Bücherwurmloch

„Die Macht einer Frau existiert nur in dem Maße, wie sie ihr zugestanden wird“ 

Marie ist im Jahr 1158 siebzehn Jahre alt. Sie ist verwandt mit dem Königshaus, aber aus den falschen Gründen, denn ihre Mutter wurde aufgrund einer Vergewaltigung mit ihr schwanger. Nun schickt Königin Eleonore von Aquitanien Marie als Priorin in ein abgelegenes Kloster, halb versunken im Schlamm von England, in dem die Nonnen vor Hunger sterben. Verzweifelt und ratlos kommt Marie, die Riesin, die alle zu groß finden, unweiblich, stark, in dem grausigen Gemäuer an. Es dauert, bis sie einsieht, dass niemand sie zurückholen wird, dass ihre Liebe zu Eleonore nicht erwidert wird – und dass ihr eigenes Schicksal sowie das der Schwestern allein in ihren Händen liegt. Marie ist unerschrocken, klug und entschlossen: Es gelingt ihr, nicht nur das Hungern zu beenden, sondern das Kloster zu einem florierenden, rundum autarken Betrieb zu machen.

„Sie würden ganz auf sich selbst gestellt sein, vollkommen unabhängig. Eine Insel voller Frauen.“

Viele Jahrzehnte lang leitet Marie als Äbtissin das Gotteshaus, und davon erzählt Lauren Groff in diesem hervorragend recherchierten, informativen und irgendwie fröhlichen Buch. Als ich schon weit über der Hälfte war, schrieb mir jemand, dass in diesem Buch keine einzige männliche Figur vorkommt, und ich war verblüfft, denn es war mir gar nicht aufgefallen. Weil sie nicht fehlen. Es ist schön, dass der Fokus ausschließlich auf den Frauen liegt, es ist vollständig, es ist richtig.

„Frauen in die Texte einzuschmuggeln, das kommt ihr verrucht vor. Es macht Spaß.“

Dies ist ein historischer Roman, der Geschichte so erzählt, wie sie eben auch gewesen ist: mit weiblichen Heldinnen, die die Geschicke der Welt gelenkt haben, die nicht in zweiter Reihe standen, wie heute gern behauptet wird, die mächtig waren und miteinander verbunden. Unbehelligt von Männern. Sehr lesenswert!

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„Eines Tages wirst du das alles erben“, sagte sie, und das war stets eine Drohung

Die Grossmeer, die Oma des Erzählenden, hat Demenz, sie beginnt, alles zu vergessen – und wer kann sich an ihrer Statt erinnern? Wie weit zurück erinnern, bis zu den Ahninnen vielleicht sogar, mit denen ihre Blutlinie begann? Kim de l’Horizon widmet sich in diesem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman interessanten Fragen – und die Suche nach Antworten geschieht in großen Teilen über die Sprache. Wie linear ist sie, wie geschlechtergerecht? In Spiralen und Kreisen, die sich immer wieder überschneiden, aber manchmal gar nicht begegnen, bricht Kim mit bekannten Erzähltraditionen, und das macht dieses Buch so gut: Es ist neu, es ist anders, es ist sanft und dennoch laut, es geht weit zurück und findet zugleich kein Ende, es dreht sich und wühlt und sucht, konzentriert sich dabei stark auf sprachliche Aspekte, im weiteren Verlauf auch auf Biografien von Frauen durch die Jahrhunderte. Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur hat Kim gesagt: „Es sollte ein queerer Text sein. Und queere Körper wachsen eben nicht linear. Viele von uns haben so zyklische, wiederholte spiralförmige Entwicklungen, in denen sie eben erst hetero aufwachsen und sich dann in verschiedenen Anläufen davon entfernen. Und das war mir auch wichtig, diese Entwicklung formal abbilden zu können.“

Dies ist ein autofiktionales Buch über das Erbe von Generationen und zugleich eine moderne Spiegelung weiblicher Lebensrealitäten, eingeordnet durch nichtbinäres Erzählen. Und das ist das Schöne an Literatur: dass Schreibende einen Raum öffnen für Lesende, bei diesem Roman hat es sich fast angefühlt wie eine Therapiestunde. Es geht um das Aufwachsen als nichtbinärer Mensch, um Geschlechterrollen und das Patriarchat, um Überlieferung und Ichwerdung, und dass immer erst eine sterben muss, damit die anderen anfangen zu reden.    

