr gewünscht hätte, dass ich gehofft habe auf einen Einschnitt, eine überraschende Begegnung, einen Sonnenstrahl, einen Faustschlag – irgendwas, das Maria und mich aus unserer Lethargie gerissen hätte. Das ist nicht geschehen, und ich bin am Ende der Lektüre niedergeschlagen, desillusioniert und „dramhappert“ – als hätte ich zu lang geschlafen und schlecht geträumt, einen Traum, ganz lang und schwer und ereignislos.

Durchgekaut und einverleibt: Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein richtig cooles Cover!
… fürs Hirn: der Gedanke: Hoffentlich passiert mir das nie.
… fürs Herz: nichts. Das Leben ist ein Schwein.
… fürs Gedächtnis: das Ende von Otto.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Stefansson„Das Leben wird beim Lesen größer. Es wird reicher“
„Wörter, die geschrieben wurden, vergessen nichts und bewahren alles, vielleicht liegen sie irgendwo in der Vergessenheit und in der Dunkelheit, aber sie leuchten auf, sobald jemand in ihre Richtung schaut.“ Der Junge weiß das, und er ist nicht untalentiert im Umgang mit Worten – was ihn durchaus besonders macht in jenem abgeschotteten kleinen Fischerdorf in Island, wo er lebt. Man begegnet ihm mit Spott, aber auch Respekt. Bei einem Marsch durch den gnadenlosen Schnee verliert er beinahe sein Leben und muss sich im Haus von Steinunn und Ólafur erholen. Die Wörter und die Literatur – besonders die Romane von Charles Dickens – sind ihm wichtig, aber es gibt etwas, das ihn verwirrt und ablenkt: die Frauen. Die rothaarige Alfheidur verdreht ihm den Kopf, und dass sie ihm, als er wieder zuhause in seinem Dorf ist, zwei Briefe schreibt, gibt ihm Rätsel auf. Zugleich verführt ihn die kokette Ragnheidur, und selbst betätigt er sich mit seiner Fähigkeit, die Worte aufzuwirbeln, als Kuppler. Schließlich brauchen die Isländer jemanden an ihrer Seite, der sie wärmt im bitteren Winter …

Bei Jón Kalman Stefánsson bin ich – entgegen meiner Gewohnheit – zum Wiederholungstäter geworden. Das Licht auf den Bergen hat mich vor einiger Zeit begeistert, und ich habe mir sein neues Buch gezielt aus den Neuerscheinungen von Piper herausgepickt. Ich bin also tatsächlich – um beim Sprachbild zu bleiben – noch einmal nach Island gereist. Und dort ist es immer noch kalt und verlassen. Jón Kalman Stefánsson, der für diesen Roman mit dem Isländischen Buchhändlerpreis ausgezeichnet wurde, lässt darin einen namenlosen Erzähler, der nur „der Junge“ genannt wird, berichten, wie es ist, erwachsen zu werden an einem Ort, an dem Schnee und harte Arbeit vorherrschend sind. Island wird stets als ein raues Land dargestellt, das bevölkert ist von Trollen und Feen – etwas Magisches ist allerdings in Das Herz des Menschen nicht zu finden.

