Bücherwurmloch

„Einem Verständnis dafür, wie es sich anfühlt, ein anderes Tier zu sein, sind wir heute näher als je zuvor …“

„… aber wir haben es anderen Tieren auch schwerer als je zuvor gemacht, überhaupt zu existieren.“

Habt ihr gewusst, dass Schlangen mit der Zunge riechen und ein Wels mit dem ganzen Körper schmecken kann? Dass die Arme eines Kraken teilweise ohne Anweisung vom Gehirn selbstständig auf Erkundungstour gehen können und dass die Rufe der Wale in ruhigeren Zeiten über ganze Ozeane hinweg zu hören waren? Ed Yong erzählt von einer Welt, die unsere ist – und gleichzeitig nicht: Der Wissenschaftsjournalist hat sich der tierischen Sinnesorgane angenommen und zeigt, wie Hummeln Blüten wahrnehmen, dass Vögel sehr wohl riechen können und dass Manatis sich mit den Lippen begrüßen. Dabei berichtet er in der Ich-Form, wie er diese Informationen zusammengetragen und mit welchen Expert:innen er gesprochen hat. Für meine Kinder, mit denen ich dieses Buch teilweise gemeinsam gelesen habe, war es immer wieder erstaunlich, zu erfahren, welche Berufe Menschen haben können: Die einen beschäftigen sich mit Elefantendung, die anderen machen Experimente mit Jakobsmuscheln, um deren Hunderte Augen zu testen. Als Gute-Nacht-Geschichte musste ich filtern, weil das Buch für Kinder freilich zu kompliziert ist – aber sie fanden es so spannend, dass sie trotzdem weiterlesen wollten. Das Fazit ist rasend traurig, denn um die vom Menschen verursachte Umweltzerstörung kommt Ed Yong nicht umhin: Da wir den Lebensraum vieler Tiere verschmutzen und verändern, sind sie bedroht. An viele dieser Veränderungen kann eine Art sich nicht gewöhnen, weil sie zum Beispiel rein organisch nicht in der Lage sind, gewisse Signale zu hören oder zu sehen. Bei über 500 Seiten über die Vielfalt des Tierreichs ist es besonders schmerzhaft, darüber nachzudenken, dass wir Menschen Lebewesen umbringen, die sich über Jahrmillionen entwickelt haben. Ein hochinteressantes, sehr informatives Buch – das euch vieles über Tiere verrät, was ihr garantiert noch nicht wusstet.

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„Da ist noch viel Luft nach oben“

Dies ist ein Buch über Femizide. Das sind Mordfälle, bei denen Frauen getötet werden, weil sie Frauen sind. Fast immer wird die Tat vom (Ex)Partner verübt, nicht von irgendwelchen zufälligen Kerlen im dunklen Park – die wahre Gefahr für Frauen geht von den Männern aus, mit denen sie zusammenleben oder zusammengelebt haben. Österreich führt traurigerweise einige dieser Statistiken an: Weltweit werden Frauen von Männern ermordet, und in Österreich sind wir in Sachen Femizide ganz vorn dabei. Die Journalistin Yvonne Widler wollte herausfinden, warum das so ist. Wann sind wir so dermaßen falsch abgebogen, eine Zeitlang hat es doch ganz gut ausgesehen? Was wurde geändert und wieso wird den Frauen nicht oder viel zu wenig geholfen? Welche Rolle spielen dabei der Staat und die Polizei? Was könnte man besser machen, was müssen wir unbedingt besser machen? Sehr verständlich hat sie das Thema aufbereitet und von der Basis erklärt, sie erzählt von Gesprächen, die sie geführt hat mit denen, die es wissen müssen, mit denen, die zu helfen versuchen, von Recherchen und Besuchen am Gericht. Dazwischen bringt sie wahre Fallbeispiele und berichtet anhand von Tatsachen, was genau Männer Frauen angetan haben – da dreht sich einem beim Lesen der Magen um. Diese Szenen haben mich sehr an den Roman „Gestapelte Frauen“ von Patrícia Melo erinnert, der ebenfalls mit echten, extrem grausigen Berichten arbeitet. So ergänzen sich diese beiden Bücher, ein Sachbuch und ein Roman, auf sinnvolle Weise – beide muss man aushalten können. Aber das ist wichtig, denn wir dürfen uns nicht abwenden, wir dürfen nicht wegschauen, wir haben schließlich selbst dieses System geschaffen, in dem wir leben und in dem so viele, viele Frauen ge- und erschlagen werden, erwürgt und angezündet werden, vergewaltigt und verscharrt werden. Das ist hart, es ist schmerzhaft und bitter, es macht unheimlich wütend. Das soll es auch – wütend genug, dass wir endlich etwas ändern.

