Für Gourmets: 5 Sterne

img_1289Ich mag den Seethaler. Ich mag den sogar sehr. Bisher hab ich allerdings nur zwei eher unbekannte Romane von ihm gelesen, Die weiteren Aussichten sowie Die Biene und der Kurt. Als ich nach Idee 1 und 2 nur noch so halb im Lesetief steckte, dachte ich: Nimm den Seethaler, der zieht dich da raus. Der kann das, der ist gut, wirklich jeder fand das Buch toll. Und was soll ich sagen, Schritt 3 hat mich endgültig gerettet. Das war eine sichere Nummer, da wusste ich, damit kann ich einfach nicht falsch liegen. Weil Ein ganzes Leben so unaufgeregt ist und leise, aber überhaupt nicht flach. Mich verbindet natürlich auch viel mit dem Österreichischen, ich bin selbst auf einem Berg aufgewachsen, ich verstehe die Sprache und alles, was nicht gesagt wird. Ein ganzes Leben ist ein großartiges Buch, und es war gut, dass ich dem Seethaler vertraut habe: Nach diesem Roman war die Leseflaute vorbei. Ich hatte sie übertaucht.

Es ist eine Sauerei mit dem Sterben. Man wird einfach weniger mit der Zeit.

So schreibt der da, und das find ich schon gut, es wird allerdings beständig noch besser.

Wenn man schon zur Hölle fuhr, müsse man mit den Teufeln lachen.

Das passt irgendwie, kommt mir vor. Galgenhumor. Ein bisserl Tiefsinnigkeit. Was Melancholisches. Ja, denke ich da, davon will ich mehr. Ich will wieder lesen. Ich bin zurück!

Für Gourmets: 5 Sterne

doerr„Manchmal ist das Auge des Sturms der sicherste Ort“

„Kennst du die größte Lehre der Geschichte? Sie lautet, dass die Geschichte am Ende das ist, was die Sieger sagen.“

Und dem jungen Werner wird eingebläut, dass es nur einen Sieger geben kann: das Deutsche Reich. Der blonde Bub, der in einem Waisenhaus aufgewachsen ist, hat eine große Leidenschaft für Radios und alles Technische. Die bringt ihn an die Akademie, wo er eine Chance auf eine gute Ausbildung erhält – denn im Krieg werden Burschen wie er gebraucht. Werner macht mit, reiht sich ein in den Gleichschritt und versucht, die Zweifel, die tief in ihm drin gären, zu ignorieren. Als er gegen Kriegsende in einem kleinen französischen Städtchen stationiert ist, deckt er ein Geheimnis auf, an dem sich zeigen wird: Ist Werner, wenn es drauf ankommt, ein guter Mensch? Denn dort trifft er Marie-Laure, die allein ausharrt in einer völlig zerbombten Stadt. Sie ist blind. Und was sie tut, könnte sie das Leben kosten …

Im September war ich im Urlaub: die erste Flugreise mit den Kindern. Der Platz im Koffer war beschränkt, ich hatte schon einige leichte Taschenbücher eingepackt, da ich ja keinen E-Reader besitze. Am Abend vor dem Abflug hab ich noch in diesen Roman reingelesen, nicht viel, vielleicht fünfzehn Seiten. Das war ein Fehler. Denn dann musste ich ihn mitnehmen. Ich MUSSTE. Ich stopfte ihn noch zu den Badesachen, und dann saß ich da, am Strand, die Kinder in Sichtweite, strahlender Sonnenschein, die Füße im Sand – und mit dem Kopf mitten im Zweiten Weltkrieg, im Bombenhagel. Mehr als einmal tropften meine Tränen in den Sand, holy moly, das klingt so rührselig, aber was soll ich tun, es ist wahr.