„Es ist naiv, zu denken, dass die Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen, nichts mit uns machen.“

„Blutbuch“ ist ein durchbrochener, aufgebrochener Roman, an dem nichts klassisch ist. Kim de l‘Horizon zeigt anhand eines Familienverbands auf, wie es sich anfühlt, nonbinary zu sein, macht dadurch auch das Private zum Überpersönlichen, zum Politischen, letztlich zu einer Frage an die gesamte Gesellschaft. Es ist an uns allen, Antworten zu finden.

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„Es war auch ohne zu bekletternde Bühnentrassen nicht leicht, die Kinder überhaupt am Leben zu halten“

Im Jahr 2010 habe ich mein erstes Kind bekommen, und ich weiß noch, dass ich ein Interview mit Judith Holofernes gelesen habe damals, in dem stand, dass sie mit Mann und Band und Kindern tourt, und ich dachte nur: Wie. Warum schafft sie das, und ich schaffe nichts? Zu dem Zeitpunkt war ich noch eine Frau, die sich vergleicht. Als ich jetzt, so viele Jahre später, Judiths Buch lesen durfte, war ich im ersten Drittel so erleichtert. Und berührt. Und traurig und am Weinen. In jedem Satz hab ich mich gefunden, auch wenn ich nicht singen kann und nie ein Konzert gegeben habe, aber: das Muttersein. Das Sich-Aufreiben an allem, der Versuch, es besser zu machen, das Einsehen-Müssen, dass es weit über die eigenen Kräfte hinausgeht. Es fasziniert mich, dass Judith so bereitwillig, ehrlich und gleichzeitig scheu erzählen kann, so bei sich selbst, mit einer Offenheit, die ich mir von vielen Frauen und Müttern wünschen würde, nein, von allen. 

„Über Misserfolg wird kaum jemals geredet. Weniger Erfolg zu haben, als man einmal hatte, ist ein Tabu, besetzt mit schamvollen Bildern von Suff, Dschungelcamps und Auftritten in Möbelhäusern.“

Wo sie Recht hat, hat sie Recht, aber jetzt, nachdem ich alles gelesen habe, was Judith berichtet hat vom Ende der Helden, von ihren Soloalben, von dunklen und hellen Zeiten, möchte ich auch sagen: eigentlich nicht. Vielleicht hat sich nur ihre Art von Erfolg geändert, und die Definition, die wir haben, ist falsch. Darüber habe ich viel nachgedacht, und generell ist dieses Buch eines, das wach macht und reflektiert, dabei aber schelmisch bleibt, fröhlich, auf angenehme Weise zuversichtlich. Und oh, ihr werdet Ohrwürmer bekommen, ihr werdet die Lieder beim Lesen summen, tagelang werden sie euch durch den Kopf gehen, ihr werdet neben dem Umblättern Songs auf eure Playlist legen und sie später im Auto hören. Danke, Judith, für das Verweben von Musik und Literatur. Danke für dieses Buch.

„Aus den Federn, die ich gelassen habe, soll sich irgendwer einen fantastischen Kopfputz basteln.“

Allgemein, Bücherwurmloch

„Jeden Cent, den ich verdiene, verdiene ich trotz meiner Exe, und fast jeden Cent, den sie verdienen, schulden sie meiner unbezahlten Care-Arbeit“

Mein Exemplar von Jacinta Nandis neuem Buch hat sehr viele Eselsohren. Eigentlich wollte ich nach jedem Kapitel „Mic Drop!“ rufen. Und am liebsten, wenn ich ehrlich bin, würde ich alle Menschen mit diesem Buch auf den Kopf hauen. Damit in ihre Gehirne hineingeht, was in diesem Buch drinsteht. Da geht es um Sorgearbeit und alleinerziehende Mütter, um Hartz IV und um die Frage, warum es Frauen verunmöglicht wird, aus gewaltvollen Beziehungen zu fliehen (oder auch einfach nur Beziehungen zu beenden, die sie nicht mehr führen möchten). Ich habe Jacinta beim Festivalkongress zu Care-Arbeit in Göttingen ein Kapitel vorlesen hören, ich habe auch ihr Buch „Die schlechteste Hausfrau der Welt“ gelesen und gefeiert, und weil ich diese Frau so klug, witzig und großartig finde, habe ich sie gebeten, einen kurzen Ausschnitt aus „50 ways to leave your Ehemann“ für euch vorzulesen. 