Der Fokus liegt auf dem Phänomen, das jungen Männern in der Pubertät begegnet: dass ihnen das Blut aus dem Gehirn hinaus- und in die Lenden hineinschießt. Der Autor wird dabei aber niemals vulgär oder trivial, vielmehr schmückt er sein Thema, das mich ein wenig schmunzeln und ein wenig seufzen lässt, mit gnadenlosen Beobachtungen, stimmigen Lebensweisheiten und subtilen Zwischentönen: „Wir sind nicht immer gleich, die Anwesenheit anderer verändert uns, zieht jeweils andere Register in uns und nur höchst selten alle auf einmal, in jedem Menschen gibt es verborgene Welten, und manche von ihnen kommen nie zum Vorschein“ und: „Ich gehe, und er wusste sofort, was sie damit meinte, aber am besten tut man so, als hätte man keine Ahnung, worum es geht, wenn das Leben um einen herum in tausend Stücke fällt.“ Viel Gewicht liegt auch auf der Leidenschaft des Jungen für Bücher, Wörter und ihre Kraft – ungewöhnlich an einem Ort, an dem es um genug Nahrung für den Winter und die Versorgung der Familie geht. In diesem Aspekt des Buchs fühle ich mich freilich bestens aufgehoben, und ich finde spitze, kluge Sätze dort: „Wörter können Auswirkungen auf Menschen haben, das solltest du eigentlich wissen, nicht zuletzt die Wörter, die auch noch niedergeschrieben wurden, sie dringen in dich ein und lassen dich nicht in Frieden, das ist nicht einfach, und währenddessen soll man noch sein normales Leben weiterführen, als wenn nichts gewesen wäre.“ Dieser Roman überzeugt nicht durch Inhalt, denn die Geschichte an sich ist fast ein wenig flach, sondern durch Sprache und Atmosphäre. Jón Kalman Stefánsson schreibt sehr bedacht, jedes Wort stimmt, jedes Gefühl auch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
für mich eines der schönsten Cover bisher im Jahr 2013.
… fürs Hirn: die Geschichte an sich erfordert keine Hirnarbeit, eher ein Fallenlassen.
… fürs Herz: erste Liebe, erste Triebe vor der Kulisse Islands.
… fürs Gedächtnis: dass ich irgendwann wirklich nach Island reisen muss.

Das Herz des Menschen von Jón Kalman Stefánsson ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05548-2, 416 Seiten, 22,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Nawrat„Die Liebe ist eine gute Institution. Sie wird nie aus der Mode kommen“
Eigentlich hat er ja angefangen zu studieren. Aber dann hat er ein bisschen den Antrieb verloren, und jetzt liefert er einfach mal Gemüse aus. Der 30-jährige Ich-Erzähler findet es ganz angenehm, auf einsamen Wegen durch den Schwarzwald zu fahren. Dass es aber auch schön sein könnte, sein Leben mit jemandem zu teilen, merkt er, als er in der Kneipe die Künstlerin Theres kennenlernt: „Theres mit ihrem Lachen, das hüpft wie eine Bachstelze über Steine.“ Zuerst sieht es so aus, als würde er nicht an sie herankommen, doch dann entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, die nicht den üblichen Regeln folgt. Denn Theres ist anders, sehr sprunghaft, unberechenbar und launisch. Alles, was den Ich-Erzähler anfangs fasziniert hat, wird zur Belastung für ihn, denn er kann keine Zukunft mit Theres planen, sie nimmt es mit der Treue nicht so genau, und ihre Stimmungsschwankungen untergraben das Fundament ihrer Beziehung. Lange versteht er nicht, was mit Theres los ist und dass ihre unkontrollierbaren Launen einer Krankheit entspringen.

Wir zwei allein von Matthias Nawrat ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Und ich mag ungewöhnliche Liebesgeschichten. Unperfekt müssen sie sein und ein bisschen schief, leicht angeschlagen und irgendwie schrullig. Natürlich ist das Normale viel zu normal, um einen Roman darüber zu schreiben, vor allem, wenn es um die Liebe geht. Also entwirft der in Polen geborene Autor zwei Figuren, die ein wenig angeknackst daherkommen: einen Mann, dessen erster Lebensentwurf gescheitert ist, und eine Frau, die gar keinen hat. Ein Gemüsefahrer und eine Künstlerin, zwei einsame Seelen, zwei Körper, die Wärme brauchen: „Hast du schon einmal versucht, Wolle zu essen, sagt sie, und das letzte Stück in der Hand zu behalten, so dass du nach dem Klo wie eine Perle aufgefädelt bist, bereit, jemandem um den Hals gehängt zu werden? Nein, sage ich. Ich auch nicht, sagt sie.“ Die Liebe der beiden ist wie ein scheuer Vogel, sie zeigt sich, hüpft und tiriliert, lässt sich aber nicht greifen. Und da dem Ich-Erzähler das eigentliche Problem so lange nicht klar ist, tappe auch ich im Dunkeln und werde immer verwirrter. Zwar folge ich dieser komplizierten Liebelei durchaus gern, aber die gewünschte Sogwirkung übt der Roman nicht auf mich aus. Ich verirre mich zwischen all den Fäden, in die die zwei Protagonisten sich verwickeln, und von beiden kann ich verschiedene Handlungsweisen weder nachvollziehen noch verstehen. Was aber auch nicht weiter schlimm ist – schließlich wollte ich es ja so mit dem Ungewöhnlichen. Trotzdem bleibt bei mir das Gefühl, dass die Geschichte nicht gehalten hat, was sie mir am Anfang versprochen hat: viel Tiefgang und ein bisschen Leuchten. Doch letztlich breitet sich in dieser Liebesgeschichte wie in jeder anderen auch großes Schweigen aus.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Karotte ist unbezahlbar genial.
… fürs Hirn: dass alles, was einen anfangs fasziniert, irgendwann nervt.
… fürs Herz: nun ja, es ist eine Lovestory.
… fürs Gedächtnis: ein Lieblingszitat: „Sonntage sind in Wahrheit Gemälde aus der Romantik. Weil die Menschen nicht arbeiten, gibt es nur das Wetter, sonst passiert nichts.“

