Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

KhadraSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Younes wird in Algerien als Kind armer Bauern geboren, deren gesamte Ernte einem absichtlich gelegten Feuer zum Opfer fällt. Der Vater bringt die Familie in die Stadt Oran und versucht mit eisernem Willen, dem Elend zu entkommen, scheitert jedoch schrecklich. Um wenigstens dem Sohn ein gutes Leben zu ermöglichen, überlässt er ihn seinem Bruder, einem Apotheker, und Younes wird im europäischen, reichen Teil der Stadt zu Jonas. Schnell findet er drei beste Freunde, deren Schicksal sich später rund um die schöne Émilie dreht, die jeder Einzelne von ihnen liebt. Der Krieg macht ihnen in jeder Hinsicht einen Strich durch die Rechnung, und viele Jahrzehnte später erinnert Younes sich voller Wehmut an das, was er getan und das, was er versäumt hat zu tun.

Hat’s gemundet?
Ja. Allerdings waren die Erwartungen vermutlich ein wenig zu groß. Denn der Klappentext spricht von einer Liebe zwischen Younes und Émilie, einer „Sehnsucht, in der sich über die folgenden Jahrzehnte hinweg das schwierige Verhältnis von Orient und Okzident spiegelt“. Das ist zu hoch gegriffen, denn eine solche Liebe gibt es nicht, und in all den Jahrzehnten besteht zwischen den beiden Figuren gar kein Kontakt. Das hat mich ein wenig irritiert. Ansonsten aber ist Die Schuld des Tages an die Nacht des algerischen Autors Mohammed Moulessehoul, der unter dem Pseudonym Yasmina Khadra schreibt, ein intelligentes, eindrucksvolles Buch über das Leben in Algerien in der Zeit von 1930 bis 1960, das Porträt eines von Unruhen gebeutelten Landes. Es geht um Leid und Unglück, um Schicksal und die Machtlosigkeit, mit der man ihm gegenübersteht. Gut und flüssig zu lesen, zwischendrin vielleicht ein wenig langatmig.

Wer soll’s lesen?
Jeder, der gern in fremde Länder reist und mitfiebert, ob ein Protagonist es schafft, seinem vermeintlich vorgezeichneten Schicksal zu entkommen.

Bestes Zitat:

„Hör auf zu jammern, mein Junge. Es gibt nur einen Gott auf Erden, und der bist du. Wenn dir die Welt nicht gefällt, denk dir eine neue aus, und lass nicht zu, dass der Kummer dich von deiner Wolke holt. Das Leben lächelt dem zu, der es ihm mit gleicher Münze heimzahlt.“

Gut und sättigend: 3 Sterne

MüllerNobelpreisliteratur

Herta Müller, rumäniendeutsche Autorin aus dem Banat, hat 2009 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Der Fuchs war damals schon der Jäger ist erstmals 1992 erschienen und handelt von der jungen Lehrerin Adina, die in den letzten Tagen des Ceauşescu-Regimes ins Visier des Geheimdienstes. Ihre beste Freundin Clara bandelt mit einem Geheimdienstler an und versucht, Adina zu schützen, setzt dadurch aber die Freundschaft aufs Spiel. Mit ihrem Exfreund, dem Musiker Paul, flüchtet Adina, die stets sehnsüchtig auf Briefe des Soldaten Ilja wartet, aufs Land, wo sie den Sturz des Diktators erleben.

Herta Müller verfügt über eine glänzende, starke, machtvolle Sprache, über die sie mit einer Leichtigkeit verfügt, die mich erstaunt. Sie lässt die Worte tanzen, springen und Drohgebärden machen, und die Worte fügen sich ihr folgsam. Ich dagegen hechte manchmal etwas atemlos hinterher, stolpere und muss Sätze zwei Mal lesen, während andere sich um meinen Hals schmiegen wie eine Kette aus Gold. Viele Metaphern reihen sich aneinander und schwingen unheilvoll, ein Fuchspelz etwa steht für die ständige Gefahr. Dieses Buch ist das Abbild einer Zeit, es bringt Bedrohung, Unsicherheit und Unfreiheit zum Ausdruck, es ist ein sprachlich faszinierendes Wunderwerk, das sich gegen das Lesen sperrt und sein ganz eigenes Lied singt. Wie sich das anhört? So:

