Für Gourmets: 5 Sterne

Lamrabet12 berührende Geschichten über die Unterschiede der Kulturen
„Aber ich war schwach, und ich hatte das Pech, in einer Gesellschaft zu leben, in der man die Schwachen aufs Abstellgleis schob, sie mundtot machte, damit andere für sie sprechen mussten, die ihnen ihre Gesinnung, ihr Verständnis darüber, was gut oder schlecht war, aufzwängten und es verteidigten, ohne richtig zuzuhören, worum es eigentlich ging.“ Melek Ozgül weiß, wovon sie spricht, sie kämpft vor Gericht um ihren kleinen Sohn Furkan, der ihr weggenommen wurde und nach christlichem Glauben getauft werden soll. Calixe hat ebenfalls einen Sohn, aber keinen Vater dafür, und da er wegen seiner dunklen Hautfarbe von manchen Tagesmüttern abgelehnt wird, muss sie ihn in dem Altersheim, in dem sie arbeitet, bei einem der Senioren verstecken. Rachid dagegen hat Probleme, überhaupt Arbeit zu finden, obwohl er fließend Niederländisch spricht. Aber dass er aus Algerien stammt, macht ihn in den Augen der potenziellen Arbeitgeber zum Terroristen. Um einen Job zu ergattern, lügt er und bringt sich dadurch in eine schwierige Lage: „Manchmal frage ich mich, an welcher Stelle die Wahrheit und mein Leben beschlossen haben, verschiedene Wege einzuschlagen.“ Amal Hayati ist ehrlich, als sie sich um einen Ausbildungsplatz bewirbt, bekommt ihn aber wegen ihres Kopftuchs trotzdem nicht. Auch die anderen Protagonisten dieser Geschichten haben es nicht so einfach, wie sie es sich wünschen würden …

Rachida Lamrabet wurde in Marokko geboren und lebt in Belgien. Sie arbeitet als Juristin im Zentrum für Chancengleichheit und Bekämpfung von Rassismus und so gehen die 12 Geschichten in ihrem Buch Über die Liebe und den Hass vermutlich auf ihre persönlichen Erfahrungen zurück. Menschen unterschiedlichster Herkunft – aus Afghanistan, der Türkei oder Afrika – suchen darin nach einem guten Leben, nach einer fairen Chance, Akzeptanz und ein bisschen Glück. Manchmal finden sie es, meistens bleibt es ihnen verwehrt. Rachida Lamrabet hat einen stechend scharfen Blick für die Umstände, mit denen diese Menschen umgehen lernen müssen, sie zeigt Szenen von Unverständnis, Ausgrenzung und Rassismus, aber auch von Annäherung und gutem Willen – etwa wenn eine niederländische Frau ein Kopftuch aufsetzt, um zu spüren, wie sie dann behandelt wird. Die 12 Geschichten sind klug, pointiert, ab und zu witzig und an anderen Stellen zutiefst traurig. Nie habe ich das Gefühl, dass die Autorin mich belehren oder verurteilen will, was ich bei Büchern mit diesem Hintergrund als wichtig empfinde, sie bietet mir vielmehr einen eindrucksvollen Blick in die Welt jener, die mitten unter uns und doch im Verborgenen leben. Ein Buch, das ganz sanft und schlau für mehr Toleranz wirbt und den Mix der Kulturen als schwierig, aber interessant zeigt. Sehr gut!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein ästhetisch schönes Cover, das mich aber nicht aufmerksam auf das Buch gemacht hätte.
… fürs Hirn: Toleranz, Integration, Rassismus.
… fürs Herz: die unfassbar traurige Geschichte des Marokkaners, der vom Bruder seiner Verlobten attackiert wird.
… fürs Gedächtnis: manch amüsanter Satz, wie etwa: „An dem Tag, als Hannelore Vederlicht beschlossen hatte, sich nicht mehr weiter um die himmelschreiende Sinnlosigkeit ihres Daseins zu kümmern, wurde sie von außerirdischen Wesen entführt.“

Für Gourmets: 5 Sterne

DuBois„Wir alle sind sterblich, ja, aber vielleicht sind einige von uns sterblicher als andere“
Irina Ellison ist Anfang 30, und das bedeutet, dass sie nicht mehr lang normal leben kann: Sie leidet an Chorea Huntington. 20 Jahre lang hat sie ihrem Vater dabei zugesehen, wie er würdelos an dieser Krankheit starb, und seit sie aufgrund eines Gentests weiß, dass sie mit etwa 32 Jahren die ersten Symptome zeigen wird, lebt sie ihr Leben so, dass es am wenigsten wehtut: Sie lebt es gar nicht. Irina verhält sich still, vermeidet enge Bindungen und hüllt sich in eine abweisende Eisschicht. Als sie Jonathan kennenlernt, spürt sie gleich, dass sie der Liebe dieses Mal nicht ausweichen kann: „Irgendwie, merkte ich, würde sich zwischen diesem Mann und mir nie eine akzeptable Distanz finden lassen; jeder Grad der Nähe und Entfernung würde gleichermaßen unerträglich sein.“ Deshalb muss Irina fort, muss einen Ort finden, an dem niemand sie liebt und mit ihr leidet. Sie findet einen Brief ihres Vaters an das russische Schachgenie Alexander Besetow, Weltmeister in den frühen 1980er-Jahren, und hat nun ein Ziel: Russland. Aus dem hageren, hungernden Schachspieler von einst ist inzwischen ein politisch engagierter Präsidentschaftskandidat geworden, der nicht den Hauch einer Chance hat, gegen Putin zu gewinnen, der aber dennoch antritt, um aufmerksam zu machen auf die Missstände in Russland. Es gelingt Irina, in Kontakt zu treten mit diesem Mann, der in ständiger Gefahr schwebt, und der vielleicht als Einziger die Traurigkeit der jungen Frau verstehen kann, die auf das erste verräterische Zucken ihres Körpers wartet, das ihr zeigen wird, dass es Zeit ist, ihr Leben zu beenden.