Gut und sättigend: 3 Sterne

Schulz„Was ich selber denk und tu, trau ich jedem andern zu“
Markus Bäcker findet es 1976 am Rand von Ost-Berlin ziemlich scheiße. Es stinkt nach dem Chemiewerk, andauernd rattern Züge vorbei, die Mutter treibt sich bei den Afrikanern herum, und in der Schule kennt er niemanden. Dann begegnet er Nilowsky, dessen Vater die Kneipe in Pankow betreibt, dessen Vater säuft und den Sohn verprügelt. Nilowsky ist eigensinnig, ein paar Jahre älter, herausfordernd und entschlossen, eine Tages Carola zu heiraten. Markus ist hingerissen von dem rauen Typen, der unberechenbar ist und ihn ständig an die Grenzen bringt – genauso wie von Carola, die für immer dreizehn bleiben will, obwohl sie längst älter ist. Eine seltsame Dreiecksgeschichte entspinnt sich, die weder eine Liebesbeziehung noch eine richtige Freundschaft ist. Die Faszination, die Nilowsky auf Markus ausübt, ist auch Jahre später ungebrochen, als die Mauer fällt und die Jugendlichen erwachsen geworden sind – aber nicht glücklicher …

Torsten Schulz hat es mir mit seinem zweiten Roman Nilowsky nicht unbedingt leicht gemacht. Im ersten Drittel weckt er meine Neugier mit seiner Geschichte über einen Außenseiter, zu dem sich ein zweiter gesellt – mit einem dritten im Schlepptau. Ich finde das Setting interessant: Berlins Vorstadt, giftige Dämpfe, viel Alkohol, kaum Perspektiven. Auftritt Underdog: Nilowsky ist ruhelos, ein vernachlässigtes Kind, ein ratloser Jugendlicher, bald auch eine Waise. Der Autor macht ihn zu einer widersprüchlichen und durchaus faszinierenden Persönlichkeit mit einer anstrengenden Art zu reden, er zeigt Nilowsky außen cool und selbstsicher, innerlich orientierungslos und verloren. Die, die ihm etwas bedeuten, sterben ihm weg, und die Liebe zu Carola, sein einziger Fixpunkt, gestaltet sich – wie wohl jede Liebe – schwierig. Ab der Hälfte entgleitet mir der Roman jedoch langsam, es kommen nicht die Abenteuer, die ich erwartet habe, sondern die Wege trennen sich, der einst enge Kontakt wird bedeutungsloser, die drei lassen einander nicht ganz los, haben aber auch nicht jene Wirkung aufeinander, die der Anfang mir versprochen hat. Die Geschichte zerfällt in meinen Händen, verliert an Konsistenz und an Spannkraft, was ich naturgemäß schade finde. Als Markus und Nilowsky einander verlieren, verliert Torsten Schulz mich. Geschickt hat er die geschichtlichen Umstände – vor allem rund um den Fall der Mauer – in den Roman eingebaut, aber sie bleiben Rahmenbedingungen mit wenig Auswirkungen auf die Figuren. Letztlich war dieses Buch für mich wie ein gutes Nudelgericht: Nicht das Feinste, was es gibt, aber es stillt für eine Weile den Hunger.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
der Zug, die Gleise, ja – aber das Huhn?!
… fürs Hirn: eine ungewöhnliche Freundschaft, eine Art der Abhängigkeit und ein bisschen Politik.
… fürs Herz: wo die Versuche zu lieben scheitern, bleibt nur Gleichgültigkeit.
… fürs Gedächtnis: leider nicht allzu viel.