„Das Licht der Taschenlampe reicht nicht zum Sehen, es reicht nur zur Gewißheit, daß die Nacht nicht den ganzen Rücken fressen kann, nur den halben.“

„Vor dem Eingang des Wohnblocks spinnen Rosen ein löchriges Dach, ein Sieb aus dreckigen Blättern und dreckigen Sternen.“

„Die Pelzmäntel sind aus weißem Lamm. Nur einer ist grün, als hätte sich, nachdem der Mantel genäht war, die Weide durchgebissen.“

„Denn das Unglück ist nackt, immer kahl, wie später und draußen das Winterholz sein wird. Muß das nackte Leben abhalten vom Auge. Muß das nackte Reden abhalten vom Mund, bevor ein Gedanke im Kopf ist. Muß schweigen und klagt nicht.“

„Man müßte immer schlafen, dann spürt man nichts, sagt der Vater zum Kind.“

„So stehen die Tage, wie Gänse in Adinas Kopf, aneinandergedrängt ohne Dorf, versteckt wie ein Rückgrat und endlos lang.“

„Seine Flüche sind kalt, seine Flüche sind nicht zum Essen, nicht zum Schlafen. Zum Herumirren und Frieren sind sie, steigen zwischen Maisstengeln hinauf und würgen sich. Zum Wirbeln und flachen Hinlegen sind seine Flüche, zum kurzen Toben und langen Stillhalten. Wenn Flüche gebrochen sind, hat es sie nie gegeben.“

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

sand-cover-180xVarSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Um einen Mann, der 1972 mit eingeschlagenem Schädel in einer Schnapsbrennerei in der Sahara erwacht und fortan versucht, herauszufinden, wer er ist. Ein Spion? Hat er getötet? Sind seine Frau und sein Kind tatsächlich in der Hand von Verbrechern, die ihn erpressen wollen – hat er überhaupt Frau und Kind? Was hat das alles mit vier Toten in einer Hippie-Kommune zu tun, und verkauft die geheimnisvolle blonde Helen aus Amerika wirklich Schminke? Er ist ratlos und weiß nicht, wer Freund oder Feind ist, und am Ende erlebt er die grausamste Überraschung des Schicksals überhaupt – so radikal und ironisch, dass ich laut lachen musste.

Hat’s gemundet?
Ehrlich gesagt – ich weiß es nicht. Viele Teile des Romans finde ich spannend, gut inszeniert, sehr lebendig, andere verlaufen im Sand, und ich langweile mich ein bisschen. Deshalb stehe ich diesem hochgelobten Werk des inzwischen verstorbenen Autors zwiespältig gegenüber. Ich verirre mich in den Beschreibungen der vielen Figuren und kann in manchen Dialogen keinen Antrieb erkennen, der den Roman weiterbringen würde. Ich laufe im Sand im Kreis – und genau das ist, ich verstehe es ja, Sinn der Sache. Mir zu zeigen, wie zermarternd, wie grausam und rücksichtslos das Leben ist. Diese Botschaft transportiert Wolfgang Herrndorf meisterhaft. Er beweist auf spielerische Art, wie sinnlos jegliche Anstrengung letztlich ist. Bamm! Ein Wahnsinn von einem Buch.

Wer soll’s lesen?
Wer gern Agententhriller mit Hirn liest oder wissen möchte, was hinter dem Hype steckt.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

LagunaSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Um Heather, die wie eine Gefangene im Haus ihrer streng religiösen Eltern lebt. Sie hat noch nie ein anderes Kind gesehen, besitzt keine Spielsachen oder Bücher, ihre Eltern berühren sie nur, um sie zu bestrafen. Doch Kochlöffel, Stift und Türknauf sprechen zu Heather, flüstern ihr zu, nach draußen zu gehen, und für kurze Zeit darf Heather sogar die Schule besuchen. Dann gewinnt der Wahnsinn ihrer Eltern erneut die Oberhand, und um sich dagegen zu wehren, muss Heather erst wachsen, mutig werden, ihre Verzweiflung in Wut umwandeln.