Anthony Doerr hat 2015 für dieses Buch, um das ein großer Hype herrschte, den Pulitzer-Preis bekommen. In Amerika hat ihm das einen sensationellen Erfolg beschert, das deutsche Feuilleton hat sein Werk abfällig behandelt und belächelt. Ich bin wie immer spät dran, aber who cares: Gute Bücher werden nicht schlecht. Und dieses hier schon gar nicht. Deshalb solltet ihr alle, die die Geschichte von Marie-Laure und Werner noch nicht gelesen haben, das unbedingt nachholen: Sie ist großartig. Sehr ergreifend, hart, spannend, tieftraurig und ein weiteres Mahnmal –, auch wenn es viele geben mag, die glauben, davon brauche es nicht noch mehr – dessen, was geschehen ist, was nicht vergessen werden darf. An den vielen Details merkt man, wie gut der amerikanische Autor recherchiert hat – die Arbeit muss Jahre gedauert haben. Die Kapitel sind sehr kurz, die Schnitte sind schnell, was tatsächlich einen Film im Kopf ablaufen lässt, einen Film voll einprägsamer Bilder und mit gelungener Dramaturgie. Anthony Doerr hat viel Liebe in dieses Buch gesteckt, hat sich hineingefühlt in seine zwei Jugendlichen, in diesen Krieg, in diese Ideologie. In Deutschland war es nicht erfolgreich, wofür die Kritiker diverse Gründe gefunden haben, unter anderen die Übersetzung. Ich war allerdings absolut angetan, für mich gehört Alles Licht, das wir nicht sehen zu den besten Büchern, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Den dicken, schweren Wälzer in den Urlaub und an den Strand zu schleppen – das war’s wert.

Alles Licht, das wir nicht sehen von Anthony Doerr ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-66751-0, 528 Seiten, das HC ist vergriffen und wird nicht nachgedruckt, bei btb ist eine Taschenbuchausgabe erschienen).

Für Gourmets: 5 Sterne

Rosenfeld„Hört man auf zu existieren, Anna, wenn niemand mehr weiß, wer man eigentlich ist?“
„Man ist immer zu jung, um nicht mehr zu hoffen.“ Und deshalb tut Adam alles, um Anna zu finden. Sie hatten nur einen einzigen Kuss, nur so wenig Zeit zusammen, bevor die Nationalsozialisten damit begannen, die Juden ins Ghetto zu treiben oder in Zügen fortzubringen. Adam, selbst Jude, soll mit seiner Familie fliehen, mit seinem großen Bruder Moses, der Mutter sowie der Großmutter – einer resoluten Frau, die das Familienvermögen in Diamanten eingetauscht hat, um sie alle nach England zu bringen. Doch stattdessen geht Adam nach Osten, mitten hinein in die Gefahr, und zwei Dinge helfen im dabei: sein arisches Aussehen und der Oberkommandant Bussler, der schon seit vielen Jahren mit Adams Großmutter befreundet ist – obwohl er sich der Sache verschrieben hat und Tötungen im großen Stil verantwortet. Direkt vor der Nase derer, die ihn tot sehen wollen, bewegt Adam sich mit dem Mut der Verzweifelten, und um Anna zu erreichen, schreibt er ihr diese Geschichte,

„deshalb gibt es diese Seiten, Anna, der einzige Ort, an dem mein Name neben deinem steht“,

und viele Jahre später erreicht sie jemanden, der ihm sehr ähnlich sieht.

„Manchmal weiß man nicht, ob man den Sprung über den reißenden Strom geschafft hat oder ob das der Grund des Flusses ist, den man unter den Füßen spürt.“

Dieses Zitat fängt die Stimmung dieses Buchs perfekt ein: die stetige Gefahr. Den Mut, zu springen. Und den Galgenhumor, die Selbstironie, mit der Protagonist Adam seine Situation betrachtet. Euch jetzt zu sagen, dass ein Buch wie dieses, das zur Zeit der Judenverfolgung spielt, traurig ist, ist mit Sicherheit überflüssig. Aber Adams Erbe ist nicht einfach nur traurig, es ist erschütternd. Es bohrt sich in eure Knochen wie ein zugespitzter Eiszapfen. Weil es um einen geht, der verliebt ist, der so gern leben möchte, der nicht versteht, warum ihm verwehrt wird, was für alle anderen eine Selbstverständlichkeit ist. Er bangt und hofft und sucht, und selbst in der größten Not, bis zum bitteren Ende, kämpft er um seine Zuversicht. Das zu lesen, tut einfach nur weh. Und es erinnert mich stellenweise sehr stark an den La vita è bella von Roberto Benigni, ein Wahnsinnsfilm, mit Sicherheit einer der besten, die jemals gedreht wurden. Vorenthalten habe ich euch jetzt die Rahmenhandlung, in die Adams Story eingebettet ist und die – auf ihre eigene Art – ebenso wunderbar zu lesen ist. Dies ist ein Roman, aber auch ein historisches Dokument, eine Geschichte, die genau so geschehen sein könnte. Alles daran ist erfunden und zugleich nichts. Umso bedeutsamer ist dieses Buch, und umso dringender solltet ihr es lesen.