Nilowksy von Torsten Schulz ist erschienen im Klett-Cotta Verlag (ISBN 978-3-608-93971-2, 285 Seiten, 19,95 Seiten).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Nedov„Das sind die Momente, in denen sich die Krebszellen im Menschen bilden“
Im Jahr 2011 fährt der Moldawier Tolyan Andreewitsch durch die Abruzzen und kann gerade noch verhindern, dass er die zwei Teenager Angelo und Cristina überrollt, die auf der Straße liegen. Die beiden haben ihre Jobs in der Zuckerfabrik verloren und sind unglücklich verliebt – Cristina in einen Rowdy, Angelo in Cristina. Also wollen sie sich umbringen. Zusammen mit Andreewitsch landen sie jedoch erst einmal in einer kleinen Pension, in der es tatsächlich einen Selbstmord gegeben hat und dessen Besitzerin die Leiche unbedingt loswerden muss. Der Moldawier kennt sich mit Zucker aus und erzählt den zwei Jugendlichen in dieser verrückten Nacht die Geschichte seines Lebens. Sie führt zurück ins Jahr 1991, als die Sowjetunion auseinanderfiel und in der moldawischen Industriestadt Donduseni ein paar Männer beschlossen, sich die Freiheit zu erkaufen. Ihre Währung: selbstgebrannter Schnaps. Der Rohstoff dafür: 40 Tonnen gestohlener Zucker. Der Zuckerfabrikdirektor ist tot, die Sowjetunion stirbt, die Männer setzen ihr Leben aufs Spiel – und auch 2011 wird ein Begräbnis stattfinden.

Zuckerleben von Pyotr Magnus Nedov ist ein absurder Alptraum. Es ist zusammengesetzt aus unglaublichen, wahnwitzigen, lustigen und traurigen Szenen, die – während man sie miterlebt – durchaus Sinn zu ergeben scheinen, während man sich nach dem „Aufwachen“ fragt, ob man das tatsächlich so gelesen hat. Der Autor hat das Buch in zwei Bereiche geteilt, Vergangenheit und Gegenwart, zwischen denen er hin und her springt. Bindeglied ist dabei die Figur des Moldawiers Tolyan Andreewitsch, der aber nicht als Ich-Erzähler auftritt und dessen wahre Identität lange verborgen bleibt. Worum geht es in Zuckerleben? Um Wagemut und Risiko, den Traum von der Freiheit, das Zerbrechen des Kommunismus und Selbstmord. Die Figuren, die allesamt so komplizierte Namen tragen, dass meine Augen über die Buchstaben stolpern, sind zum Großteil raue Gesellen, in der untergehenden Sowjetunion wird nicht lang gefackelt, jeder schaut nur auf sich selbst. Pyotr Magnus Nedov schreibt flüssig, eloquent und amüsant, schweift aber manchmal derart ab, dass ich vor Ungeduld aufseufzen muss. Sein ganzes Buch ist herrlich ironisch und ein bisschen böse. Er fasst die Menschen im Moldawien des Jahres 1991 nicht, wie man es oft erlebt, ob ihrer Armut und ihres Schicksals mit Samthandschuhen an – im Gegenteil, er stellt sie als ebenso gewitzt wie raffgierig dar.

Zuckerleben hat mich ein bisschen verrückt gemacht. Während ich mich an manchen Stellen gut unterhalten gefühlt habe, haben mir andere wegen der ausufernden Dialoge graue Haare beschert. Man muss stets extrem gut aufpassen, um den Faden nicht zu verlieren. Höchst irritiert war ich, als der Autor einige Nebenfiguren plötzlich Österreichisch reden ließ – als Moldawier. Vermutlich soll das ein Pendant zu einem moldawischen Dialekt sein, aber Wörter wie „Zuckergoscherl“ zu verwenden, die eindeutig österreichisch sind, oder Aussprachevarianten wie „Bua“ und „was Guats“ zu verwenden, finde ich fragwürdig. Ich weiß nicht, inwieweit man einem Moldawier dieses Kunst-Österreichisch mit Aspekten aus dem Wienerischen und Steirischen in den Mund legen kann, das scheint mir wenig authentisch. Insgesamt ist es Pyotr Magnus Nedov aber gut gelungen, mir Einblick zu gewähren in ein Land, mit dem ich so gar nichts zu tun habe – zu einer Zeit, als es sich im Umbruch befand. Allein dafür hat sich die Lektüre gelohnt, und wer Lust hat auf einen wilden, abstrusen Roadtrip durch Moldawien – und die Nerven dafür aufbringt –, dem sei Zuckerleben ans Herz gelegt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein supercooles Cover, die Reifenspuren sind erhaben.
… fürs Hirn: Politik, Geheimnisse, verrückte Ideen …
… fürs Herz: Liebesgeschichte gibt es keine, die kranke Teenager-Romanze mag ich nicht dazuzählen.
… fürs Gedächtnis: der ungewöhnliche Aufbewahrungsort für die Leiche des Zuckerfabrikdirektors.