Hat’s gemundet?
Nun ja. Dieses Buch zu lesen, ist, wie auf Holz zu kauen. Hart. Und voller Splitter. Heathers Leben ist ein Alptraum, so voller Einsamkeit, Verwirrung und Sehnsucht, dass meine ganze Haut vor Mitleid brennt. Eine Mutter, die das Kind ans Kreuz hängt, ein Vater, der sich nachts auf das Kind drauflegt, andere Kinder, die es ausgrenzen – all das ist schon allein in der Fantasie schwer zu ertragen. Das einzig „Schöne“ an diesem Buch sind die kraftvollen Sprachbilder, die die Geschichte noch intensiver machen. Mir ist es teilweise einfach zu irre und zu anstrengend, aber ich ziehe den Hut vor Sophie Lagunas schmerzhaftem Kraftakt.

Wer soll’s lesen?

Wer starke Nerven hat.

Entdeckt habe ich das Buch vor einiger Zeit bei Flattersatz.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

MaksikSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht‘s?
Will Silver ist an der englischsprachigen höheren Schule in Paris so etwas wie der Star unter den Lehrern: Die männlichen Schüler bewundern ihn, die weiblichen wollen mit ihm ins Bett. Er unterrichtet Literatur, ist engagiert und mit Herzblut dabei – in seinem Seminar soll diskutiert werden über Gott, Moral, Camus und Shakespeare. Die Schüler – wie Gilad – sind davon überzeugt, nirgends so viel fürs Leben zu lernen wie bei Will. Frei von Fehlern und menschlichen Begierden ist allerdings auch der angehimmelte Lehrer, der sich gern als einsamen Wolf inszeniert, nicht, und so kommt es dazu, dass Will mit der 17-jährigen Schülerin Marie schläft. Dass er seiner Karriere damit nichts Gutes tut, ist klar, und die Folgen sind mehr als absehbar.

Hat’s gemundet?
Ja. seinodernichtsein ist eine feinsinnige, melancholische, traurige Geschichte, die durch kleine Exkurse in die Philosophie Stoff zum Nachdenken bietet, ansonsten aber einfach nur erzählt, und zwar aus der Perspektive von drei Figuren: Will, Marie und Gilad. Über Will erfährt man wenig, er bleibt geheimnisumwoben, umgeben von Einsamkeit, seltsam entrückt. Maries Stimme gefällt mir am besten; sie ist jung, verzweifelt, verliebt, irgendwie unfertig, aber auch hoffnungsfroh. Gilad liefert ein bisschen Hintergrund zum Leben als reicher Einwanderer in Paris. Mir fehlt die große Erkenntnis, ein Fels, der dieses Buch herausragend macht, aber das stört nicht weiter – es ist sehr gut geschrieben, interessant, niveauvoll, es vertreibt dem Leser die Zeit. Mehr kann es nicht, muss es aber auch nicht.

Wer soll’s lesen?
Freunde von melancholischen Storys, die es nicht stört, wenn das Ende der Geschichte vorhersehbar ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

StrubelSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht‘s?
Um Erik, den „Jungen“, der den Sommer auf einer winzigen Insel in der Ostsee verbringt, weil er fasziniert ist von der Ornithologin Inez. Um Inez, die so alt ist, dass sie Eriks Mutter sein könnte, die sich aber trotzdem einlässt auf die körperliche Anziehung zwischen den beiden. Um Rainer Feldberg, der auf der Insel Unruhe stiftet und den Inez aus einer lang vergangenen Zeit kennt – einer Zeit, in der die DDR noch bestand. Und um Felix Ton, der die Verbindung darstellt zwischen all den anderen Figuren.

Hat’s gemundet?

Schwer zu sagen. Dieses Buch ist sehr poetisch, sprachlich anspruchsvoll, inhaltlich interessant – und hinterlässt bei mir einen sehr üblen Nachgeschmack. Allerdings kann ich nicht verraten, warum, ohne zu spoilern. Nur so viel: Ich bin offenbar nicht freigeistig genug, um eine bestimmte Wendung in der Geschichte nicht als widernatürlich zu empfinden, und das Verhalten der Protagonisten übersteigt in diesem Punkt mein Verständnis. Schlimmer ist noch, dass dies mir das gesamte Buch vergällt, obwohl es mir zu Beginn eigentlich ausgezeichnet gefallen hat. Ich habe aber auch ein Problem mit allzu absurden „Zufällen“ in Romanen, die mir, da sie ja konstruiert sind, nicht als Zufälle eingehen wollen. Von diesem Buch bin ich abgestoßen und angeekelt, muss aber zugeben, dass es trotzdem sehr gut ist.