„Ich glaube nicht, dass Männer nur Täter sind und Frauen nur Opfer. Aber ich glaube, dass der Grund, weshalb so viele männliche Partner ihre Partnerinnen so scheiße behandeln, der ist, dass sie nicht glauben können, dass ihre Frauen sie je verlassen werden. Es ist so leicht für Männer, ihre Frauen scheiße zu behandeln, weil es so schwer ist für Frauen, sie zu verlassen.“

Alles an diesem Buch ist subjektiv, und alles daran ist wahr. Jacinta schreibt ihre eigene erlebte Realität auf, die den Lebensumständen so vieler Frauen entspricht – die von der Gesellschaft systematisch abgewertet werden. Es könnte alles anders sein, und das wäre auch gar nicht so schwer. Lösungen und Möglichkeiten gäbe es genug. Aber dazu müssten wir zuerst einmal hinschauen und uns bewusstmachen, wie misogyn wir wirklich sind und wie sehr wir Mütter im Stich lassen. Dieses Buch leistet einen Beitrag zu dieser Bewusstmachung, und es ist – bei aller Verzweiflung – auch noch schrecklich lustig. Ihr müsst, müsst, müsst es lesen.

„Ich sage denen immer, eigentlich ist Jacinta eine tolle Frau, sie denkt nur, dass fast alle Menschen Rassisten sind, und redet sehr viel über Vergewaltigung.“ „Das hätte ich gern auf meinem Grabstein“, sage ich.

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„Wenn es einem nicht gelingt, dem Körper das Gute zu geben, muss man ihm das Böse geben“

Die 19-jährige Rafa geht von zuhause fort, um als Saisonarbeiterin im Hotel Olympic zu arbeiten, das in den Bergen über dem Dorf Strega liegt und nur über die Seilbahn zu erreichen ist. Mit ihr sind noch acht weitere junge Frauen da, um die Gäste zu bedienen – allein: Es kommen keine. Tagein, tagaus tragen sie ihre schwarzen Uniformen, sammeln die Wäsche ein, machen seltsame Übungen, bereiten sich vor, kochen und backen, aber niemand trifft ein, der bedient werden könnte. Die leere Zeit gibt den Mädchen Gelegenheit, wie Schwestern zusammenzuwachsen.

„Es schien unmöglich, diesem kollektiven Begräbnis zu entkommen.“

Doch dann geschieht das Unvermeidliche: Eine von ihnen verschwindet. Sie suchen und suchen und finden sie nicht. 

„Auch in Gesellschaft seiner Mutter ist man einsam.“

Die schwedische Autorin Johanne Lykke Holm hat ein Buch geschrieben über junge Frauen am Rand der Gefahr – und eine fällt drüber. Sie hat ein Buch geschrieben, das als mystisch und geheimnisvoll gilt, reich an poetischen Bildern, das jedoch in Wahrheit das wirklich sehr, sehr auserzählte Narrativ vom Mädchenmörder reproduziert. Wir kennen es so gut: das unschuldige Mädchen auf der einen Seite, der gierige Mann auf der anderen. Und wir wissen alle, wie es endet. Sprachlich war der Roman nicht so mächtig, wie ich erwartet habe, vielmehr ruhig, sanft, gleichmütig, durchaus schön. Ich habe „Strega“ gern gelesen, und ich fand alles daran überaus erwartbar und vorhersehbar, kein neuer Gedanke, das erschien mir schade, aber vielleicht liegt das auch einfach an meiner Übersättigung. Es ist wahnsinnig schwer geworden, mich zu überraschen, und Johanne Lykke Holm ist es auf jeden Fall nicht gelungen. Trotzdem ein besonderes, sehr eigenes, melodisches Buch.