„Aber ich hoffe, das man nicht vergessen wird, dass es Menschen waren, die uns vertrieben haben, dass es Menschen waren, die dieses Ghetto errichtet haben, dass es Menschen sind, die da draußen schießen, dass es Menschen sind, die diese Züge in Bewegung setzen.“

Adams Erbe von Astrid Rosenfeld ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-06772-9, 400 Seiten, 21,90 Euro). Hier könnt ihr lesen, was die Autorin selbst über ihr Debüt von 2011 sagt.

Für Gourmets: 5 Sterne

OzekiDas Leben ist eine Welle, du kannst nicht dagegen ankämpfen
„Hi! My name is Nao, and I am a time being. Do you know what a time being is? Well, if you give me a moment, I will tell you. A time being is someine who lives in time, and that means you, and me, and every one who is, or was, or ever will be.“ So beginnt dieses herausragend gute Buch mit der Ich-Stimme eines sechzehnjährigen japanischen Mädchens, das seine Geschichte aufschreibt – in ein leeres Notizbuch mit dem Umschlag von À la recherche du temps perdu. Und was für eine Geschichte das ist! Aufgewachsen ist Nao in Sunnydale in den USA, doch als ihr Vater seinen Job verlor, musste sie zurück nach Tokyo – ohne Geld, ohne Zuflucht, ohne Perspektive und vor allem ohne das Rüstzeug, um an einer japanischen Schule zu bestehen. Sie spricht die Sprache, aber mehr auch nicht, und so wird Nao schnell zum Ziel grausamster Mobbingattacken. Niemandem erzählt sie davon. Der Vater schämt sich wegen des Gesichtsverlusts zu Tode und versucht mehrfach, sich umzubringen. Das Familienleben besteht nur noch aus Schande und brodelndem Schweigen:

„The important thing was that we were being polite and not saying all the things that were making us unhappy, which was the only way we knew how to love each other.“

Ein Lichtblick in Naos Leben ist ihre Urgroßmutter Jiko, buddhistische Nonne und 104 Jahre alt, die ihr zeigt, wie unwichtig vieles von dem ist, was Nao sich so zu Herzen nimmt. Das Buch, dem Nao sich anvertraut, behält sie nicht. Sie wirft es ins Meer. Und im Zuge des wirbelnden Tsunami landet es an einem weit entfernten Strand, wo die Schriftstellerin Ruth es findet, auf einer abgelegenen Insel, im kleinen Ort Whaletown. Sie ist fasziniert von Naos Geschichte, recherchiert und sucht und sorgt sich: Ist Nao noch am Leben? Was ist mit ihr geschehen? Ist von ihr nur noch die Erinnerung geblieben?

„Memories are time beings, too, like cherry blossoms or gingko leaves, for a while they are beautiful, and then they fade and die.“

Schon von den ersten Seiten an war ich ganz verrückt nach diesem Buch. Es hat mich sofort umwickelt, umgarnt, an sich gezogen und mitgenommen auf eine Reise an einen Sehnsuchtsort: Japan. Seit ich vor vielen Jahren an der Uni versucht habe, Japanisch zu lernen, übt dieses Land eine große Faszination auf mich aus. Ruth Ozeki hat selbst eine japanische Mutter – und sie hat sich auch selbst in dieses Buch eingebracht, zumindest vermute ich das. Ob die Kapitel aus Sicht von Ruth authentisch und autobiografisch sind, kann ich nicht beurteilen, aber die Parallelen und Ähnlichkeiten sind groß. Ihr Stil, mit dem sie die Nöte und Ängste des Teenagermädchens Nao einfängt, ist sicher und elegant. Keinen Augenblick lang habe ich das Gefühl, dass hier nicht tatsächlich eine Sechzehnjährige mit mir spricht. Nao ist ehrlich und direkt, sie sehnt sich und leidet und sucht. Was sie erlebt, zeigt erneut, was für ein Scheißhaufen diese Welt ist. Welchen Sinn gibt es für sie? Wie kann sie ihren Vater retten? Und wie wird man so gelassen wie eine 104-jährige buddhistische Nonne? A tale for the time being ist ein trauriges Buch und dennoch überraschend heiter. Es zieht mich nicht runter, es ist lebensklug und gewitzt und voller wunderschöner Botschaften. Sie treffen mich, überall im Buch, ich schreibe sie mir auf, möchte sie nicht vergessen. Genau wie diesen ganz besonderen Roman.