Wer soll’s lesen?
Wer sich traut.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

WnukSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht‘s?
Ich-Erzähler Josch ist ein echter Loser. Als Schwimmmeister verbringt er seine Tage inmitten von halbnackten Menschen, feuchter Luft und Fußpilz. Seinen Sohn, der in Frankreich lebt, hat er seit Jahren nicht gesehen, Freunde hat er keine, die Liebe fehlt in seinem Leben ebenfalls. Als die 14-jährige Leonie, die ihn angehimmelt hat, ertrinkt – woran Josch nur indirekt Schuld trägt –, packt er seine Sachen und flüchtet. Maria, eine junge blinde Frau, die er kaum kennt, hängt sich ihm an und begleitet ihn auf seinem kuriosen Roadtrip. Das Ziel ist natürlich Frankreich, wo Josch sich bei einem Treffen mit seinem Sohn, der davon noch gar nichts weiß, eine gar zauberhafte Lösung für all seine Probleme erhofft. Dabei sollte er doch wissen, dass das Leben nie so einfach ist.

Hat’s gemundet?
Ich bin mir nicht sicher. Die Ausgangsidee gefällt mir, und ich mag die Figur der blinden, lebensfrohen Maria, wobei ich sie aber auch ein wenig überzeichnet finde. Mit Josch habe ich Schwierigkeiten, er geht mir mit seinem weinerlichen Ton bald auf die Nerven. Die Dialoge sind oft halbgare Aneinanderreihungen von Küchenphilosophie-Sprüchen über die Suche nach dem Glück: Jeder hat sein Leben selbst in der Hand, Glücklichsein ist eine Entscheidung und dergleichen. Oliver Wnuk, der als Schauspieler bekannt ist, hat es gut gemeint, vielleicht ein wenig zu gut. Ein bisschen mehr Sarkasmus und Abgeklärtheit hätten dem Roman in meinen Augen nicht geschadet. Die Geschichte wirkt stellenweise steif und gewollt. Sie ist aber gut zu lesen und dank der leicht angeknacksten, liebenswerten Protagonisten durchaus unterhaltsam.

Wer soll’s lesen?
Wer Lust auf einen eher leichten Snack mit einem Hauch Tiefgang hat.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

CleenSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht‘s?
Judith ist zehn Jahre alt und hat es nicht gerade leicht. Ihr Vater ist streng religiös und gehört einer missionarischen Gemeinschaft an, jeden Abend lesen die beiden in der Bibel, und an den Wochenenden versuchen sie die Nachbarschaft zu bekehren. Die Mutter ist bei Judiths Geburt gestorben, und da das Mädchen die meiste Zeit allein ist, hat es in seinem Zimmer eine Miniaturwelt aus Müll gebaut, „the land of decoration“. In der Schule ist Judith natürlich eine Außenseiterin, und in ihrer Verzweiflung bleibt ihr nichts anderes übrig, als an Wunder zu glauben: Sie fabriziert Schnee in ihrer eigenen kleinen Welt, und als es am nächsten Tag – mitten im Oktober – wirklich schneit, muss Judith nicht in die Schule. Ihre Probleme fangen damit aber erst an …

Hat’s gemundet?
Teilweise. The land of decoration ist ein sehr merkwürdiges und schräges Buch. Geschichten, in denen ein kindlicher Protagonist auftritt, brauchen ja immer etwas Originelles, und diese hier hat davon reichlich: eine tote Mutter, Probleme in der Schule, ein fanatisch religiöser Vater – das klingt alles schon schlimm genug. Judith aber glaubt wirklich an den Weltuntergang, führt Gespräche mit einem irritierend bösartigen Gott und steigert sich so sehr in ihre Wahnvorstellungen hinein, dass sie beinahe zu weit geht. Dieses Kind, das immer allein ist, besteht aus purem Unglück. Grace McCleen, die selbst in einer religiösen Gemeinschaft aufwuchs, hat eine intensive, schwermütige und teilweise anstrengende Story geschrieben, die mich sehr verstört zurücklässt. Zwar gibt es immer wieder amüsante Zwischentöne, aber das Lachen bleibt mir eher im Hals stecken. Ziemlich gruselig.

Wer soll’s lesen?
Fans von Storys mit kindlichen Ich-Erzählern, die sich gern in eine Fantasiewelt hineindenken.