Die 30-jährige amerikanische Autorin Jennifer DuBois erzählt in ihrem Debüt die Geschichte zweier Leben, die nicht das Geringste miteinander zu tun haben, sich aber dennoch an einem weit entfernten Ort kreuzen, in einem Moment, in dem genau das nötig ist. Mit ungemeiner sprachlicher Brillanz und technischer Raffinesse porträtiert sie einen Mann und eine Frau, die nichts gemeinsam haben außer der Tatsache, dass sie ihr Leben nicht so führen möchten, wie sie es tun, und zeitgleich nicht wollen, dass es endet. Schon nach den ersten Seiten lasse ich mich in diesem Buch nieder wie auf einem gemütlichen Sofa mit dem angenehmen Gefühl, dass es mir an nichts fehlen wird, und ich genieße es, hineingezogen zu werden in diese geschickt angelegte Geschichte, in diesen echten Schmöker, der so sanft ist und klug. Abwechselnd lässt Jennifer DuBois Ich-Erzählerin Irina aus der Gegenwart und Alexander aus der Vergangenheit berichten, bis beide Erzählstränge im Jahr 2006 aufeinandertreffen und nur die beiden Perspektiven bleiben. Es ist ihr meisterhaft gelungen, sich einzufühlen in diese zwei unterschiedlichen Charaktere, die Feinheiten der Figuren auszuarbeiten und ihnen Leben einzuhauchen.

Ich lasse mich von Alexander in die Schachwelt mitnehmen, zu einem Spiel, das mir fremd ist, ich streife mit Irina durch das bitterkalte Moskau auf der Suche nach einer Möglichkeit, dem Tod zu entkommen, und ich fiebere mit den beiden in ihrem völlig aussichtslosen Wahlkampf. Irina ist wie gelähmt, und es fällt mir schwer, ihr dabei zuzusehen, wie sie die ihr verbleibende Zeit ungenutzt verstreichen lässt; Alexander dagegen hat gut gelebt und am Ende erkannt, dass er nichts erreicht hat, gar nichts. Das Leben ist groß ist ein Roman über Angst und Verlust, über Macht und Politik, über Schach, Freundschaft und den Schmerz derer, die lieben. Er überzeugt mich mit pointierten Formulierungen, scharfen Beobachtungen, detaillierter Recherchearbeit und – trotz einiger Längen – einer fesselnden Handlung. Dieses Buch ist wie ein Spaziergang im Regen, wie ein Innehalten auf einer Brücke, wo man dem braunen Wasser beim Davonfließen zusieht und spürt, wie einem die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt, während der Regen einem ins Gesicht tropft, weil man natürlich keinen Schirm dabeihat, so ein Moment, in dem man erkennt, wie beängstigend, unbeeinflussbar und kurz es wirklich ist, das Leben. Großartig!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schön, passend, ruhig.
… fürs Hirn: Schachspiel und Politik.
… fürs Herz: „Er konnte mich nicht aufhalten, so wie letztlich überhaupt niemand irgendwen vom Verlassen abhalten kann.“
… fürs Gedächtnis: „Es hat etwas Intimes, sich Lügengeschichten anzuhören, finde ich – was jemand für wahr halten möchte, sagt mehr über ihn aus als alles, was wirklich geschieht.“

Das Leben ist groß von Jennifer DuBois ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03519-8, 448 Seiten, 22,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

TellierRingelreia für Erwachsene

Handelnde Personen:
Anna, verheiratet mit Stan, Mutter von zwei Kindern
Louise, verheiratet mit Romain, Mutter von zwei Kindern
Thomas, Psychotherapeut, geschieden
Yves, Schriftsteller, locker liiert

Der Liebestanz:
Anna ist gebunden an Stan. Dann trifft Anna Yves und – milde frustriert von ihrem Dasein als Ehefrau und Mutter – verliebt sich. Sie spürt jenes wunderbare Kribbeln, das sie im Alltag vermisst. Yves spürt es auch. Er ist vergeben, aber er trennt sich ohne Zögern von seiner Freundin, mit der ihn kein Ring verband. Thomas ist Annas Therapeut. Auf einer Party trifft Thomas Louise und ist sofort hingerissen. Louise mag Thomas ebenfalls, ist aber verheiratet mit Romain. Was sie allerdings nicht daran hindert, sich bereitwillig dieser Lust hinzugeben, die nur eine frische Leidenschaft bringen kann. Beide Männer sind verfügbar, beide Frauen nicht. Doch das Schicksal knüpft neue Bande, zeigt den Liebenden Alternativmöglichkeiten und lässt den Zufall walten: Eine Ehe wird beendet, die andere nicht.