„Warum haben wir die Männer mitgenommen, was wissen sie schon vom Tod?“

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„Möglicherweise kriecht der Tod mir schon wieder aus den Poren“

Er ist Chefchirurg einer Kinderklinik, ein alternder Mann und ein veritables Arschloch: Bernard Rohr erzählt, was damals passiert ist, als er im OP stand, um die siamesischen Zwillinge zu trennen. Er schmückt diesen Bericht mit viel Misogynie und Sexismus, mit rassistischen und ewig gestrigen Ansichten, seine Aussagen sind Relikte einer Zeit, in der es völlig normal war, dass Männer sich nehmen, was sie wollen. Es hat sie ja auch niemand daran gehindert. Aber Bernard spürt, dass die Zeiten sich ändern, dass er auf dem absteigenden Ast sitzt, dass der Ast vielleicht schon abgebrochen ist und zu Boden kracht. Er will den Kopf oben halten, er will weiterhin Frauen aufreißen und seine Geliebte zu Praktiken zwingen, die ihr keinen Spaß machen, er will wieder Geld haben und Ansehen – stattdessen hat er Propofol. Das man sehr genau dosieren muss, um nicht (wie Michael Jackson) daran zu sterben. Und vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, noch weiterzumachen als großkotzerter Chauvinist in einer Welt, die sich zu einem neuen Verständnis von Männlichkeit entwickelt: indem man sich möglichst oft betäubt.

Ich habe bereits seit „Die Halbwertszeit der Liebe“ eine Vorliebe für die Romane von Corinna T. Sievers und mochte auch „Vor der Flut“ wahnsinnig gern. Weil sie böse sind, diese Geschichten, kompromisslos, entlarvend, schwarzhumorig, bitter. Ich bin Österreicherin, ich liebe das. Und der aktuelle Roman hat mich sehr an meinen eigenen Protagonisten erinnert, Maximilian Wenger aus „Das Licht ist hier viel heller“, und wie viel Spaß es gemacht hat, ihn zu schreiben. Ich kann nur vermuten, dass es Corinna ähnlich ergangen ist: Sie geben guten Stoff ab, diese mittelalten Typen, denen die Geilheit im Gesicht steht, die ihn aber kaum noch hochkriegen. Das zu lesen, ist hart (höhö), man muss sich einlassen auf die Perspektive eines Frauenhassers, der nichts so großartig findet wie sich selbst, aber auch merkt, wie alles um ihn herum zerbröckelt und dass er nicht dagegen ankommt. Erzählt wird nicht von ihm oder über ihn, sondern aus seiner Innensicht, das macht das Ganze grade so fatal. „Propofol“ ist ein Buch über eine (hoffentlich) aussterbende Gattung, ein Abgesang auf die alten weißen Männer. You had your time. Now leave.

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„Aber wenn er etwas aus Geschichten gelernt hat, dann dass man Menschen, die unterwegs Hilfe anbieten, nicht aus dem Weg gehen sollte“

Bird weiß nicht, warum seine Mutter fortgegangen ist. Sein Vater spricht nicht über sie, und auch ansonsten heißt es für Bird: senk den Kopf, schau niemandem in die Augen, weich aus, sei unsichtbar, mach keinen Ärger. Denn Birds Gesicht hat asiatische Züge, und das ist gefährlich: Seit dem PACT – Preserving American Culture and Traditions Act – steht fest, dass China an allem schuld ist, an der Krise, der Arbeitslosigkeit, der Armut. Bird hat das, was man ihm in der Schule erzählt, nie hinterfragt, doch plötzlich bekommt er eine Zeichnung mit Katzen, die an einer tief verborgenen Erinnerung in ihm rüttelt, auf der Straße tauchen rote Worte auf, die auf die „missing hearts“ aufmerksam machen, und Bird weiß, woher diese Formulierung stammt: aus einem Gedicht seiner Mutter. Also tut er, was er tun muss … 