Auf Deutsch ist A tale for the time being unter dem Titel Geschichte für einen Augenblick bei den S. Fischer Verlagen erschienen.

Für Gourmets: 5 Sterne

thumb_IMG_9179_1024.jpgWenn man verbrennt, tief innen drin
Einer packt ein Mädchen, tritt es in den Keller, missbraucht es und donnert es an die Wand, bis es sich nicht mehr rührt. Ein anderer ist alt geworden während der Arbeit in der Fabrik, tagein, tagaus, und jetzt, wo seine Arbeitskraft nichts mehr wert ist, bleibt ihm nur die Kneipe, wo die Kumpel sitzen und es nach Bier riecht, nach Kotze, Tschick und Wut. Resignation, Frust, Gewalt: Das ist die Mischung, die das Blut der Männer zum Kochen bringt, der Alkohol und die Perspektivenlosigkeit tun ihr Übriges. Manch einer will ausbrechen aus dem Trott der Generationen, will studieren und ein besseres Leben haben, aber wenn er es nicht schafft, muss er zurück in die Welt der Verlierer. Und er muss prügeln, er muss Knochen krachen lassen, damit er überhaupt noch was hört in seinem tiefen, gedämpften Sumpf aus abgestorbenen Träumen.

Milieustudie ist ein wirklich abgeschmackter Begriff. Trotzdem trifft er zu auf Sven Heucherts schonungslose Geschichten: Der junge deutsche Autor bildet in seinen Debütstorys eine Gesellschaftsschicht ab, die Arbeiterschicht, greift sich eine Handvoll Figuren aus der Masse der Hunderttausenden und zeigt, wie sie leben. Das tut er auf ebenso eindringliche wie authentische Weise: So knallhart und verdichtet ist seine Sprache, dass sie wirkt, als käme sie direkt aus den Mündern dieser Menschen. Wie Ohrfeigen sind die Worte, wie Schläge in den Magen, und wuchtiger noch sind ihre Inhalte: Von Einsamkeit erzählen sie und von Schmerz, von Alkoholismus und Brutalität. Hackler heißen diese Arbeiter auf Österreichisch, doch egal, wie man sie nennt: Ihr Leben ist hart. Ihre Hände sind rau und vernarbt, ihre Herzen sind es auch.

Sven Heucherts Figuren sind Männer. Auf Frauen treten sie drauf, wenn sie ihnen unterkommen, Frauen suchen sie, um abzuladen, was sich aufgestaut hat, Frauen sind anwesend. Aber die eigentlichen Figuren sind Männer. Wenn sie ein Kind zeugen, behalten sie die Frau dazu, versorgen sie, fühlen sich ihr verpflichtet, füllen die Leere im Inneren mit Bier. Liebe gibt es nicht, nur in kleinen Dosen vielleicht, als ein Aufeinander-angewiesen-Sein, als ein Mittel gegen das Alleinsein oder in der Form von Sex. Frauen werden gejagt, vergewaltigt, blutig geschlagen und liegengelassen. Sie sind Objekte der Begierde, sie sind das, was man sich nimmt, oder das, was zuhause sitzt und einem auf die Nerven geht. Dazwischen gibt es wenig, einen heimlichen Blick vielleicht, eine einzige zärtliche Geste.

Sven Heucherts Storys sind selbst wie Männer: Sie benutzen nicht viele Worte. Er ist ein Meister der Verknappung, sparsam geht er um mit seinem Werkzeug Sprache – und schafft es trotzdem, viel zu sagen. Deshalb ist sein Buch Asche, auf das Tobias vom Buchrevier aufmerksam gemacht hat, so hervorragend. Auch wenn ich oft vom Dialekt in den Dialogen wenig verstehe, ist die Botschaft klar: Da suchen Menschen nach dem Glück, wühlen danach, graben, bis ihnen die Fingernägel brechen, und finden nichts weiter als ein schwaches Schimmern. Ein desillusionierendes, lebensnahes, starkes Buch.

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Asche von Sven Heuchert ist erschienen im Bernstein Verlag (ISBN 978-3-945426-13-5, 184 Seiten, 12,80 Euro). Eine weitere Besprechung findet ihr auch bei Sophie von Literaturen.