Ist es tatsächlich unser Herz, das entscheidet, wen wir lieben, oder sind es nicht vielleicht unsere Füße, weil sie uns dorthin bringen, wo wir jemandem begegnen, den wir lieben können? Der französische Autor Hervé Le Tellier zeigt in Kein Wort mehr über Liebe, wie schnell und leicht wir uns zu jemandem hingezogen fühlen – und wie unverbindlich dieses Gefühl ist. Wer mit wem zusammen ist, scheint eine Laune der Natur, der Hormone, des Zufalls, und hätten wir nicht das einengende Konzept der Ehe erfunden, wir würden noch viel freier mit unseren Trieben umgehen. Ich folge den Betrügern durch Paris, den klappernden Schritten der Ehefrauen auf dem Weg zu ihren Liebhabern, ich bin stumme Zeugin ihrer heimlichen Stelldicheins und bin zwar nicht überrascht, wie bereitwillig sie sich auf eine Affäre einlassen, aber doch verblüfft, dass es in beiden Fällen gleich um alles geht: neue Liebe, das Kennenlernen der Kinder, Scheidung. Ich hatte Sex erwartet, leidenschaftlichen, aber unbedeutenden Fremdsex, ein bisschen Geflirte und Bestätigung fürs Hausfrauenego – aber ich bekomme Verliebtheit, neue Lebenspläne, Überlegungen, wie der finanzielle und räumliche Wechseln von einem Mann zum anderen vonstattengehen könnte. Dieser Widerspruch lässt mich perplex zurück, denn während Hervé Le Tellier seine zwei Frauen ganz nonchalant weiterreicht, als sei nichts dabei, bindet er sie gleich an ihre Liebhaber. Schön ist, dass ich es im Roman mit intelligenten Menschen zu tun habe, die das gesamte Thema sowie ihre eigene Situation sehr reflektiert angehen – und dass der Autor hinreißende Worte für die vielen Facetten der Liebe findet.

Diese Leichtigkeit, mit der Herzen gebrochen werden und neue Paarungen zusammenfinden, hat etwas typisch Französisches beziehungsweise bedient meine Klischeevorstellung vom typisch Französischen. Niemand hat ein exklusives Recht auf einen anderen, und ein Ring am Finger ist letztlich nur Schmuck. Dennoch wirkt es in diesem Buch, als würden sie es sehr ernst nehmen mit der Liebe, die Franzosen. Hervé Le Tellier hat einen pfiffigen, intelligenten und anspruchsvollen Roman geschrieben über die Unfähigkeit des Menschen, einem anderen treu zu sein. Gefüllt mit allerhand Wissenswertem zu Literatur und Kultur, ist dies ein Buch, das zeigt, dass wir nicht ewig verliebt bleiben können, dass uns die Leidenschaft abhandenkommt, dass sich prickelnde Alternativen bieten, denen die Monogamie wenig entgegensetzen kann. Deshalb ist Kein Wort mehr über Liebe ein Roman für alle, die nicht an die Monogamie glauben. Und mehr noch für jene, die es tun.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr, sehr schönes Cover. Auch den Titel finde ich grandios.
… fürs Hirn: viel Stoff zum Nachdenken über Moral, unsere Gesellschaft und die Macht der Hormone.
… fürs Herz: der Verdacht, dass es nicht die eine große Liebe in unserem Leben gibt, sondern viele – und dass wir bei der einen Liebe nur bleiben, wenn wir die anderen nicht finden.
… fürs Gedächtnis: Lieblingszitat: „Bücher sind wie die Tage des Lebens. Sie folgen aufeinander, und man lernt von jedem einzelnen.“

Für Gourmets: 5 Sterne

Basil„Memory, that old trickster, is cleverer than us all“
„You’re always making plans“, sagt Lina zu Anil. „Because plans are how you tame the future“, antwortet er. Lina und Anil, deren Namen gegengleich sind wie ihre Seelen, lernen sich kennen, als sie beide Studenten in London sind und jung. Anil stammt aus einer reichen kenianischen Familie und will Architekt werden, Linas Eltern leben bescheiden, sie selbst steht unter der Obhut ihrer Tante und studiert Jura im letzten Jahr. Während Anil in Liebe auf den ersten Blick entbrennt, gibt Lina sich zurückhaltend – kann seinem Charme aber nicht allzu lange widerstehen. Und so entspinnt sich nicht nur eine sinnliche, wahnwitzige Liebesgeschichte, sondern auch ein dichtes Lügengespinst, in dem die beiden Verliebten sich immer mehr verfangen. Denn was Anil in seiner naiven Unbedarftheit und seiner Arroganz lange Zeit ignoriert, wird zunehmend zum Problem: Er ist nicht praktizierender Sikh, Linas Eltern dagegen sind strenge Muslime, für die eine Heirat der Tochter mit einem Nicht-Muslim nicht infrage kommt. Lina belügt ihre Eltern, um Zeit mit Anil verbringen zu können, doch der fordert immer mehr von der Frau, mit der er sein Leben verbringen will. Die Beziehung leidet zunehmend unter dem Druck, der auf den beiden lastet, und es scheint, als sei es ihnen nicht vergönnt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

The obscure logic of the heart ist eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte mit religiösem Hintergrund. Die Autorin, die in Kenia aufgewachsen ist, lässt abwechselnd Lina und Anil erzählen, gibt ihren Zweifeln und seiner Verzweiflung eine jeweils deutlich hörbare und authentische Stimme. Sehr glaubwürdig und einfühlsam porträtiert sie eine Liebe, die wie eine zarte Pflanze durch die Ritzen im Beton wächst, die sich nicht niedertrampeln lässt, die mühsam gehegt wird, während andere, die sie als Unkraut betrachten, sie auszurupfen suchen. Freilich ist eine Liebesgeschichte umso romantischer, je mehr die Liebenden gegen Widerstände kämpfen müssen und je größer die Zahl ihrer Feinde ist. Priya Basil zeigt aber auch, dass – getreu nach Shakespeare’schem Vorbild, wenn auch weniger tragisch – die Liebe gegen so viel Feindseligkeit oft nicht bestehen kann, dass die Pflanze manchmal schlussendlich verdorrt. Sie hat den Herzens- und Gewissenskonflikt, der dieses Buch beherrscht, sehr fein herausgearbeitet und den Roman mit vielen lebendigen Hintergrundgeschichten über die Armut in Kenia, die Schwierigkeiten von Hilfsorganisationen und über das Festhalten an Strukturen, die nicht mehr zeitgemäß sind, gefüllt. Ein wenig schade finde ich, dass der Fokus derart stark auf den Schwierigkeiten zwischen Lina und Anil liegt, dass kein Raum bleibt für jene jugendliche, verliebte Unbeschwertheit, die ich den beiden wünsche, sondern dass da in erster Linie Streitigkeiten und Diskussionen sind, Forderungen und Resignation, durch die die Liebesbeziehung in eine Schieflage gerät.