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„All die Jahre, in denen ich hätte schreiben sollen, waren meine Hände, mein Selbst mit anderen unentrinnbaren Aufgaben beschäftigt“

Oft wird die Frage gestellt, WARUM denn die Stimmen der Frauen seit Jahrhunderten in der männlich dominierten Literatur fehlen. Wer nach Antworten sucht, stößt auf Tillie Olsen. Wer sich aber nicht mit dieser Thematik beschäftigt, hat wahrscheinlich noch nie von ihr gehört. Und da fängt die Ironie schon an: Diese Autorin, die sich mit dem Verschwinden weiblicher Schreibender beschäftigt hat, ist selbst verschwunden. Jetzt hat der Aufbau Verlag dankenswerterweise ihre Story-Sammlung „Ich steh hier und bügle“ sowie den Essay-Band „Was fehlt“ auf Deutsch herausgebracht (übersetzt von Adelheid und Jürgen Dormagen sowie von Nina Frey und Hans-Christian Oeser). Ich möchte euch beide Bücher dringend ans Herz legen. Vor allem in der Kombination ergeben sie ein stimmiges Bild, ergänzt werden sie von einem Nachwort von Jürgen Dormagen und einem Vorwort von Julia Wolf. Darin enthalten: Informationen zu Tillie Olsens Leben und eine Einordnung ihres vermeintlich schmalen Werks. Warum es bei „nur“ vier Geschichten geblieben ist, die erschienen sind, als Olsen beinahe 50 war, erklärt sich, wenn man ihren Erläuterungen in ihren Essays folgt, von selbst: Care-Arbeit, Lohnarbeit und aktivistische Arbeit (sie war Marxistin und eine Größe der Frauenbewegung) haben ihr die Zeit zum Schreiben genommen, regelrecht geraubt. Dabei hätte sie Erfolg gehabt und später hatte sie auch den Raum dafür, dank verschiedener Stipendien. „Das Schweigen, von dem ich spreche, ist unnatürlich“, schreibt sie 1962, und ja, vielleicht war ihre literarische Stimme tatsächlich verstummt, aber Tillie Olsen hat gelesen. Sie hat recherchiert und geforscht, sie hat gelehrt, unterrichtet und Vorträge gehalten. Flammende, feministische, intersektionale Reden, die ihr nun lesen könnt. Und ich denke nicht, dass das weniger wert ist als Dutzende Romane: Sie, die keinen Schulabschluss hatte, beweist in ihren Schriften Scharfsinn und Weitblick, kann in drei Sätzen brillant erklären, woran das deutsche Feuilleton immer noch scheitert, wenn es „es zählt die Qualität“ murmelt. Do the work!

„Die Wahrheit sagen über die eigenen Erfahrungen als Körper: verboten, unmöglich, jahrhundertelang.“

Lest Tillie Olsen. Lest die Bücher der Frauen, die sie zitiert. Hört hin, schaut hin, seid aufmerksam und offen für einen neuen Blick auf die Literaturgeschichte. Man hat uns nämlich immer nur die halbe Wahrheit erzählt.

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„Ist noch nie ein Vater bei draufgegangen“, sagte der Arzt