The land of decoration ist auf Deutsch unter dem Titel Wo Milch und Honig fließen erschienen. Bei Mara findet ihr eine ausführliche Rezension.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Bünger„Es ist wie immer, wenn man fällt: Der Boden ist da, bevor man merkt, dass man ihn unter den Füßen verloren hat“
Rosalie ist als Staatsanwältin eine eher vernunftgesteuerte junge Frau, die nur sporadische Beziehungen zu Männern pflegt. Eher halbherzig ist auch der Kontakt zu ihrem Vater, mit dem sie regelmäßig telefoniert oder Schweinsbraten isst, wobei sie seinen anstrengenden Monologen über seine paranoiden Weltansichten nicht immer zu hundert Prozent folgt. Als der Vater nach einem solchen Schweinsbratenessen plötzlich verschwunden ist, wünscht Rosalie sich, sie hätte besser zugehört: Welche Spur verfolgt er, wo könnte er sein? Hat er sich in irgendein Verschwörungsszenario hineingesteigert oder hat er dieses Mal tatsächlich etwas Verbrecherisches aufgedeckt und befindet sich in Gefahr? Rosalie bleibt nichts anderes übrig, als sich durch die vielen wirren Aufzeichnungen des Vaters zu wühlen, um Aufschluss über seinen Aufenthaltsort zu bekommen. Zur Seite steht ihr – oder eher sitzt, denn er ist gefesselt an einen Rollstuhl – Tobias, ein Freund aus Kindheitstagen, der Rosalies Vater gut kennt. An dem Unfall, der ihn lähmte, fühlt sie sich nicht unschuldig. So wird Rosalies Suche nach dem Vater auch zu einem Ausflug in ihre Kindheit, als sie noch glauben wollte, dass er nicht einfach nur verrückt war, sondern vielleicht doch ein Held.

In Lieblingskinder erzählt die deutsche Autorin Traudl Bünger von Wahnvorstellungen, vom Scheitern einer Familie und den schwindenden Illusionen eines Kindes, das sich später als Erwachsene den Schatten der Vergangenheit stellen muss. Sie tut dies, indem sie zwischen Gegenwart – die Suche von Rosalie und Tobias nach dem verschwundenen Vater – und Vergangenheit – Rosalies Kindheit, beginnend mit 1978 – wechselt und nach und nach alle Schichten der Story freilegt. Zu Tage kommt dabei ein Familienverband aus Vater, Mutter und zwei Töchtern, der mit der Zeit von der zunehmenden Verrücktheit des Vaters zermürbt wurde. Nachbarschaftsstreitereien, das Aussterben von Kleintieren, eine große Verschwörung zum einträglichen Verkauf von Glühbirnen – alles kann für den Vater zur Obsession werden. Und während Rosalie als kleines Mädchen noch seine diensteifrige Assistentin spielt, wird ihr später immer mehr klar, dass sie auf Abstand zum Vater gehen muss, um nicht selbst so zu werden wie er.

Sehr flott, nüchtern und frech ist der Stil von Traudl Bünger, ihre Ich-Erzählerin ist eine sympathische junge Frau, die gelernt hat, dass niemand auf sie achtet, wenn sie es nicht selbst tut – und dabei übersieht, dass man auch Schwächen zulassen und eingestehen muss, um zu einer stabilen Persönlichkeit zu werden. Das Verschwinden des Vaters und das Wiedersehen mit Tobias, der ihr bald wichtiger wird, als ihr anfangs lieb ist, werden für Rosalie zum Startpunkt für einen Ausflug zu jenen Geschehnissen, die sie gern verdrängen und vergessen würde. Die Autorin schreibt griffig und witzig, sie trifft perfekt den Ton zwischen Ernst und Unernst. Das Ende des Romans ist für mich persönlich unglücklich gewählt, denn auch wenn ich weiß, dass viele Schriftsteller gern auf diesen Knalleffekt-Kniff setzen, halte ich ihn für sehr mau und unbefriedigend. Überhaupt verliert das Buch gegen Ende hin für mich an Zugkraft, aber als angenehmes Leseerlebnis möchte ich es dennoch weiterempfehlen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr schlichtes Cover, kein Hingucker.
… fürs Hirn: jede Menge Trockenes – was der Vater zusammengetragen und sich zusammengereimt hat, führt im Buch zu manchen Längen.
… fürs Herz: ja! Eine Lovestory gibt es auch.
… fürs Gedächtnis: für mich das Ende. Allerdings in eher negativer Hinsicht. Muss das immer sein? Ist das die Angst vor zu viel Kitsch?