Ein sprachliches und inhaltliches Wunderwerk sind die Briefe, die im Roman auftauchen und von denen ich zuerst nicht weiß, wer sie an wen geschrieben hat. Als es mir schlussendlich klar wird, bin ich regelrecht erschüttert. Diese feinsinnigen, klugen, traurigen Briefe sind das Seil, das mich in dieses Buch zieht und mich an die vielen einzelnen Sätzen bindet, die unendlich schön sind: „If it was your intention to vanish without a trace, you neglected to consider the most incriminating article: me. I remain a repository of our past. On my shoulders: freckles from the day we spent in Brighton just before you left. On my hand: the scar from a cut sustained while clearing up the pieces of a glass we knocked over when I tried to teach you tango. On my feet: marks from the sandals I wore the day we walked from Regent’s Park back to the flat in Battersea. Physical wounds fade, but what about the scars of the mind?” Es liegt so viel Schmerz und Wut und Liebe in diesen Briefen, sie sind die Essenz des Vermissens, es tut weh, sie zu lesen, und sie machen diesen Roman für mich sensationell – genau wie sein Ende, dieses wunderbare, realistische, grandiose Ende. Ein Buch, das uns lehrt, was wir längst wissen: dass Religion, Hautfarbe, Nationalität nicht zählen sollten, sondern nur das Herz. „Because the heart is a black box. Every conquest, loss or rejection leaves its trace. We love according to what the heart has been taught. We love in the shadow – sometimes benign, sometimes malevolent – of every disappointment, betrayal or fulfillment. We love – and no god can control the feeling or mitigate the consequences.”

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr schönes Cover.
… fürs Hirn: a whole lot of trouble.
… fürs Herz: das Buch zeigt erneut, wie viel größer und leidenschaftlicher eine Liebe ist, wenn ihr der Alltag verwehrt bleibt und sie ständig in ihrer Existenz bedroht ist.
… fürs Gedächtnis: vor allem die Briefe.

The obscure logic of the heart von Priya Basil ist auf Deutsch unter dem Titel Die Logik des Herzens bei Schöffling & Co. erschienen. Sehr lesenswerte Rezensionen findet ihr bei der Klappentexterin und Mara.

Für Gourmets: 5 Sterne

Die Melodie des Meeres
Auf einem ganz besonderen Schiff setzen Paolo und Luisa zu einer abgelegenen Insel über, auf einem Schiff, das die Angehörigen zu den auf der Insel eingesperrten Gefangenen bringt: „Denn will man jemanden wirklich absondern vom Rest der Welt, gibt es keine Mauer, die höher wäre als die See.“ Sie reisen zusammen, aber nicht gemeinsam: Paolo ist auf dem Weg zu seinem Sohn, der im Namen einer für den Vater nicht greifbaren Revolution Verbrechen begangen hat, Luisa besucht ihren handgreiflichen Ehemann. Als ein Sturm Paolo und Luisa auf der Insel festhält, lernen sie einander kennen, und in der Dunkelheit der Nacht finden sie die Möglichkeit, einander ihren Schmerz anzuvertrauen. Paolo, der gebildete Professor, ist fasziniert von der Einfachheit und Geduld, die Bauersfrau Luisa, deren fünf Kinder in ihrer Abwesenheit den Hof betreuen, an den Tag legt: „Und Paolo hatte den Eindruck, sie nehme alles, was er sagte, in sich auf so wie die Erde den Regen.“ Die zwei Gestrandeten werden von dem Strafvollzugsbeamten Nitti versorgt, und auch für ihn bedeutet diese Nacht einen Wendepunkt: Er, der so viel Leid und Gewalt gesehen hat, hat verlernt, darüber zu sprechen, und er hat sich selbst verloren. Als der nächste Tag beginnt, sind all der Kummer, das Unverständnis und die Sorgen noch da, aber Nitti, Paolo und Luisa haben verstanden, dass sie weiterleben werden – und dass es gut ist, weiterzuleben.

Francesca Melandri hat für ihren vielbeachteten zweiten Roman Über Meereshöhe sehr spannende und konfliktreiche Zutaten gewählt: eine Insel voller Strafgefangener, umgeben vom gnadenlosen Meer, eine stürmische Nacht und drei menschliche Schicksale, die sich verweben. Klingt dramatisch, ist es auch, aber nicht sprachlich. Denn von Anfang an bin ich verzaubert von Francesca Melandris zartem, einfachem, klarem Stil und der liebevollen Art, mit der die Autorin ihre drei Figuren zeichnet, ja streichelt fast, ohne dabei je ins Kitschige abzurutschen. Im Gegenteil: Paolo, Luisa und Nitti bringen jeder für sich eine Geschichte voll Traurigkeit und Reue, voll Wehmut und Bedauern mit. Sie quälen sich selbst mit der Frage, an welcher Wegkreuzung sie falsch abgebogen sind, warum all diese schrecklichen Dinge geschehen sind und wer sie um ihr erhofftes Lebensglück betrogen hat. Einen besseren Ort, um sich mit ihrem Leben auseinanderzusetzen, als die einsame Gefängnisinsel gibt es wohl nicht, und der niedergehende Sturm sorgt für die Prise Dramatik. Ich folge den sanften, klugen Sätzen von Francesca Melandri wie ausgestreuten Blumen über die karge Insel und lausche den vielen leisen Tönen, die als Gesamtbild eine herzzerreißend traurige Melodie ergeben, die weit über das Meer trägt.