Für Gourmets: 5 Sterne

thumb_IMG_9177_1024.jpg„Wahre Zauberkunst ist das Spektakel, die Illusion, die Unterhaltung“
„Wir sind hier beim Zirkus. Wir sind alle gleich. Im Theater ist jeder ein Edelmann Wir sind Künstler, und es gibt nichts Edleres als die Kunst.“ Das kommt dem 15-jährigen Mosche Goldenhirsch sehr entgegen, denn er ist Jude, in einer Zeit, in der es nicht gut ist, Jude zu sein. Wir schreiben das Jahr 1934, und Mosche ist seinem Vater weggelaufen, um sich dem Zirkus des Halbmondmanns anzuschließen. Er verliebt sich unsterblich in Julia, die Assistentin des Halbmondmanns, und bei den beiden lernt er alles, was er über die Kunst der Illusion und der Täuschung zu wissen gibt. Doch die Schergen der Nazis lassen sich nicht für immer austricksen. Viele Jahrzehnte später, im Jahr 2007, hat in Los Angeles der zehnjährige Max Cohen ein Problem: Seine Eltern lassen sich scheiden, und er muss das verhindern. Deshalb klettert er aus dem Fenster, um den großen Zauberer Zabbatini zu finden, der seine Familie retten soll. Doch der alte Mann hat darauf überhaupt keinen Bock …

Ein Wunderwerk ist Der Trick von Emanuel Bergmann, ein Zauberding, ein Buch voll doppelter Böden und Überraschungen. Der deutsche Autor, der jahrelang für Filmproduktionen in LA sowie für deutsche Verlage tätig war, hat eine wunderbare Geschichte mit Tiefgang geschrieben, die sich trotzdem leicht liest. Zwei Handlungsstränge gibt es, einen vergangenen und einen gegenwärtigen, sowie zwei Buben, deren Leben verschiedener nicht sein könnte: Der eine ist ein Jude in höchster Gefahr, der andere ein verwöhntes Einzelkind. Als einer von beiden ein alter Mann ist, treffen sie aufeinander. Ein Kauz ist dieser alte Mann, kratzbürstig, egoistisch und versoffen. Schüchtern und ratlos ist dagegen der kleine Junge, der unbedingt einen Liebeszauber braucht, damit sein Vater wieder zurückkommt.

Nichts an diesem Buch ist banal, im Gegenteil: Es ist vielschichtig und originell, raffiniert und gewitzt. Gefühle aus der Vergangenheit wirbeln auf wie Ascheflocken, aber von sentimentalem Kitsch ist Emanuel Bergmann meilenweit entfernt. Das macht seinen Roman so großartig: Er gesteht seinen Figuren Grant, Missgunst und Angst zu, er lässt sie authentisch sein, überfordert, unfreundlich, menschlich. Es ist die Definition von Galgen- bzw. Schwarzem Humor, dem Tod ins Gesicht zu lachen. All das Grauen, all der Schrecken der Judenverfolgung im Deutschen Reich sind in diesem Buch enthalten – und trotzdem vermittelt es eine Art gelöste Heiterkeit. Das ist perfekt austariert, ausgezeichnet geschrieben, nie unsensibel, sondern stets unterhaltsam auf hohem Niveau. Ein Buch wie ein verblüffend guter Zaubertrick.

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Der Trick von Emanuel Bergmann ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN
978-3-257-06955-6, 400 Seiten, 22 Euro).

 