Die Familie braucht ein neues Zuhause, weil sie aus der alten Wohnung geworfen wird: So fängt alles an. Also ziehen die Ich-Erzählerin, ihr Mann und die zwei Kinder – später werden es mehr – aus der Stadt in ein günstiges, architektonisch eigenartiges Haus mit Säulen, in dem sie sich bald heimisch fühlen. Mit seltsamen Häusern kennt die Autorin Shirley Jackson sich freilich gut aus: Sie ist eigentlich bekannt für ihre Spuk-Romane. Aber die 1916 geborene Schriftstellerin, die auch für den New Yorker gearbeitet hat, hat eben nicht nur für das Horrorgenre geschrieben – sondern auch für Zeitschriften wie „Good Housekeeping“ und „Mademoiselle“. Sie selbst hat sich abfällig über diese Texte geäußert, so erzählt es die Übersetzerin Nicole Seifert im Nachwort, aber sie wurde dafür gut bezahlt. Alle, die sich mit schreibenden Frauen durch die Jahrhunderte beschäftigt haben, dürfte es überraschen, dass Shirley Jackson den Großteil des Familieneinkommens verdiente, vier Kinder hatte, sich um Haushalt und Ehemann kümmerte – und trotzdem erfolgreich war. Das war (und ist) in dieser Kombination selten, und den hier vorliegenden Geschichten merkt man deutlich an, dass die Autorin weiß, wovon sie spricht.

Es geht um Kindergeschrei und Care-Arbeit, um irrwitzige Dialoge mit dem Ehegatten oder anderen Müttern, um Streiche, zu flickende Hosen und dieses ganze große, liebenswerte Chaos eines Familienlebens. Ich habe gegrinst und genickt, mich an manchen Stellen gelangweilt, und auch das gehört wohl dazu: das Normale, das Alltägliche. Das, wovon kaum erzählt werden durfte und konnte, weil die erlebte Realität von Frauen fast nie Gegenstand von Literatur war. Auch diese Texte galten ja nicht als „Literatur“, und doch: Sie sind es. Sie sind unverblümt und witzig, sie zeigen eine erstaunliche Stilsicherheit, und es ist ein Glück, dass wir sie heute wiederentdecken können, dass sie anders eingeordnet und neu bewertet werden. Ich verstehe gut, warum Shirley Jackson damit eine große Leserinnenschaft für sich gewonnen hat, denn als Frau und Mütter erkennt man sich wieder, hat das Gefühl, eine Verbündete gefunden zu haben in all dem Wahnsinn, nicht so allein zu sein. 

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„Überraschend und doch eigentlich erwartbar ist der Sommer in der Stadt. Ganz so wie der Tod“

Seite eins, und wusch: So ist es passiert, dass ich mich in dieses Buch verliebt habe. Es gab gar keine Möglichkeit, auch nur einmal zu blinzeln, schon waren wir Freunde. Stefanie vor Schulte hat mich auf der Stelle mit ihrer zarten, besonderen Sprache abgeholt, die funkelt und schmunzelt, obwohl sie vom Traurigsten überhaupt erzählt: dem Tod der dreifachen Mutter Johanne. Sie ist fort, und ihr Mann Adam, die Söhne Steve und Micha sowie Tochter Linne können keinen Schritt tun, weder vor noch zurück. Sie versuchen, sich ein Leben umzuhängen wie ein Kleid, sie gehen ins Freibad und ins Altenheim, wo Micha vorliest, sie essen, sie schlafen. Aber in Wirklichkeit treten sie auf der Stelle, und das ruft Ginster auf den Plan, denn die Familie wird beschuldigt, die Trauerarbeit zu verschleppen. Kann der Mitarbeiter des Traueramts da etwas ausrichten? Und muss er das überhaupt?

Dies ist ein Buch, in dem das Wort Seele vorkommt und das trotzdem nicht kitschig ist. Es ist vorsichtig und liebevoll, ein bisschen wild ist es auch, und vor allem wahnsinnig originell. Wie kann Stefanie vor Schulte nur so viele gute Sätze aneinanderreihen, hab ich mich gefragt, die schwer sind von Traurigkeit und dabei gleichzeitig zu lächeln scheinen? Es ist mir ein Rätsel. Wunderbar komponiert ist dieser Roman, sehr fein, sehr klug, ein Stück wertvolle Literatur, das man so schnell nicht vergisst. Ich habe ihn innerhalb weniger Stunden inhaliert, mich darauf gestürzt mit dem Hunger jener, die von all den anderen Büchern nicht satt werden, weil immer etwas fehlt. Hier ist alles rund, schmerzhaft und dennoch leicht, eine Wundertüte von einem Roman, der überhaupt nichts will und dabei alles kann. Für mich definitiv eins der besten Bücher dieses Jahres.