Zuckerleben von Pyotr Magnus Nedov ist erschienen im Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9702-5, 380 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Brown„We’re all fuckups in our own special ways“
„Our family has always communicated its deepest feelings through the words of a man who has been dead for almost four hundred years.“ Gemeint ist William Shakespeare, den die drei Schwestern Rose, Bean und Cordy im Schlaf zitieren können. Schuld daran ist ihr Vater, Professor und Shakespeare-Spezialist. Die Familienmitglieder werfen einander die jeweils zur Situation passenden Zitate um die Ohren, und der Vater vermittelt den Töchtern sogar mit Shakespeares Worten, dass die Mutter an Brustkrebs erkrankt ist. Die drei Schwestern kehren heim – offiziell, um ihrer Mutter beizustehen, inoffiziell, weil jede von ihnen an einem Punkt im Leben angelangt ist, an dem sie eine Auszeit braucht: Rose will Jonathan heiraten, aber nicht zu ihm nach England ziehen, Bean hat ihren Job in New York verloren, weil sie Geld veruntreut hat, und Cordy hat das Zigeunerleben satt – und ist außerdem schwanger. Zurück in der Kleinstadt Barnwell versuchen sie, eine Lösung für ihre Probleme zu finden – wenn es sein muss, auch mit Shakespeare.

The weird sisters von Eleanor Brown ist ein Buch, das wohl in die Kategorie Unterhaltung für Frauen einzuordnen ist. Wir sprechen hier allerdings nicht von Chicklit, denn der Roman hat durchaus Niveau – dafür sorgen schon allein die vielen Shakespeare-Zitate, die die Autorin geschickt an den geeigneten Stellen eingeflochten hat. Das Setting ist nichts Besonderes – eine Kleinstadt, ein heißer Sommer –, die Figuren sind es auch nicht unbedingt: drei ungleiche Schwestern, eine Mutter als Ruhepol, der Vater, der abseits von seinem Shakespeare-Wissen recht blass bleibt. Was das Buch jedoch außergewöhnlich macht, ist die Perspektive: Eleanor Brown schreibt in der ersten Person Plural. Dieses Wir sind die Schwestern, die aber auch alle einzeln als Figuren genannt werden – es gibt kein Ich. Das ist extrem befremdlich und klingt beispielsweise so: „When Rose was six and Bean three, our mother nearly ready to give birth to Cordy, we were in the kitchen playing while our mother baked.“ Das ist streng genommen nicht möglich, das Wir in diesem Fall müssten eigentlich Rose und Bean sein, aber Cordy wird davon ebenfalls eingeschlossen. Diese ungewöhnliche Erzählform fasziniert mich und stößt mich gleichzeitig ab, weil ich mich ständig frage, wer da eigentlich berichtet. Was die Geschichte an sich betrifft, so habe ich nicht das Gefühl, dass man sie gelesen haben muss – aber zum Zeitvertreib kann man es auf jeden Fall tun.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
des Covers wegen hätte ich das Buch nicht gekauft.
… fürs Hirn: Shakespeare!
… fürs Herz: ja, ein Frauenroman halt.
… fürs Gedächtnis: die merkwürdige Erzählperspektive.