Für Gourmets: 5 Sterne

  1. GerkDieses intelligente, informative Sachbuch über die heilsame Wirkung des Lesens enthält Sätze wie: „Bücher können Trost schenken, Mut machen, Spiegel vorhalten, Zuflucht sein, Erfahrungen vermitteln, Perspektiven ändern, Sinn stiften. Bücher amüsieren und berühren. Und sie können ablenken – nicht zuletzt von uns selbst.“
  1. Ich lese eigentlich nie Sachbücher, nicht mehr, habe dieses hier aber bei Sophie und Mara entdeckt – und war so neugierig, dass ich es haben musste. Eine kluge Entscheidung!
  1. Ich habe mich noch nie damit beschäftigt, warum ich lese. Ich tue es einfach, es ist für mich selbstverständlich. Andrea Gerk hat mich mit ihrer historischen und wissenschaftlichen Übersicht zum Nachdenken angeregt – was bedeutet das Lesen an sich? Was wäre, wenn ich nicht lesen könnte, wenn ich keinen Zugang zu Büchern hätte? Ich schätze mich nun noch glücklicher, dass es so viel Lesestoff in meinem Leben gibt.
  1. Jetzt, wo ich mich mehr damit auseinandergesetzt habe, finde ich die menschliche Fähigkeit des Lesens noch ein bisschen wunderbarer.
  1. „Prosa und Gedichte sind wie Medikamente. Sie heilen den Riss, den die Wirklichkeit in die Vorstellungskraft schneidet.“
  1. Dies ist das absolut perfekte Buch für bibliophile Menschen. Wer nicht liest, wird nichts damit anfangen können. Wer dagegen viel liest, der MUSS sich dieses Buch unbedingt holen!
  1. Sehr interessant sind die Listen mit „Büchern, die mich stark beeinflusst haben“ von bekannten bzw. im Buch vorkommenden Menschen.
  1. Der große Themenreichtum – von Neurowissenschaft über misshandelte Kinder bis zu Klöstern und Gefängnissen – ist fantastisch.
  1. Andrea Gerk hat ihr Buch gespickt mit persönlichen Erfahrungen, die ihm einen authentischen Touch geben.
  1. Viel Wahrheit steckt in den Zeilen, wie beispielsweise in diesen: „Worte entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns nicht nur intellektuell voranbringt, sondern auf vielschichtige Weise im Inneren berührt. Manchmal so sehr, dass ein Vers, eine Erzählung, ein Roman das ganze Leben verändern kann, und sei es nur für ein paar Stunden.“
  1. Dieses Buch packt mich an der Wurzel meines Seins: Lesen.

Lesen als Medizin. Die heilsame Wirkung der Literatur von Andrea Gerk ist erschienen bei Rogner & Bernhard (ISBN 978-3-95403-084-2, 324 Seiten, 22,95 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Scharnigg „Wer sich im Krieg allein das Bücherlesen beibrachte, der würde im Frieden alles erreichen können“
Da ist ein Hof, und der steht in Pildau. Außer diesem Hof gibt es in Pildau nichts, nur eine Stange. Die wächst in den Himmel und wird zu allen möglichen Gelegenheiten gelängt, obwohl niemand weiß, warum eigentlich. Mit den Leuten aus dem Dorf haben die Pildauer nichts zu tun, und so leben sie völlig unbehelligt: Jasper, sein Vater und sein Großvater. Der war der Erste von ihnen in Pildau, wo er gar nicht hingehörte, sondern nur in den Zeiten des Krieges beherbergt wurde. Irgendwann blieb er einfach hier, während die Besatzer, die Hippies und die Frauen kamen und gingen. Besonders mit den Frauen hat nämlich keiner der Pildau-Männer Glück. Sie laufen ihnen am Ende immer davon. Nur eine bleibt, zumindest für eine Weile: die kleine Lada. Jaspers Vater hat sie aus einem brennenden Auto gerettet und behalten. Für Jasper ist dieses fremde Mädchen das Beste, was ihm passieren konnte: endlich ein anderes Kind! Mit Lada teilt er Mutproben und Bücher und all seine Geheimnisse. Bis den beiden das Erwachsenwerden in die Quere kommt …

Manchmal, da findet man etwas Ungewöhnliches. Eine bunte Handtasche in einer Secondhand-Boutique, die sonst niemand hat. Ein Lokal, in dem die Pizza unvergleichlich knusprig ist. Oder ein Buch wie Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau von Max Scharnigg. Es ist ein wunderbarer kleiner Schatz – und vor allem ungewöhnlich. Der 1980 in München geborene Autor hat bereits Kolumnen und einen Roman veröffentlicht, ich kenne ihn von der grandiosen Zeitschrift Nido, die ich gern lese. Mit seinem Buch hat er mich jedoch noch wesentlich mehr begeistert: Ich bin gleich hineingefallen wie in ein weiches Bett, wo die Decke superkuschlig ist und der Polster genau richtig liegt. Ich wusste: Hier ist es perfekt für mich, hier werde ich mich wohlfühlen. Und das Beste ist: Ich hatte Recht.