„Denn hat man ein Herz, ist man schon verloren.“

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„Man kann von niemandem verraten werden, dem man nicht zuvor vertraut hat“

Im Jahr 1791 wird die Apothekerin Nella von der 12-jährigen Eliza aufgesucht, denn Eliza braucht ein Gift. Sie kommt im Auftrag ihrer Herrin, und schon am nächsten Morgen ist deren Gatte tot. Nella hat die Apotheke von ihrer Mutter übernommen, die nicht hätte ahnen können, dass ihre Tochter einst in einem Geheimversteck tödliche Pulver herstellen und ein kleines Büchlein mit Namen und Daten füllen würde: Namen von Auftraggeberinnen, Sterbedaten von Männern. Sie hilft nur Frauen, und sie tut es im Verborgenen, trotzdem ist die Gefahr groß, verraten zu werden und am Galgen zu hängen. Als Eliza sich zu Nellas Assistentin machen will, lehnt diese vehement ab, um das Mädchen zu schützen. Doch die beiden ahnen nicht, wie nah ihnen die Schergen bereits sind. In der Gegenwart kommt Caroline nach London – allein statt, wie geplant, mit ihrem Ehemann. Der hat sie nämlich betrogen, und zu allem Übel weiß sie nicht, ob sie schwanger ist. Bei einer Gruppen-Schatzsuche an der Themse entdeckt sie ein kleines Apotheken-Fläschchen aus dem 18. Jahrhundert und macht sich neugierig daran, mehr herauszufinden.

„Die Geschichtsschreibung mochte diese Frauen vielleicht vergessen, ich würde es nicht tun.“

Ich hab das Buch unaufgefordert zugeschickt bekommen, wollte nur mal kurz hineinschauen – und hab mich sofort festgelesen. Es ist flott geschrieben und flüssig erzählt, es ist das, was gern despektierlich „Frauenunterhaltung“ genannt wird, aber oh boy, es hat einen amüsant-feministischen Kern. Auf der einen Seite der historische Aspekt: Frauen, die von Männern so sehr misshandelt und unterdrückt werden, dass sie sich ihrer entledigen, auf der anderen Seite eine moderne junge Frau, die durch ihre Beschäftigung mit der Vergangenheit erkennt, dass sie ihre Träume aufgegeben hat für einen Mann, der nichts Besseres zu tun hatte, als mit der Nächstbesten ins Bett zu gehen. Oft genug wird dem Genre angekreidet, dass es Frauen in den Narrativen kleinhält, weil sie nur ein kleines Café haben dürfen, statt CEOs zu sein, weil sie sich doch wieder nach einer heterosexuellen Beziehung sehnen, dem Ritter in schimmernder Rüstung. Dieser Roman ist anders, die Frauen sind unabhängig und klug, eine Beziehungsanbahnung hat keine von ihnen im Sinn, und wenn Feminismus in einer solchen Verpackung kommt, count me in! 

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„Männer müssen anfangen, sich ihrer Privilegien, die sie aufgrund ihres Geschlechts haben, bewusst zu werden“

„Du darfst wütend sein!“, schreibe ich seit März in jedes Exemplar meines Romans, das ich signiere. Und dann hab ich gemerkt: Die Stefanie Reinsperger hat ein ganzes Buch zu diesem Satz geschrieben. Und was für ein kraftvolles Buch! Nach nur wenigen Seiten fängt es in mir an zu prickeln und zu wurln, weil da so viel Kraft und Emotion und Wucht rüberkommen – ihr Buch ist ehrlich gesagt wie die Steffi selbst. Jetzt fragt ihr euch wahrscheinlich, woher ich das wissen will. Die Sache ist: Diese Wutschnur, dieses Gefühl des berechtigten Zorns, hat uns beide zusammengeführt. Wie das passiert ist? Zuerst hat Stefanie meinen Roman gelesen, und weil der sie so entzündet hat, hat sie ihn an eine Produktionsfirma herangetragen (eigentlich sogar an zwei), die dann auf die Filmrechte geboten hat. Nach einigem Hin und Her zur Entscheidung war für mich klar: Ich möchte mit dem Team aus Frauen gehen, die für die Geschichte brennen, die Wutschwestern sind und das Ganze gemeinsam entwickeln wollen. Da ging es auch darum, ihnen etwas zuzutrauen, und als ich Stefanie kennengelernt hab, hab ich sofort gemerkt: Ihr trau ich das zu. In Wien sind wir dann an einem Tisch gesessen, sie und die Theaterregisseurin und ich, und da hab ich gedacht, wie dankbar ich meinem Roman bin, dass er mich mit all diesen Frauen zusammengebracht hat an unterschiedlichen Orten, die dasselbe denken und fühlen und mit denen es immer innerhalb von Sekunden eine ganz tiefe, sehr eigene Verbindung gibt. Erst danach hab ich „Ganz schön wütend“ gelesen, und es war noch wie das letzte Puzzlestück: Hier hat Steffi aufgeschrieben, wie es in ihr gewachsen ist, dieses Wutgefühl. Welche Menschen dazu beigetragen haben und warum. Wie das eigentlich damals war als Buhlschaft in Salzburg. Wieso sie genug hat von den Übergriffen auf ihren Körper, den die anderen als nicht schön genug einstufen. Diese Frau ist wunderbar und mutig und wild und pur, und ihr Buch ist es auch. Es wird euch nicken lassen und wie eine verständnisvolle Freundin mit euch am Tisch sitzen. Es ist ehrlich und direkt, ungeschönt und dabei so wahr. Ich freu mich auf alles, was Stefanie und ich in Zukunft gemeinsam machen werden. Auf alles, was aus der Wut entstehen wird.