Ich bin beeindruckt von Francesca Melandris Talent und ihrer Fähigkeit, die schweren Schicksale ihrer Figuren mit einer derartigen sprachgewandten Leichtigkeit zu erzählen. Das ist eine große Kunst. Ich verschlinge die Seiten mit einer Geschwindigkeit, die mir selbst unheimlich ist, und habe nach zwei Stunden das ganze Buch gefressen. Denn besonders Paolo und Luisa haben sich in mein Herz geschlichen, weil sie beschädigt und zerbrochen sind, weil sie in ihrer Einsamkeit mit einem erleichterten Seufzen nach der Hand des jeweils anderen greifen, um wenigstens für einen Moment nicht allein zu sein. Und als dieser Moment gekommen ist, seufze auch ich erleichtert, so sehr freue ich mich über den Zauber dieses Augenblicks. Genauso wie über dieses grandiose, sehr berührende und glänzend geschriebene Buch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein stimmungsvolles Bild. Als seien die Menschen gerade erst gegangen, und ihre Gedanken hingen noch in der Luft. Und das Meer, das Meer …
… fürs Hirn: die Verzweiflung darüber, dass man nichts ungeschehen machen kann, auch das nicht, was das eigene Leben zerstört hat.
… fürs Herz: die unendliche Qual, jemanden zu lieben, der ein Verbrechen verübt hat.
… fürs Gedächtnis: das ganze beeindruckende Buch.

Über Meereshöhe von Francesca Melandri ist erschienen im Blessing Verlag (ISBN 978-3-89667-485-2, 256 Seiten, 16,95 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

„Die hellen Tage behalte ich, die dunklen gebe ich dem Schicksal zurück“
Liebe Zsuzsa Bánk,
ich habe dein Buch Die hellen Tage in meinem Regal gehütet wie eine Schatzkiste mit dem letzten Sonnenstrahl des Sommers. Ich wusste, dass es leuchten würde, dieses Buch, weil du mir schon mit Der Schwimmer leuchtende Stunden bereitet hast, und seine Gegenwart hat mich beruhigt. Erst als es nötig war, weil es fast schon dunkel war und ein bisschen kalt, habe ich dein Buch in die Hand genommen, um mich vom letzten Sonnenstrahl wärmen zu lassen. Dann hast du mir die Tür aufgestoßen in meine Kindheit, und ich bin eingetaucht in die Erinnerung und in das Gefühl, wie es war, damals, als die Welt groß war und ich klein und alles möglich. Ich habe mich an die Seite von Aja, Seri und Karl gesellt, ich bin mit ihnen über die Wiesen gestreift und hinunter zum See geradelt, ich habe Évi kennengelernt und den Duft ihrer Kuchen geatmet, habe Zigis Kunststücke bestaunt und den Sommerwind in meinem Haar gespürt, das damals kurz war. Ich habe in deinem Buch das Flüstern der Geheimnisse gehört, die auf den Schultern der Mütter liegen, ich habe das Klimpern von Évis Armreifen gehört und das Klappern von Ajas Zähnen im Winter, wenn es zu kalt war in ihrem windschiefen Haus, das Zigi gebaut hatte. Ich habe mich zuhause gefühlt in Kirchblüt, obwohl der Ort meiner Kindheit anders hieß, ich bin zurückgekehrt in dieses Paradies, das ich damals vor der Tür hatte und das aus einem Wald, Wiesen, einem Bach, meinen Brüdern und meiner Nachbarin bestand, sie, die nur 90 Schritte entfernt von mir wohnte und für mich war wie Aja für Seri und die ich immer noch bei mir habe an meiner Seite, nach all den Jahren. Wir waren Draußenkinder, wir waren wild und frei und unbezähmbar und wir wollten nichts wissen von Verlust und Verpflichtungen, es waren helle Tage.
Dein Buch ist wundervoll und elegant, poetisch und klug, sehr wehmütig und traurig, dein Buch ist wie das Leben. Es hat mich an jenes Glück erinnert, das ich immer bei mir trage, jenes kleine Glück, das genau in mein Herz passt: Freunde zu haben, die man seit immer kennt, und eine Kindheit erlebt zu haben, die leuchtet, auch später noch, wenn es dunkel ist im Erwachsenenleben. Und da schon so viel geschrieben worden ist über den Inhalt deines Buchs, möchte ich ihn nicht nacherzählen, sondern deine Worte sprechen lassen, ausgewählte, feine, klingende Sätze zitieren, damit dein Roman noch mehr Leser findet und sie darin sich selbst finden können. Und ich möchte dir danken. Dafür, dass du die richtigen Worte gefunden hast für die Geschichte dieser drei Freunde, die so zerbrechliche und doch so starke Kinder sind. Dafür, dass es dir gelungen ist, diese Kinder erwachsen werden zu lassen, ohne dass die Geschichte ihren Zauber verliert, und dass du mich mitgenommen hast nach Rom, wo ich viele erinnernswerte Tage erlebt und mich verändert habe. Dafür, dass du mir diesen letzten Sommersonnenstrahl geschenkt hast. Er wird mich den Winter überstehen lassen.