„Wann ist man je fertig mit der Geschichte eines Menschen, den man liebt?“

Celeste Ng, die mit „Was ich euch nicht erzählte“ und „Kleine Feuer überall“ sensationelle Erfolge verbuchen konnte (großartig auch die Serie mit Reese Witherspoon), hat einen neuen Roman vorgelegt, der dystopisch anmutet, so unrealistisch aber nicht ist: Sie thematisiert darin antiasiatischen Rassismus, der im Zuge der Corona-Pandemie grausame Auswüchse angenommen hat. Zensur geht einher mit engmaschiger staatlicher Kontrolle – auch das ist in vielen Ländern an der Tagesordnung. Aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, ist recht heikel, Celeste Ng hat jedoch mit Bird ein sympathisches Kerlchen geschaffen, dem man gern zuhört und auf seiner Reise folgt. Ich fand den Roman ein wenig zu auserklärt, an manchen Stellen hatte ich das Gefühl, dass ein sparsamerer Stil ihn wirkmächtiger gemacht hätte, aber ich kann auch verstehen, dass die Autorin viel zu sagen hatte und sich nicht zurückhalten wollte. Weil dies ein wichtiges Thema ist, das jede Dringlichkeit verdient hat. Ein trauriges, berührendes Buch über das Verstummen und Aufbegehren, über zerrissene Familien und den Hass auf alles „Fremde“. Möge es möglichst viele Menschen zum Nachdenken anregen.  

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„In unserer gegenwärtigen Arbeitswelt gilt es als kaum bemerkenswert, dass es über 80 gesetzlich anerkannte Berufskrankheiten gibt“

Ich finde, die Menschen denken zu wenig nach über die Aufgaben, mit denen sie ihre Zeit verbringen. Es beschäftigt mich, dass alle permanent erschöpft und überlastet sind, viele auch unglücklich, überarbeitet – aber nicht bereit oder in der Lage, das zu sehen. „Wer Karriere machen will, kommt um die Überstunden nicht herum“, sagen sie, „nach dem Burn-out ist er gleich wieder arbeiten gegangen“, sagen sie auch und: „Ich hab schon ewig kein Buch mehr gelesen, ich wüsste nicht, wann“. Sie haben keine Zeit für ihre Freund:innen, keine Zeit für Hobbys. Sie haben keine Zeit, ihre Eltern zu besuchen oder einfach mal nichts zu machen. Wer macht denn schon tatsächlich mal nichts? Sogar wenn wir krank sind, sogar nach Feierabend, beantworten wir E-Mails, sind wir noch erreichbar. Die Grenzen verschwimmen oder es gibt gar keine mehr. Und die Folgen sind verheerend, wir sind müde, wir sind am Ende, wir haben kaum noch Kraft – aber Hauptsache, wir haben eine „Karriere“, wir haben Geld und Erfolg.

„Zeit entsteht zwischen uns, wenn wir sie miteinander verbringen.“

Die bekannte Journalistin Teresa Bücker hat ein Buch geschrieben, das alle wichtigen Gedanken, Fragen und Antworten rund um das Thema Zeit versammelt. Es ist ein übersichtliches, klar formuliertes und sehr durchdachtes Werk geworden, das unsere Leistungsgesellschaft hinterfragt, unsere Aufteilung von Zeit, unsere Bewertung von Zeit. Es geht darin auch viel um unbezahlte Care-Arbeit und ihre Verteilung, um Politik und Kindheit. Es geht um Alltagszeit und Alleinerziehende, um Konsum und Macht – vor allem: um die Verteilung von Macht. Ist Zeit wirklich Geld? Und wenn ja, warum? Wieso lassen wir es zu, dass über unsere Lebenszeit bestimmt wird, warum verlangen wir nicht, dass wir selbst bestimmen dürfen? Und welche Lösungen gäbe es, wie könnte Zeit anders strukturiert werden, wie könnten wir leben? Ein sehr lesenswertes, kluges Buch, für das es wirklich an der Zeit ist.