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Bestimmt habt ihr schon oft gehört, etwas „sollte Schullektüre sein“. Nun, bei diesem Buch trifft das zu: Wie anders wäre wohl unsere Gesellschaft, würden wir uns schon in jungen Jahren – und ernsthaft – mit der Verteilung von Geld und Macht, mit Gender und Rassismus beschäftigen? Es gibt so viel zu lernen und zu wissen, und ich bin empört, dass ich mir viele Jahre nach meiner patriarchal geprägten Schulbildung alles selbst aneignen musste, als würde ich ein unglaublich aufwendiges, „nebenbei“ laufendes Studium absolvieren, Stunden über Stunden saß ich da mit Büchern, Stift, Notizheft und Google. Fast alles, was ich damals gelernt habe, ordne ich heute anders ein. Wie sehr würde ich mir für meine Kinder wünschen, es hätte sich in der Zwischenzeit etwas verändert, doch das ist nicht einmal annähernd der Fall. Deshalb sind Bücher wie dieses so wichtig. Ich bin froh, dass ich vieles, was darin steht, schon wusste, weil es mir zeigt, dass die Jahre des Lesens und Lernens gefruchtet haben, und ich hab mich gefreut, dass vieles neu für mich war – weil ich bereit bin, die Arbeit auch weiterhin zu tun. Ich will das, was mir vorenthalten wurde. Ich will Arbeit, Wissenschaft und Familie „unlearnen“, ich will Denkmuster aufspüren und ablegen, ich will herausgefordert werden und neugierig sein dürfen. Ich will Aha-Momente und noch mehr Fragen. Um Technologie geht es in diesem Buch und um die Klimakrise, um Identität und Klassismus, um unser Zusammenleben in jeder Hinsicht. Lisa Jaspers, Naomi Ryland und Silvie Horch haben Beiträge und Essays von 15 Autor:innen versammelt, die eine ausgewogene Mischung aus Persönlichem und Informationen bieten. Teresa Bücker gehört dazu und Linus Giese, Madeleine Alizadeh genauso wie Kristina Lunz. Die Bandbreite des Buchs deckt aktuell relevante gesellschaftliche Themen sehr gut ab, es ist als Einstieg bestens geeignet, gibt aber auch fundierten Feministinnen interessante Denkanstöße. Und es sollte, nun ja, Schullektüre sein.

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„Meine Mutter existiert im toten Winkel dieser Theorien“

„Betrachtet man die Biografie meiner Mutter genauer, wird plausibel, warum eine Frau wie sie sich nicht dem Klassenkampf, den großen geschichtsphilosophischen Deutungen des Antagonismus von Proletariat und Bourgeoisie verschrieben hat: Sie hatte zu viel zu tun.“