„Wir nannten diesen Sommer Zigis Sommer, auch Jahre später, wenn wir uns erinnerten, nannten wir ihn so, diesen einen Sommer, der sich aus lauter hellen Tagen zusammenfügte.“

„Ich hatte mich in Ajas Leben begeben, als sei ein fester Platz für mich immer schon darin vorgesehen gewesen.“

„Er brauchte Zeit für alles, was er tat, und wenn er auf seinem schwarzen Fahrrad ohne Schutzbleche losfuhr, sah er immer aus, als trage er unter seinen Kleidern einen Gips an Armen und Beinen.“

„Über Aja kamen diese Jahre, die unsere Kindheit ablösten, wie eine Krankheit, die für den Moment unheilbar blieb, gegen die sie nichts tun und nichts nehmen, der sie nur entwachsen konnte.“

„Wir laufen durch Kirchblüt, und alles ist anders, wir haben es verloren, so wie wir die Orte unserer Kindheit verlieren, zum ersten Mal, wenn wir keine Kinder mehr sind, und später noch einmal, wenn wir als Erwachsene zurückkehren und uns wundern, wie sie wirklich aussehen.“

Für Gourmets: 5 Sterne

Ein Buch fürs Herz. Und gewisse andere Körperstellen …
Die Salzburgerin Nathalie ist jung und nach dem eher unfreiwilligen Ende ihrer Affäre mit einem verheirateten Mann ungebunden. Als der Sommer beginnt, bringt der Zufall Nathalie in eine prickelnde Situation – und sie entdeckt, wie viel Spaß es machen kann, spontan und wagemutig zu sein. Konkret bedeutet das: Sie fährt mit dem Taxi durch die Mozartstadt und bezahlt dafür nicht mit Geld, sondern mit Sex.
Klingt … verrucht? Ist es auch. Genauso wie amüsant, abwechslungsreich und verdammt gut. Der Sex. Während ihre beste Freundin Luise in Hochzeitsvorbereitungen steckt, lernt Nathalie eine neue, selbstbewusste und selbstbestimmte Seite an sich kennen. Sie genießt die erotischen Taxifahrten und den in jeder Hinsicht heißen Sommer – bis eines Tages ein Fremder im Taxi sitzt und Nathalie nur einen Blick braucht, um sich zu verlieben. Die alte Schüchternheit legt ihr brüderlich den Arm um die Schulter, aber Nathalie bemüht sich nach Kräften, Tobias zu erobern – mit einem durchaus verrückten Plan …
Auf Touren ist ein leichter, heiterer und anregender Frauenroman, der die Leserin mitnimmt auf eine ebenso ungewöhnliche wie vergnügliche Fahrt durch die weltberühmte Festspielstadt Salzburg: auf dem Rücksitz eines Taxis. Und unvollständig bekleidet. Für die Protagonistin Nathalie wird das Taxi zum abgegrenzten, sozusagen schalldichten Raum, der sie vielleicht nicht vor neugierigen Blicken, aber vor dem Urteil der Gesellschaft schützt und ihr die Möglichkeit gibt, sich selbst auszuprobieren und das einzufordern, was sie will. Bis ihr – wie es im Leben oft geschieht – unerwarteterweise die Liebe dazwischenfunkt. Auf ihre chaotische, liebenswerte Art versucht sie, Ordnung in ihr Gefühlschaos zu bringen sowie nebenbei noch eine unterstützende Trauzeugin und eine gute Tochter zu sein. Dann überschlagen sich die Ereignisse – und auf Nathalie wartet noch mehr als eine Überraschung …

Auf Touren von Mareike Fallwickl ist erschienen im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag (ISBN 978-3-86265-188-7, 270 Seiten, 9,95 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

„Die Geschichte ihres Exodus ging in Fetzen wie ein Drachen in einem zu heftigen Wind“
Farid ist noch ein Kind, doch er hat schon das Schlimmste gesehen: Gaddafis Truppen haben ihm den Vater ermordet, gebrannt hat das Dorf, geflüchtet ist er mit seiner Mutter Jamila. „Großvater Mussa sagte, die wahren Beduinen würden in der Wüste sterben, in einen Sandwirbel gehüllt, etwas Besseres könne man sich gar nicht wünschen. Gott habe sie in die Irre geschickt, um sie wieder eins werden zu lassen mit ihrem Schicksal.“ Das plant Gott auch mit Farid und seiner Mutter – doch in die Irre schickt er sie auf dem offenen, angsteinflößenden Meer, und er ist gnadenlos. So gnadenlos wie die Menschen, die einander zermetzeln, zerstören, verjagen. Farid ist so unschuldig wie ein Grashalm und kommt trotzdem unter die Räder. So erging es auch Angelina viele Jahre zuvor, die als Kind italienischer Eltern in Libyen aufwuchs und vertrieben wurde. Sie hat dasselbe Meer überquert und landete in Sizilien, wo sie die Sehnsucht nach der Wüste, nach dem Kerzenwachs und ihrer ersten großen Liebe Ali nie stillen konnte. Für ihren Sohn, den 18-jährigen Vito, ist die Mutter wie das Meer: „der gleiche klare Blick, die gleiche Ruhe und innen der Sturm“. Ans Meer geht Angelina nicht mehr, sie will nicht schwimmen in dem Wasser, in dem die Menschen aus den Schlepperbooten hilflos ertrinken wie Fliegen in Zuckerbrühe. „Gedanken sind böses Gas“ – und ihre Folgen sind noch viel böser. Denn auf „dem Grund jeder westlichen Zivilisation liegt ein Unheil, eine kollektive Schuld“. Das hat Angelina am eigenen Leib erfahren, und nun spürt es Farid: Noch ist er am Leben, aber dieses Leben ist im Spiel der Mächtigen nichts wert, gar nichts.