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau ist ein Roman, der den Spagat bravourös meistert, berührend, aber nicht kitschig zu sein. Er erzählt von einem Ort in der Einöde, an dem die vergehende Zeit – in Form von abgestürzten Soldaten und Blumenkindern – nur zu Besuch kommt. Ansonsten dringen kaum Nachrichten von der Außenwelt nach Pildau. In diesem Kokon herrscht eine fast märchenhafte Stimmung, hier gibt es Geborgenheit und Guten-Morgen-Geschichten, Zusammengehörigkeit und Gemüse aus dem eigenen Garten. Pildau ist ein Sehnsuchtsort, eine kleine Insel der Seligen, wo der Realität so lange getrotzt wird, bis es nicht mehr geht. Ein herausragendes Buch – chapeau!

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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau von Max Scharnigg ist erschienen  bei Hoffmann und Campe (ISBN 978-3-455-40388-6, 304 Seiten, 19,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

thumb_IMG_6301_1024Lest dieses Buch, lest es, lest es!
Als die Atomkatastrophe in Tschernobyl geschieht, ist die Ratlosigkeit gigantisch groß: Niemand ist für einen solchen GAU gerüstet, es gibt keine Ausbildung dafür, keine Anweisungen – die entsprechenden Seiten im Betriebshandbuch sind geschwärzt –, keine Dosimeter, kein Jod. Denn es ist unmöglich, dass in der Sowjetunion so etwas geschieht. Die Partei macht keine Fehler. Die Betroffenen werden nicht informiert, nicht die umliegenden Ortschaften, nicht die nahen Städte, nicht das Ausland, während die Strahlung alles vergiftet. Der 13-jährige Artjom hat bereits bemerkt, dass etwas nicht stimmt, weil die Tiere aus den Ohren bluteten und die Vögel orientierungslos vom Himmel fielen. Trotzdem sind seine Familie und er nicht auf das vorbereitet, was mit ihnen geschieht: Sie werden von Soldaten gezwungen, mit einem Sack voll Kleidern das Haus zu verlassen, und in eine Stadt gebracht, wo niemand sie haben will, weil sie als vergiftet gelten – die eigene Tante öffnet ihnen nicht einmal die Tür. Ebenso unvorbereitet ist der Chirurg Gregori, der nach Tschernobyl geschickt wird – und völlig geschockt ist angesichts der Lage. Der Tod ist überall, und niemand weiß, wie man ihn unter Kontrolle bekommt. Gregori will helfen – und fällt dadurch schnell bei der Partei in Ungnade, was ernste Folgen für ihn hat. Als seine Ex-Frau Maria erfährt, wo er ist, macht sie sich große Sorgen. Zwischen den beiden war einst Liebe, sehr viel Liebe, und seit ihrer Scheidung sind beide abgetrennt vom Leben, voller Einsamkeit. Maria hat Gregori nie erzählt, was damals geschehen ist. Sie wohnt bei ihrer Schwester und deren Sohn Jewgeni, einem neunjährigen Klaviertalent, das um die Aufnahme am Konservatorium kämpft. Und Maria wird in Versuchung geführt, Jewgeni dazu zu benutzen, sich gegen das System aufzulehnen …

Alles Stehende verdampft hat mich überwältigt. Ich war von der ersten Seite an süchtig nach diesem Buch. Ich wollte es inhalieren, aufsaugen, immer bei mir tragen, jede Minute. Und jetzt bin ich gerade ganz aufgeregt, weil ich es unbedingt schaffen muss, euch mit dieser Rezension zu überzeugen, Darragh McKeons Debüt zu lesen. Wenn ich könnte, würde ich es in eure Bücherregale beamen, denn dort gehört es hin! Es ist so vieles in einem: eine wahnsinnig traurige Liebesgeschichte, ein Familienroman, eine Gesellschaftskritik, ein Bericht über den beginnenden Zerfall der Sowjetunion, eine Dokumentation der Katastrophe von Tschernobyl. Das alles verwebt der junge Autor meisterhaft und mit Verve. Ich bin begeistert, über die Maßen. Jede einzelne Figur ist lebendig und sehr menschlich gezeichnet, sodass ich das Gefühl habe, Maria, Gregori, Artjom und Jewgeni wirklich kennenzulernen, sie zu verstehen, Teil ihrer Welt zu werden. Und diese Welt stirbt. Im wahrsten Sinn des Wortes: Die extreme atomare Strahlung zersetzt Körper, zerstört Organe, verseucht und tötet. Die Partei reagiert unmenschlich, skrupellos und schockierend egoistisch: Während sie Menschen direkt ins Verderben schickt, um „aufzuräumen“, trinkt sie selbst saubere Milch in geschützten Zonen.