The weird sisters von Eleanor Brown ist auf Deutsch unter dem Titel Die Shakespeare-Schwestern erschienen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ohlin„Das war in einem anderen Leben.“ „So eins hatte ich auch schon mal.“
Grace ist Therapeutin und lebt in Montréal. Beim Langlaufen findet sie im Schnee einen Mann, der gerade versucht hat, sich an einem Baum zu erhängen. Sie rettet ihn und steigert sich so sehr in ihr Helfersyndrom hinein, dass die Grenzen zwischen Hilfsbereitschaft und Verliebtheit verschwimmen: „Sie kehrte dann zurück ins Wohnzimmer, zu diesem Menschen, den sie kaum kannte, diesem dunklen, schwierigen Mann, und küsste ihn. Manche Dinge waren einfach zu intensiv, um sie langsam anzugehen.“ Das alles geschieht 1996. Im New York des Jahres 2002 versucht Annie, als Schauspielerin Fuß zu fassen. Sie war einst Grace‘ Patientin und ist von zuhause weggelaufen – genau wie die junge, schwangere Hilary, die obdachlos ist und sich bei Annie einnistet. Annie denkt nie an Grace, deren Leben sie 1996 verändert hat. Mehr Präsenz nimmt Grace dagegen in den Erinnerungen ihres Exmanns Mitch ein, der in die Arktis zu einer Inuit-Gemeinde flüchtet, um sich klar darüber zu werden, ob er bei seiner Freundin und ihrem autistischen Kind bleiben will. Während seiner Abwesenheit wird ihm die Entscheidung abgenommen, das Leben geht weiter – und als er Grace wiedertrifft, wird auch offenbar, was damals geschehen ist zwischen ihr und dem lebensmüden Fremden.

Die kanadische Autorin Alix Ohlin erzählt in ihrem zweiten Roman von drei Menschen – Grace, Mitch und Annie –, die sich einst kannten, aber eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Ihr jeweiliges Leben ist geprägt vom Versuch der Selbstbestimmung und vom Scheitern. Die Schriftstellerin hat drei völlig verschiedene Charaktere gewählt: Grace ist selbstbewusst, herzlich und aufdringlich, Annie gibt sich karrieregeil und rücksichtslos, hat aber ein weiches Herz, und Mitch steht sich selbst im Weg. Alix Ohlin widmet sich ihren Figuren so liebevoll, dass es ihr gelingt, mein Interesse für deren Geschichten zu wecken, auch wenn sie am Ende eher belanglos bleiben. Gemeinsam ist den dreien, dass sie versuchen, jemand anderem zu helfen, und dabei sich selbst verlieren. Als Rahmen nutzt die Autorin dabei die Beziehung zwischen einem Therapeuten und einem Patienten, denn auch Mitch ist wie Grace Therapeut. Die Ausgangssituation – dass Grace einen Mann trifft, der sich soeben umbringen wollte – ist natürlich spannend, und ich bin ebenso begierig darauf, sein Geheimnis zu erfahren, wie sie. Als dieses Geheimnis, die Ursache für den Selbstmordversuch, dann jedoch ans Licht kommt, bin ich fast ein wenig enttäuscht, weil es mir ein bisschen abgedroschen erscheint. Was angesichts des Unglücks, das dahintersteht, eine harte Aussage ist, aber in diesem Punkt hat Alix Ohlin sich in meinen Augen ein wenig verzettelt, denn plötzlich kommen noch so viele Schicksale zum Tragen, dass sie angesichts der Kürze nur oberflächlich dargestellt werden können, was sehr schade ist. Sie zündet hin und wieder kleine Knallfrösche, aber die große Bombe, auf die ich warte, bleibt aus. Trotzdem ist dieser Roman aufgrund seines Unterhaltungswerts und Alix Ohlins angenehmen Stils sehr lesenswert, und ich habe ihre drei kleinen Alltagshelden gern für eine Weile begleitet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr stilvolles Cover!
… fürs Hirn: gute Anklänge und ein gekonnter Schreibstil, aber ich hätte mir mehr Sprengkraft gewünscht.
… fürs Herz: viel Menschlichkeit.
… fürs Gedächtnis: ein nettes, harmloses Lesevergnügen.