Entdeckt habe ich das Buch bei Mara von buzzaldrins Bücher, die es jedoch um einiges euphorischer besprochen hat als ich.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Greer„I do not know what joins the parts of an atom, but it seems what binds one human to another is pain“
Im Jahr 1953 ist die dunkelhäutige Pearlie eine brave Ehefrau und Mutter. Der Sohn leidet an Polio, der Gatte – so denkt sie – an einer Herzkrankheit, derentwegen sie ihn schonen muss. Der Krieg hat tiefe Spuren in den Menschen hinterlassen, und es wird nicht viel über Probleme oder Gefühle gesprochen. Als eines Tages der gutaussehende Buzz vor Pearlies Haus in San Francisco steht, beginnt eine turbulente Zeit: „I struggled, seeing myself as others passing on the boardwalk saw me: a colored woman, poorly dressed, eagerly talking with a handsome white man. No one would have known, from how he held my hand, that this man plannend to take my husband from me.” Buzz hat nur ein Ziel, das er mit viel Charme und viel Geld erreichen will: Er will Pearlies Mann Holland für sich. Und Pearlie, die ihren Mann schon als Jugendliche liebte und all die Kriegsjahre auf ihn wartete, kämpft mit sich. Was, wenn sie dem Glück der beiden im Weg steht? Darf sie Holland dazu zwingen, bei ihr zu bleiben? Kann er sie überhaupt lieben, wenn er offenbar homosexuell ist?

Andrew Sean Greer ist mir mit seiner wunderbaren Geschichte des Max Tivoli, inspiriert von F. Scott Fitzgeralds Benjamin Button, bekannt. Und als ich diesen Roman von ihm für wenige Euro ergattern konnte, habe ich zugegriffen. Der Autor entwirft darin die Geschichte einer Ehe und platziert sie im Nachkriegsamerika, gibt ihr den biederen Anstrich der 1950er-Jahre, stellt aber hinter die Fassade die Frage nach der sexuellen Orientierung des Ehemannes. An sich nichts Neues, dass eine Frau entdeckt, dass der Mann sich (auch) zu Männern hingezogen fühlt, immerhin aber in diesem Fall gut erzählt. Andrew Sean Greer lässt Ich-Erzählerin Pearlie über all ihre Gefühle, Zweifel und Sorgen berichten, er weckt Mitgefühl und Verständnis. Sie liebt ihren Mann Holland, und sie schämt sich, sie kann nicht mit ihm sprechen, weil ihre Erziehung und die Regeln der damaligen Zeit es ihr unmöglich machen. Sie setzt sich nicht über das hinweg, was ihr in den Weg gelegt wird, aber sie ist auch nicht gewillt, alles einfach hinzunehmen. Erst viele, viele Jahre später kommt traurigerweise zur Sprache, was längst hätte gesagt werden sollen.

The story of a marriage ist in meinen Augen kein besonderes, aber ein durchaus lesenswertes Buch. Es bietet kein inhaltliches Highlight, ist jedoch flüssig erzählt, mit einer sympathischen und nachvollziehbaren Stimme. Andrew Sean Greers Porträt einer afroamerikanischen Frau in den Nachkriegsjahren lässt keine neuen Erkenntnisse zu, aber das muss es ja auch nicht, der gesellschaftspolitische Hintergrund ist an sich interessant genug. Die Formulierungen sind elegant, die Beobachtungen klug. Und die Prise „Skandal“ tut ihr Übriges, um ein gewisses Prickeln hervorzurufen und dem Roman Spannung zu verleihen. Muss man nicht lesen, kann man aber.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
kein unbedingt faszinierendes Cover.
… fürs Hirn: die Frage nach unserer Verantwortlichkeit für das Glück der anderen. Und natürlich die Frage, ob wir die, die wir lieben, auch kennen.
… fürs Herz: die Liebe ist hier der Dreh- und Angelpunkt.
… fürs Gedächtnis: ein Lieblingszitat: „What is it like for men? Even now I can’t tell you. To have to hold up the world and never show the strain. To pretend at every moment: pretend to be strong, and wise, and good, and faithful. But nobody is strong or wise or good or faithful, not really. It turns out everyone is faking as best they can.“