Als der Unfall in Tschernobyl geschah, war ich drei Jahr alt – und meine einzige Erinnerung ist, dass ich Tabletten bekam und eine Zeitlang nicht in der Sandkiste spielen durfte. Von den Details, die Derragh McKeon schildert, hatte ich wenig Ahnung. Umso mehr hat mich sein Buch aufgewühlt. Ich wollte in diesem Roman immer weiter und weiter lesen, nie sollte er zu Ende sein. Ich habe am Tag darüber nachgedacht und nachts davon geträumt. Er ist intelligent und berührend, präzise und gefühlvoll, er ist intensiv und krass und schön und poetisch. Ich möchte alle positiven Adjektive bemühen, um Alles Stehende verdampft – das im Original den wundervollen Titel All that is solid melts into air hat und dessen deutscher Titel dem Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels entstammt – zu beschreiben. Unfassbar traurig ist dieses Buch allerdings auch, tragisch, grausam, brutal. Es wird euch nicht loslassen, und es wird euch beeindrucken. Für mich ist es der Roman, der mich 2015 emotional am meisten berührt hat. Ein außergewöhnlich gutes Buch. Als ich es ins Regal gestellt habe, da klebte mein Herz noch dran.

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Alles Stehende verdampft von Darragh McKeon ist erschienen bei Ullstein (ISBN 9783550080845, 464 Seiten, 22 Euro). Im schönen Ullstein-Blog Resonanzboden könnt ihr einen Essay von Darragh McKeon über seine Reise durch das verseuchte Gebiet lesen.

Bücherwurmloch, Für Gourmets: 5 Sterne

thumb_IMG_6195_1024Gewinnspiel! Gewinnspiel! Gewinnspiel!
Nun habe ich euch eine ganze Woche lang mit Beiträgen zu Schiff des Theseus zugespamt. Ich hoffe, es ist mir gelungen, euch meine Begeisterung für dieses einmalig schöne Buch zu vermitteln. Und natürlich weiß ich, dass es einen stolzen Preis hat, aber ich könnte mir kein schöneres Weihnachtsgeschenk für bücherliebende Menschen vorstellen. Oder für euch selbst! Hab ich euch eigentlich schon verraten, dass es sogar nach altem Buch riecht, weil es extra eingeduftet wurde? Nein? Am besten macht ihr noch bis Sonntag, 6. Dezember 2015, beim Gewinnspiel* mit, dann habt ihr nämlich die Chance darauf, bald selbst dieses Mammut von einem Buch in der Hand zu halten. Kommentiert dazu einfach hier oder unter einem der anderen S-Beiträge, es gibt ja jetzt genügend davon (feine Selbstironie bitte hier einsetzen).

Wenn ihr noch ein bisschen mehr Interessantes über Schiff des Theseus lesen möchtet, werdet ihr beispielsweise fündig bei Druckfrisch, der Süddeutschen Zeitung, Zeilensprünge, Lesestunden und der Welt. Hier findet ihr den schönen Buchtrailer, und hier könnt ihr Kossi beim Unpacking zusehen.

Abschließend bleibt mir zu sagen, dass dieses Buch mich persönlich sehr bereichert hat, weil es mir mit Einfallsreichtum, Fantasie und großem Produktionsaufwand gezeigt hat, wie schön es ist, zu lesen. Es hat mich daran erinnert, wie sehr ich als Kind literarische Schnitzeljagden von Thomas Brezina oder anderen Autoren mochte, mit Codes und Rätseln. Und es hat auf eine sehr greifbare, haptische Art bewiesen, dass man, wenn man fest an eine vielleicht verrückte Idee glaubt, alles erreichen kann. Das ist sehr amerikanisch. Und sehr schön.

*Unter allen, die bis 6. 12. 2015 um 0.00 Uhr einen Kommentar unter den Special-Beiträgen hinterlassen, wird ein Exemplar von Schiff des Theseus verlost. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Und übrigens: Wenn WordPress eure Mail-Adresse kennt bzw. ihr ein Gravatar-Profil habt, werdet ihr aufgefordert, euch anzumelden. Falls ihr das nicht könnt oder wollt, lasst im Kommentarfeld einfach die Mail-Adresse weg, dann klappt es auch so. Ansonsten schickt mir bitte eine Nachricht auf Facebook, ich poste dann euren Kommentar für euch, damit ihr am Gewinnspiel teilnehmen könnt.