Margaret Mazzantini, die mich vor Jahren mit Non ti muovere begeisterte, gehört zu den großen Bestsellerautorinnen Italiens – absolut zu Recht. In ihrem neuen schmalen Werk, dessen wenige Seiten bis zum Bersten gefüllt sind mit Emotionen, Leid, Angst und Traurigkeit, zeigt sie mir ein fremdes Land, in dem es heiß ist und sandig: Libyen. Sie zeichnet dieses Land für mich in so blendenden Farben, dass ich es sehen, hören, riechen kann. Mussolini schickte die Italiener hierher, sie machten sich die Erde zu eigen, bauten sich eine Heimat auf, integrierten sich. Viele von ihnen waren Juden. In diese Zeit setzt die Autorin die kleine Angelina, deren Wurzeln in Libyen festgewachsen sind – bevor sie ausgerissen werden, als Gaddafi an die Macht kommt und die Italiener nicht mehr im Land haben will: „Natürlich hatten nicht sie die Beduinen in den Konzentrationslagern niedergemetzelt, sie hatten nur gearbeitet, hatten Libyen verschönt, hatten Brunnen und Abwasserkanäle gebaut.“ Gehen müssen sie trotzdem. Angelinas Eltern verkraften das niemals, sie selbst bleibt Zeit ihres Lebens ein verpflanzter Baum, der nicht mehr wächst. Dieser Geschichte zur Seite stellt die unfassbar talentierte Schriftstellerin die Erzählung des kleinen Farid, der sich nicht für die Politik in Libyen interessiert, sondern für die Ziege, die sich ihm immer wieder annähert. Jener Gott, an den sein Großvater Mussa glaubt, hat Farid zur falschen Zeit an den falschen Ort gebracht: Farid hat keine Chance. Hilflos und mit Tränen in den Augen muss ich zusehen, wie der Durst immer größer und der kleine Körper immer schwächer wird.

Margaret Mazzantini trifft mich mit diesem Buch wie mit einem Faustschlag mitten ins Gesicht. Sie bricht mir die Nase. Und das Herz. Dies ist ein Roman, der weit über die Schmerzgrenze geht: Er greift direkt in mein Menschsein, in mein Mitgefühl, meine Seele. Ich möchte mich niederknien und übergeben vor Wut und vor Trauer. Ein Meer trennt zwei Länder, und seit Generationen spielen die Mächtigen metaphorisch gesehen Schiffe versenken – und wie immer sterben die Unschuldigen. Die Ungerechtigkeit drückt mich nieder, denn das Wasser, das Farid retten könnte, versickert in meiner Badewanne, in meiner Blumenerde, in meinem Geschirrspüler. Ich fühle mich schuldig. Deshalb ist Das Meer am Morgen ein unendlich wichtiges, ein herausragendes Buch, das gelesen werden sollte, damit seine Botschaft gehört wird, die Botschaft von der Sinnlosigkeit unseres Tuns. Auf nur 128 Seiten entwickelt dieser Roman eine ungeheure Wucht und lässt mich direkt in den Abgrund schauen. Die Worte sind klar, direkt, schnörkellos, schön. Sie schneiden wie Rasierklingen. Und die beste Literatur vermag genau dies. Lest dieses Buch. Bleibt nicht gleichgültig, niemals.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
perfekt.
… fürs Hirn: dieses Buch ist Pflicht!
… fürs Herz: die Tränen kommen ganz ohne mein Zutun.
… fürs Gedächtnis: die vielen feinen, stimmigen Sprachbilder, die den tiefgehenden Inhalt so leichtfüßig transportieren.

Das Meer am Morgen von Margaret Mazzantini ist erschienen im Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9684-4, 128 Seiten, 16,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

This guy’s a super freak!
Ich stelle mir vor, dass Paul Bokowski früher eines dieser Kinder war, die unfreiwillig komisch sind. Dass er damals schon eine nerdige Brille trug, sich dumme Polenwitze anhören musste und irgendwann aus der Not eine Tugend machte, indem er sein Leben der Satire verschrieb. Ich stelle mir außerdem vor, dass Paul Bokowski im alltäglichen Umgang ein eher grantiges Kerlchen mit einem feinen Sinn für Humor ist, das nur wenig von dem, was die Welt bietet, lustig findet. Nichts davon weiß ich, das sind nur Vermutungen. Sicher ist aber, dass Paul Bokowskis Buch Hauptsache nichts mit Menschen unfassbar komisch ist. Sehr intelligent ist sein Witz, herrlich böse seine Darstellungsweise und wunderbar raffiniert sind die vielen kleinen fiesen Pointen. Geschickt bringt er verschiedene Tabus rund um Sex, Kinderarbeit und Körperlichkeit zur Sprache, sodass der Leser seine Hemmungen überwinden und dem Schrecken ins Gesicht lachen kann. Was ja die Definition von Schwarzem Humor ist. Ein wildes Sammelsurium aus Dialogen, E-Mails, kurzen Alltagsbeobachtungen und amüsanten Notizen findet sich in diesem Buch, das mich wunderbar unterhalten hat. Ein besonderes Highlight ist die Schlager-Nackt-Party, grenzgenial das Evangelium nach Facebook, zum Schmunzeln die Skype- und Telefongespräche mit den Eltern. Den Berliner Bezirk Wedding, in dem Paul Bokowski wohnt, macht er immer wieder zum Thema und nimmt dabei dessen Bewohner, die hippen Berliner und sich selbst auf die Schippe. Zwar war ich erst zwei Mal in der deutschen Hauptstadt und kenne den Wedding nicht, aber Paul Bokowskis Schmäh ist städte- und staatenübergreifend. Und Berliner sollten das Buch sowieso lesen! Genau wie alle anderen. Für gewöhnlich bin ich mit Empfehlungen zurückhaltend, wenn jemand fragt: „Hast du was Lustiges zu lesen?“, weil ich der Annahme zustimme, dass das Witzverständnis sehr individuell ist und jeder eine andere Art von Humor hat. In diesem Fall verhält es sich aber anders. Denn wer dieses Buch nicht witzig findet, hat gar keinen Humor!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun, da wäre noch Luft nach oben gewesen.
… fürs Hirn: das Hirn wird ab und zu sogar benötigt, weil die Witze nicht gedankenlos sind. Oft darf man es aber auch getrost ausschalten und einfach nur lachen.
… fürs Herz: nicht allzu viel, denn wer Mitgefühl hat, kann niemanden mehr auslachen.
… fürs Gedächtnis: der Autor, von dem es im Satyr Verlag hoffentlich bald Nachschub gibt!