In einer anderen Haut von Alix Ohlin ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-64703-1, 351 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vann„Die Erinnerung ist ein Problem, weil sie uns erzählt, was wir hören wollen“
„Galen mochte keine Umarmungen. Seine Familie bestand nur aus Frauen, und dauernd umarmten sie ihn, viele Male am Tag. Er hätte es vorgezogen, in seinem ganzen Leben nie wieder umarmt zu werden.“ Dabei sind die Umarmungen Galens geringstes Problem: Er ist 22 und lebt, statt aufs College zu gehen, mit seiner Mutter auf einer einsamen Walnussfarm in Kalifornien. Die Frauen in seiner Familie, das sind: die demente Großmutter, Galens Mutter Suzie-Q, deren Schwester Helen sowie Galens Cousine Jennifer. Dass sie einander stets umarmen, ist blanker Hohn, denn sie hegen ausschließlich negative Gefühle füreinander: Der Hass zwischen Suzie und Helen geht zurück auf eine freudlose Kindheit in einem gewalttätigen Elternhaus, die Bindung zwischen Galen und seiner Mutter ist unnatürlich eng, und Jennifer nutzt Galens sexuelle Unerfahrenheit für sich aus, obwohl sie ihn verachtet. Galen versucht, in eine Art sanften Esoterik-Fanatismus zu flüchten und sich von seinem irdischen Dasein zu lösen: „Hier in der Hütte auf dieser alten Matratze im Dunkeln hatte er das Gefühl, für etwas bestimmt zu sein. Womöglich nahm sein Leben eine Gestalt an, die auch Größe verhieß, wenngleich es zu früh war, um Genaueres zu wissen.“ Doch: „Seine Mutter eine ständige Störung, ein Riss in der Textur von Raum und Zeit. In ihrer Nähe konnte es keinen Frieden geben.“ Und während der Sommer sich aufheizt, schlagen die negativen Gefühle von Galen und seiner Familie in handfeste Gewalt um, die gerade groteske Ausmaße annimmt …

Dreck von David Vann ist nicht einfach nur Dreck. Es ist Morast, Sumpfgebiet, Treibsand. Dieses Buch ist wie eine Schlingpflanze, die sich um meinen Knöchel windet und mich hineinzieht in eine überaus verstörende Geschichte über einen jungen Mann, der eines Tages – aufgestachelt von Provokationen, Hass und pseudospirituellem Gedankengut – eine Grenze überschreitet und nicht mehr zurück kann. Der preisgekrönte Autor entwirft ein spannungsgeladenes Umfeld, in dem von Anfang an die Blitze fliegen. Es ist völlig logisch, dass sich das Unwetter, das sich zusammenbraut, entladen wird. Doch als es das schließlich tut, geschieht es auf dermaßen heftige Weise, dass ich mich ungläubig aufgerissenen Augen dastehe und es nicht fassen kann. Natürlich weiß ich, dass Menschen so etwas tun. Aber obwohl David Vann sich alle Mühe gegeben hat, Galens Motivation deutlich zu machen, bleibt dieser als Gesamtfigur ein Rätsel für mich. Wenn er das Leben an der Seite seiner Mutter derart hasst, warum geht er nicht einfach weg? Was soll die halbherzige Beschäftigung mit Raum, Zeit und dem Körper als Hülle unseres Geistes? Ist er zurechnungsfähig oder einfach nur wahnsinnig? Hass und Liebe mischen sich zu einem explosiven Cocktail in Galen, und während mir sehr wohl bewusst ist, dass beide Empfindungen nebeneinander existieren können, habe ich in diesem Fall das Gefühl, die eine mache die andere unglaubwürdig. David Vann ist es auf jeden Fall gelungen, mich zu fesseln, mich versinken zu lassen in menschlichem Dreck und mich zu schockieren. Sein Buch hat mich auf äußerst negative Weise beschäftigt und bewegt – aber es hat mich nicht kaltgelassen, und das ist die wichtigste Forderung, die ich an einen Roman stelle. Wer sich amüsieren will, gehe woanders hin. Wer einen Blick in jene vielzitierten menschlichen Abgründe werfen will – bitte sehr.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr simpel, sehr passend.
… fürs Hirn: jede Menge – Entschuldigung – ziemlich kranker Scheiß.
… fürs Herz: eine Liebesgeschichte wäre hier fehl am Platz, und jede Liebe, die es gibt, ist verseucht von Neid, Missgunst und Verachtung.
… fürs Gedächtnis: pures Entsetzen.

Dreck von David Vann ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42367-7, 296 Seiten, 19,99 Euro).