„In meinem Land ergibt alles einen klaren, eindeutigen Sinn. Es ist der unkomplizierteste Ort der Welt“
Pak Jun Do – benannt nach einem nordkoreanischen Märtyrerhelden – wächst im Waisenhaus auf, in dem sein Vater Aufseher ist. Hunger und harte Arbeit prägen seine Kindheit, und als er das Waisenhaus verlässt, beginnt eine ebenso abenteuerliche wie verrückte Odyssee: Jun Do wird in völliger Dunkelheit zum Tunnelkämpfer ausgebildet, muss dann auf einem kleinen Schiff wahllos Menschen von der japanischen Küste entführen und eine beliebte Opernsängerin kidnappen, bevor er schließlich auf einem Haifischfängerpiratenboot landet als getarnter Spion, der feindliche Funksprüche abhören soll. Eine wilde, erfundene Geschichte, die die Besatzung erzählt, um sich vor dem Gefängnis zu retten, führt Jun Do gar mit einer nordkoreanischen Delegation nach Texas, und zu guter Letzt findet er sich in einem Strafgefangenenlager wieder, aus dem keiner lebend rauskommt. Jun Do gelingt es allerdings – mit der Identität eines Militärkommandanten, Ehemann von Nordkoreas bekanntester Schauspielerin Sun Moon. Er nimmt den Platz an ihrer Seite ein, er spielt die Rolle in der Farce, zu der sein Leben geworden ist, perfekt. Immer näher kommt er dabei dem Geliebten Führer Kim Jong-Il – und immer gefährlicher wird das für ihn …
Der amerikanische Autor Adam Johnson hat sich für seinen zweiten Roman so richtig ins Zeug gelegt: Er hat ihn an einen Ort verlegt, der real ist und den noch niemand kennt. Zwar hat er Nordkorea zu Recherchezwecken selbst bereist, doch die Gespräche mit den Nordkoreanern waren aufgrund ihrer Sicherheitsregeln im Umgang mit Amerikanern stark verfälscht. Für Das geraubte Leben des Waisen Jun Do hat er mit Dokumenten, Belegen und eigenen Eindrücken gearbeitet – und mit der Kraft der Fantasie. Er hat sich einen Helden erdacht, ein Waisenkind, einen ruhigen, klugen, starken Mann, dem Dinge passieren, die völlig absurd sind: „Aber meine Geschichte ist so unwahrscheinlich, ich kann sie ja selbst kaum glauben.“ Die Geschichte an sich, das Erleben und Erzählen einer Geschichte, steht im Fokus dieses wilden, atemberaubenden, mitreißenden Romans, denn in Nordkorea, das beherrscht wird von der Meinung des Staats und den Lautsprechern, die diese öffentlich kundtun, hat offiziell niemand eine Geschichte: „Die Geschichten der Leute erzählst nicht du, sondern der Staat. Wenn ein Bürger etwas tut, das erzählt werden sollte, ob gut oder schlecht, dann ist das die Sache des Geliebten Führers und seiner Vertrauten. Nur ihnen steht es zu, Geschichten zu erzählen.“ Strenge Regeln und Angst beherrschen das Leben das Nordkoreaner, das stets bedroht zu sein scheint: „Für wahre Geschichten wie diese, von Menschen erlebte, konnte man im Gefängnis landen, ganz egal, wovon sie handelten.“ Was Adam Johnsons Geschichte betrifft, so glaube ich ihm von Anfang an kein Wort – und weiß doch, dass jedes einzelne wahr sein könnte. Aus diesem Grund verliebe ich mich in sein Buch. Kaum etwas von dem, was er schreibt, kann er wissen, er hat mit dem bekannten Grundsatz gebrochen, nur von dem zu berichten, was man kennt, er ist mutig, verzettelt sich manchmal komplett – und ich bewundere ihn sehr dafür. Vielleicht kann man ihm vorwerfen, dass die Dialoge manchmal allzu amerikanisch klingen, dass sein Geliebter Führer merkwürdig verzerrt vermenschlicht wirkt, dass alle Ereignisse absolut verrückt sind, aber wenn man sich wie ich derart verloren hat in diesem herrlich absurden Buch, wird man es nicht tun. Er selbst sagt dazu richtigerweise: „Wir wissen erst dann, wie man einen Roman schreibt, der in Nordkorea spielt, wenn nordkoreanische Autoren endlich selbst ihre Geschichte erzählen dürfen.“
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do hat mich überrumpelt. Wie ein engmaschiges Netz hat Adam Johnson seine Sätze und Buchstaben über mich geworfen, ich kann ihnen nicht entkommen und werde regelrecht überrannt von den fantastischen Geschehnissen rund um Pak Jun Do. Alles ist mir fremd, sein Land, seine Erziehung, sein Hunger, seine Hingabe. Der Vergleich eines Rezensenten der „Zeit“, Jun Do sei der nordkoreanische Forrest Gump, ist unglaublich passend – und ich bin ein überaus großer Fan von Forrest Gump. Dieser Roman ist trotz der Unfreiheit, die das Leben in Nordkorea beherrscht, ungezähmt und unbesiegbar, er zwingt mich nieder mit seiner Flut an Seiten, überraschenden Wendungen und nie gehörten Geschichten. Ich habe ihn verschlungen, es war ein Erlebnis und ein Abenteuer, das mich in jeder Hinsicht überwältig hat: Ich habe mich gefreut und geärgert, ich habe gelitten und geschmunzelt, habe meine Augen über die Zeilen fliegen lassen vor Ungeduld. Wer das Wagnis eingeht, dieses Buch zu lesen, sollte sich warm anziehen – und wird trotzdem schrecklich frieren auf seiner absonderlichen Reise durch ein weit entferntes, unheimliches Land, in dem Menschen unterdrückt werden und Glück vom Staat vorgeschrieben wird. Fulminant!
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: cool, schön, ausgezeichnet!
… fürs Hirn: eine grandiose Lügengeschichte, die bis ins Detail wahr sein könnte, denn was wissen wir von Nordkorea?
… fürs Herz: die vielen kleinen herzergreifenden Einzelschicksale.
… fürs Gedächtnis: der gesamte Roman, der wirklich jenes Ereignis ist, als das er verdienterweise gefeiert wird.
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-46425-0, 687 Seiten, 22,90 Euro). Hier gibt es eigene Verlagswebsite zum Buch, und hier findet ihr die lesenswerte Rezension aus der “Zeit”.