Wenn ich auf Bühnen und in Interviews über meinen aktuellen Roman spreche, sage ich, dass ich mich viel später entschieden gegen meine patriarchal geprägte Schulbildung gestemmt und mir mühsam vieles angelesen und angeeignet habe: Das gilt immer noch. Wie in einem Privatstudium lese ich Sachbuch über Sachbuch, ausschließlich von Frauen, und alle regen sie mich zum Denken an, Marlen Hobrack ganz besonders: Aufmerksam und interessiert habe ich mich mit ihrer Analyse beschäftigt, die sie, ausgehend von ihrer eigenen Geschichte bzw. der ihrer Mutter, über die ganze Gesellschaft zieht. Wie sie vom Persönlichen ins Politische geht, wie beides sich überschneidet und gegenseitig bedingt, finde ich gut gemacht und nachvollziehbar. Sie schreibt offen, ungeschönt, sie schreibt von innen als Tochter dieser Mutter, aber auch von außen, als Journalistin, als Frau mit Zugang zu Bildung, Wissen, Theorien über Patriarchat und Klassismus. Ihre Mutter, die seit frühester Jugend hart gearbeitet hat, hat dieses Wissen nicht. Sie ist Auslöser und Grund vieler Debatten, ohne je daran teilzunehmen. Ich gebe Marlen Hobrack Recht: Der Feminismus darf die Arbeiterfrauen nicht „übersehen“. Aber auch – genauso wichtig – nicht die Männer. Das ist ein Punkt, in dem ich mit der Autorin übereinstimme: dass die Bilder vermeintlicher Männlichkeit, die wir Männern aufpressen, für die Arbeiterklasse nicht zutreffen, nie zugetroffen haben, ich behaupte sogar: Es gibt in Wahrheit überhaupt keine Männer, für die sie stimmen (und stimmen sollten). Bei anderen Punkten würde ich ihr heftig widersprechen, vor allem was die Frage nach bezahlter/unbezahlter Care-Arbeit angeht, und genau das ist so spannend: Es muss kein Konsens herrschen bei diesen Themen. Wichtig ist, dass sie auf den Tisch kommen, dass wir darüber reden, dass wir uns daran abarbeiten, um für uns alle etwas zu verbessern. Marlen Hobracks Buch kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

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„Man muss Abstriche machen, wenn man Geld verdienen will“

Wie viel Geld ist genug? Das hat Mareice Kaiser ganz unterschiedliche Menschen gefragt: solche, die Geld haben, und solche, die keines haben. Wie viel Kapitalismus ist genug?, könnte auch eine Kernfrage des neuen Buchs der Journalistin und Autorin lauten, die sich mit Armut, Reichtum und der Verteilung von beidem beschäftigt hat. Ihr Zugang ist dabei ein persönlicher, denn mit Geld fühlt sie sich unwohl. Sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, hat nie studiert, hat nie die Codes gelernt, die man braucht, um sich in feinen Restaurants, im Theater, in teuren Hotels bedenkenlos zu bewegen – und das macht was mit ihr. Was genau, wollte sie untersuchen, und sie hat sich ihrer eigenen Herkunftsgeschichte gestellt. Wie ist das, wenn nie Geld da ist, welches Verhältnis bekommt man dann dazu? Von diesem Ausgangspunkt hat sie sich auf die Suche gemacht nach Leuten, die verbeamtet sind oder Flaschen sammeln müssen, um über die Runden zu kommen, die viel verdienen oder wenig – und hat mit ihnen gesprochen. Wer sollte mehr Geld haben? Und was würde das verändern?

Ich mag es, dass Mareice Kaiser so schreibt, dass alle verstehen können, worum es geht. Das ist gerade bei einem solchen Thema wichtig, denn allzu oft wird über Wirtschaftssysteme, Umverteilung und Kapitalismus auf einem Niveau gesprochen, wo nur noch wenige folgen können – dabei ist jede:r Einzelne von uns betroffen. Ich hab diese Geschichten gern gelesen und selbst intensiv über mein Verhältnis zu Geld nachgedacht, das immer schon eher ungewöhnlich war, weil ich in meinem ganzen Arbeitsleben nie fest angestellt war. Wichtig ist aber nicht nur, dass wir nachdenken, sondern auch, dass wir miteinander reden – viel offener, als wir das bisher tun. Es heißt ja, das Tabu, nicht zu sagen, wer wie viel verdient, soll das Ungleichgewicht verbergen: Damit Menschen, die weniger bekommen (etwa Frauen), das nicht merken. Lasst uns das ändern! Dieses Buch macht den Anfang.