Lest dieses Buch, lest es, lest es!
Als die Atomkatastrophe in Tschernobyl geschieht, ist die Ratlosigkeit gigantisch groß: Niemand ist für einen solchen GAU gerüstet, es gibt keine Ausbildung dafür, keine Anweisungen – die entsprechenden Seiten im Betriebshandbuch sind geschwärzt –, keine Dosimeter, kein Jod. Denn es ist unmöglich, dass in der Sowjetunion so etwas geschieht. Die Partei macht keine Fehler. Die Betroffenen werden nicht informiert, nicht die umliegenden Ortschaften, nicht die nahen Städte, nicht das Ausland, während die Strahlung alles vergiftet. Der 13-jährige Artjom hat bereits bemerkt, dass etwas nicht stimmt, weil die Tiere aus den Ohren bluteten und die Vögel orientierungslos vom Himmel fielen. Trotzdem sind seine Familie und er nicht auf das vorbereitet, was mit ihnen geschieht: Sie werden von Soldaten gezwungen, mit einem Sack voll Kleidern das Haus zu verlassen, und in eine Stadt gebracht, wo niemand sie haben will, weil sie als vergiftet gelten – die eigene Tante öffnet ihnen nicht einmal die Tür. Ebenso unvorbereitet ist der Chirurg Gregori, der nach Tschernobyl geschickt wird – und völlig geschockt ist angesichts der Lage. Der Tod ist überall, und niemand weiß, wie man ihn unter Kontrolle bekommt. Gregori will helfen – und fällt dadurch schnell bei der Partei in Ungnade, was ernste Folgen für ihn hat. Als seine Ex-Frau Maria erfährt, wo er ist, macht sie sich große Sorgen. Zwischen den beiden war einst Liebe, sehr viel Liebe, und seit ihrer Scheidung sind beide abgetrennt vom Leben, voller Einsamkeit. Maria hat Gregori nie erzählt, was damals geschehen ist. Sie wohnt bei ihrer Schwester und deren Sohn Jewgeni, einem neunjährigen Klaviertalent, das um die Aufnahme am Konservatorium kämpft. Und Maria wird in Versuchung geführt, Jewgeni dazu zu benutzen, sich gegen das System aufzulehnen …
Alles Stehende verdampft hat mich überwältigt. Ich war von der ersten Seite an süchtig nach diesem Buch. Ich wollte es inhalieren, aufsaugen, immer bei mir tragen, jede Minute. Und jetzt bin ich gerade ganz aufgeregt, weil ich es unbedingt schaffen muss, euch mit dieser Rezension zu überzeugen, Darragh McKeons Debüt zu lesen. Wenn ich könnte, würde ich es in eure Bücherregale beamen, denn dort gehört es hin! Es ist so vieles in einem: eine wahnsinnig traurige Liebesgeschichte, ein Familienroman, eine Gesellschaftskritik, ein Bericht über den beginnenden Zerfall der Sowjetunion, eine Dokumentation der Katastrophe von Tschernobyl. Das alles verwebt der junge Autor meisterhaft und mit Verve. Ich bin begeistert, über die Maßen. Jede einzelne Figur ist lebendig und sehr menschlich gezeichnet, sodass ich das Gefühl habe, Maria, Gregori, Artjom und Jewgeni wirklich kennenzulernen, sie zu verstehen, Teil ihrer Welt zu werden. Und diese Welt stirbt. Im wahrsten Sinn des Wortes: Die extreme atomare Strahlung zersetzt Körper, zerstört Organe, verseucht und tötet. Die Partei reagiert unmenschlich, skrupellos und schockierend egoistisch: Während sie Menschen direkt ins Verderben schickt, um „aufzuräumen“, trinkt sie selbst saubere Milch in geschützten Zonen.
Als der Unfall in Tschernobyl geschah, war ich drei Jahr alt – und meine einzige Erinnerung ist, dass ich Tabletten bekam und eine Zeitlang nicht in der Sandkiste spielen durfte. Von den Details, die Derragh McKeon schildert, hatte ich wenig Ahnung. Umso mehr hat mich sein Buch aufgewühlt. Ich wollte in diesem Roman immer weiter und weiter lesen, nie sollte er zu Ende sein. Ich habe am Tag darüber nachgedacht und nachts davon geträumt. Er ist intelligent und berührend, präzise und gefühlvoll, er ist intensiv und krass und schön und poetisch. Ich möchte alle positiven Adjektive bemühen, um Alles Stehende verdampft – das im Original den wundervollen Titel All that is solid melts into air hat und dessen deutscher Titel dem Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels entstammt – zu beschreiben. Unfassbar traurig ist dieses Buch allerdings auch, tragisch, grausam, brutal. Es wird euch nicht loslassen, und es wird euch beeindrucken. Für mich ist es der Roman, der mich 2015 emotional am meisten berührt hat. Ein außergewöhnlich gutes Buch. Als ich es ins Regal gestellt habe, da klebte mein Herz noch dran.
Alles Stehende verdampft von Darragh McKeon ist erschienen bei Ullstein (ISBN 9783550080845, 464 Seiten, 22 Euro). Im schönen Ullstein-Blog Resonanzboden könnt ihr einen Essay von Darragh McKeon über seine Reise durch das verseuchte Gebiet lesen.