Hauptsache nichts mit Menschen von Paul Bokowski ist erschienen im Satyr Verlag (ISBN 978-3-9814891-1-8, 160 Seiten, 11,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

„Wenn du das Quälende nicht abschaffen kannst, musst du dich selbst abschaffen“
In der Sportwelt ist Arne ein Held. Er ist Ruderer, ein Bild von einem Mann, groß, blond, muskulös, fokussiert und unfassbar stark. Es ist seine Kraft, die die Rudermannschaft des Achters von Sieg zu Sieg zieht und bis auf das Siegerpodest bei den Olympischen Spielen bringt. Außer dem Sport gibt es nichts, was Arne etwas bedeutet. Er ist völlig schmerzunempfindlich und holt stets noch mehr aus seinem Körper heraus, als dieser leisten kann: „Die ersten harten Schläge fühlen sich immer ein bisschen zu mühelos an, man täuscht sich leicht. Der Schmerz kommt plötzlich wie ein Brenneisen. Er bildet sich irgendwo in den Knochen und Gelenken, gräbt sich in die Muskeln und dann ins Gehirn. Immer wieder registriert er fast freudig, wie weh es tut.“ Der Sportjournalist Paco Müller verfolgt die Karriere von Arne – und will viele Jahre später das Geheimnis um dessen überraschenden Tod ergründen, weil es ihn nie losgelassen hat. Warum ist dieser kräftige Mann gestorben? Wieso konnte ihm niemand helfen? Müller macht sich auf die Suche nach Antworten, die er – zu Recht – bei Arnes damaliger Freundin Anja und seinem Ruderkollegen Ali vermutet. Er braucht nicht viel, um die beiden zu überzeugen, mit ihm über Arne zu sprechen, denn sie tragen immer noch schwer an dem, was geschehen ist: Als Arne den Sport verlor und in der Folge sich selbst, als er immer weniger wurde und sprichwörtlich verschwand. Anja hatte ein gutes Leben, aber sie kann Arne nicht vergessen: „In meinem Leben spukt es, und das Gespenst trägt den Namen Arne. Ich weiß nicht, warum das nicht vergeht. Je mehr ich darüber nachgedacht habe, umso mehr ist seine Persönlichkeit in meiner Erinnerung verschwunden. Ich weiß nicht, wer Arne war. Aber der Schmerz, den er mir verursacht hat, hört nicht auf.“ Abwechselnd rekonstruieren Anja und Ali eine Vergangenheit, in der sie im Schatten des hünenhaften Arne standen – und hilflos zusehen musste, wie dieser Schatten kleiner wurde, weil Arne sich unbarmherzig selbst vernichtete. „Es gab keinen Ausweg. Ali und ich ahnten beide, dass Arne mit vollen Segeln auf seinen ganz persönlichen Abgrund zusteuerte. Er hatte uns nicht gebeten, auf diese unheilvolle Reise mitzukommen, wir versuchten auszusteigen, aber wir schafften es nicht. Er war wie ein Captain Ahab ohne Wal – und wir waren seine Matrosen.“

Die Sportjournalistin Evi Simeoni zeichnet in Schlagmann das eindringliche, kluge und aufwühlende Porträt eines Mannes, der eine so große Leere in sich spürt, dass er sich von ihr verschlucken lassen muss. Während seiner großartigen und beeindruckenden Sportlerkarriere kann er den Wolf in sich mit Training, mit Härte und Schmerz füttern, doch nach dem Ende als Ruderer bleibt ihm nichts. Protagonist Arne tritt selbst nicht mit seinem Innenleben in Erscheinung, ich lerne ihn nur durch die Augen jener kennen, denen er etwas bedeutet hat. Anja, das Mädchen, das trotz aller Abweisungen in ihn verliebt ist, zerschellt ebenso an seinem Widerstand wie sein Kollege und Kontrahent Ali. Sie erkennen Arnes Magersucht erst, als es zu spät ist, und sie können ihn nicht vor dem Tod retten, weil er ebendiesen sucht. Vorbild für diesen grandiosen Roman ist das Schicksal des deutschen Ruderers Bahne Rabe, der 1988 olympisches Gold holte – und nur zehn Jahre später nicht mehr am Leben war. Evi Simeoni taucht in diesem Buch tief in das Metier ein, in dem sie sich auskennt, und das spürt man mit jeder Zeile, die vor Authentizität vibriert. Sie zeigt im Detail, was Hochleistungssport ausmacht, sie schildert die körperlichen Strapazen, die Grenzüberschreitungen, die Euphorie, den Schlag der Niederlage. Und sie tut das so gut, dass ich sie schnaufen höre, die Ruderer, dass ich sie schwitzen sehe und das fürchterliche Brennen in ihrer Brust spüre. Zutiefst erschüttert folge ich dem Weg, der für Arne vorgezeichnet ist, und empfinde absolutes Unverständnis genauso wie heftiges Mitleid. Ein bedrückendes, einfühlsames, sehr trauriges Buch, das mich restlos überzeugt hat. Lesen!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr schön.
… fürs Hirn: die Welt des Hochleistungssport, die Evi Simeoni mir eröffnet hat.
… fürs Herz: die ganze Geschichte, in der Menschen sich in einer Spirale rund um Sieg und Niederlage, Verzweiflung und Einsamkeit drehen.
… fürs Gedächtnis: der gesamte genial konstruierte, liebevoll erzählte und unter die Haut gehende Roman.

Schlagmann von Evi Simeoni ist erschienen im Klett-Cotta Verlag (ISBN 978-3-608-93969-9, 276 Seiten, 19,90 Euro).