„Die Erzählung, dass Zeit Geld sei, müssen wir um viele neue Erzählungen erweitern.“

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„Es gibt ein unsichtbares Band, das die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern in dieser Gesellschaft jeden Tag von Neuem miteinander verwebt“

Dieses Buch mit dem reichlich polemischen Titel, den ich gar nicht so gern mag, weil er auf das bekannte Schema „Männer gegen Frauen“ einzahlt, der aber sehr am Punkt ist, hat mich wirklich Nerven gekostet: Ich musste es immer wieder zur Seite legen, weil ich es kaum ertragen konnte. Alles, wovon Boris von Heesen darin schreibt, ist jedem, der sich mit dem Patriarchat beschäftigt, bewusst – aber nicht in diesem Ausmaß. Nicht in Form von Zahlen. Wir wissen, dass Gefängnisse voller männlicher Insassen sind, dass Männer den Großteil der Verkehrsunfälle verursachen, dass sie ein viel höheres Risiko für Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie für Suizid haben als Frauen. Aber wir wissen nicht, was uns das jedes Jahr kostet – uns alle als Gesellschaft. Und das ist eigentlich interessant, denn: Wir leben im Kapitalismus. Das patriarchale und das kapitalistische System sind extrem eng miteinander verzahnt. Wir wollen Geld. Wir wollen Erfolg und Wachstum und Expansion. Wir haben Strukturen erschaffen, in denen Frauen unterdrückt und alle Menschen ausgebeutet werden – auch die Männer. Es ist jedoch so gut wie unmöglich, das aufzuzeigen. Von einer männerdominierten Gesellschaft, so glauben wir, profitiert eben diese eine Hälfte der Bevölkerung: die Männer. Doch das ist nicht wahr. Es geht ihnen schlecht im Patriarchat. Es geht ihnen beschissen. Das lässt sich anhand vieler Fakten beweisen, nicht zuletzt durch die Zahlen, die Boris van Heesen zusammengetragen hat: Diebstähle und ungesunde Ernährung, Klimaschutz und Rechtsextremismus, Sport und Bildungspolitik. Er kommt zu dem Schluss, dass wir dringend etwas ändern müssen – und zwar Männer und Frauen gemeinsam.

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„Die Geschichten suchen den Erzähler aus, nicht umgekehrt“

Hanne hat drei Kinder, alle sind sie aufgewachsen auf der kleinen Nordseeinsel, zu der die Fähre vom Festland eine Stunde braucht. Ihr Mann hat das Haus vor zwanzig Jahren verlassen, um bei den Vögeln zu leben, sie hat es auch ohne ihn geschafft. Aber natürlich war da dieser Groll. Der generell die Stimmung der Inselbewohner zu beherrschen scheint, weil sie dem Meer so viel abgerungen haben, während das Meer ihnen so viel genommen hat. Seit Jahrhunderten herrscht hier das Bild der wartenden Frau vor, die Männer sind auf See, die Männer kommen zurück oder vielleicht auch nicht, ein Kind immer am Rockzipfel, das Leben ist hart und die Arbeit schwer. Hanne hat sich geweigert, so eine Frau zu werden, und wenn sie ihren Sohn Ryckmer vom Steg abholt, muss er mehr oder weniger ins Auto springen, so wenig wartet Hanne auf irgendwen. Tochter Eske hat es von der Insel fortgetrieben und wieder zurückgespult, und Henrik, der Jüngste, gestaltet mit dem, was das Meer ihm schenkt, beliebte Kunstwerke. Die gern von den Touristen gekauft werden, die nicht nur im Sommer die Insel fluten und denen alle zwiespältig gegenüberstehen: Einerseits bringen sie Geld, das dringend gebraucht wird, andererseits sind sie unliebsame Eindringlinge. Und so leben sie in dieser unwirtlichen Gegend, setzen dem Groll die Liebe zum Wasser entgegen, die Liebe zur See und den Wellen, so faszinierend und unbeherrschbar.

„Nicht einmal schreien kann ein Mensch, wenn er im Wasser sterben muss.“

Es ist, glaube ich, große Kunst, einen Roman zu schreiben, der sehr lesenswert ist, obwohl darin so gut wie nichts passiert. Denn mit spannenden Ereignissen kann „Zur See“ nicht aufwarten, im Gegenteil: Recht ruhig ist Dörte Hansens drittes Buch, es erzählt von einer Familie und einem Pfarrer, vom Gehen und Wiederkommen, vom Trinken und Fluchen, vor allem aber natürlich von der See. Es ist ein schöner, sprachmächtiger, naturverbundener Roman, sehr gefühlsklar und sanft, fast resigniert angesichts der übermächtigen Gezeiten, auf schlichte Art poetisch.

„Nichts tut so weh wie diese Kälte, und es gibt nicht einmal ein Wort dafür.“