Bücherwurmloch

„Kannst du glauben, dass die jungen Männer solches Wissen einfach in den Schoß geworfen bekommen, auch dann, wenn sie nicht einmal besonders viel davon begreifen? Wohingegen auch der klügsten Frau jeder Unterricht in akademischen Fächern verwehrt bleibt.“

Dies ist ein Buch über Helene Lange, die das Bildungswesen für Frauen reformiert hat – und deren Name trotzdem (ist das nicht schön ironisch) den meisten nicht bekannt ist. Die deutsche Autorin Sanne Jellings möchte das mit dieser Romanbiografie ändern und erzählt die an wahre Begebenheiten angelehnte und mit fiktiven Elementen gefüllte Geschichte der 16-jährigen Helene, die als Waise in ein Pfarrhaus an der Schwäbischen Alb kommt. Sie begegnet der Pfarrerstochter Marie, die unverheiratet bleiben und sich später um die Eltern kümmern soll, jedoch vom gutaussehenden Ludwig umgarnt wird. Beiden Mädchen fällt auf, dass ihre männlichen Altersgenossen Zugang zu Bildung haben, sie selbst aber nicht. Und während Marie nach einem Akt der Gewalt für diese Welt verlorengeht, entscheidet Helene sich dazu, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

„Ich bin nicht dazu ausersehen, eine eigene Meinung und eigene Wünsche zu haben. Man fragt eine Kuh ja auch nicht, ob sie gerne Milch gibt.“

Ich finde dieses Buch wichtig: Es gibt einer Frau Raum, die wir vergessen haben, während wir Männern ständig Denkmäler bauen. Es dokumentiert historische Ungerechtigkeit und Schritte der weiblichen Emanzipation. Ich hatte aber auch Probleme mit dieser Romanbiografie, weil ich sie viel zu erklärend und plakativ fand. Ich mag es außerdem nicht, wenn das Ende am Anfang vorweggenommen wird. Und das, was sich die Autorin als Grund ausgedacht hat dafür, wie Maries weiterer Lebensweg verläuft, sollte zumindest zum Nachdenken anregen: der mächtige Mann, das weibliche Opfer? Ich will nicht spoilern, aber mir ist das zu einfach, zu klischeehaft auch. Aber: Gut, dass es Helene Lange gab. Und dass sie Schulen für Frauen gegründet hat. 

„Was ein Mädchen fühlt und denkt, bedeutet nicht viel. Sie erblüht erst durch den Mann zu dem, wozu sie bestimmt ist.“

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„Die Extravaganzen und die Ausnahmen, die Verheißungen“

Es ist Frühling, und es rührt sich was: Die Schriftstellerin fühlt sich gut, der Liebhaber ist jung und willig. Oder doch nicht so willig, denn er verlässt sie, und das hat vor ihm auch schon der Ehemann getan: ist auf Geschäftsreise gegangen und nicht mehr zurückgekommen, hebt nicht ab, wenn sie ihn anruft. Das ist einerseits ein bisschen traurig, andererseits gut, denn da draußen sind schließlich noch viele andere Männer und Frauen, mit denen es sich in den Frühling reiten lässt. Jovana Reisinger, die Queen der offenen Worte, hat eine autofiktionale Annäherung an die Jahreszeiten, den Sex und das Patriarchat geschrieben. Denn kommt erst einmal der Sommer, wird es hot – in jeder Hinsicht. Hier darf ausgiebig geleckt, geschmust und gevögelt werden, jede und jeder so, wie sie und er mag. Dieses Buch ist horny und frei und ehrlich und nass ist es auch. Und wem da ein kitzelndes Unbehagen aufsteigt, wer sich da fragt: dürfen die das denn, ist das nicht unschicklich irgendwie, so als Frau, der möge sich daran erinnern, dass wir seit Jahrhunderten ausführliche Prostataprosa von Männern lesen, in all ihren anzüglichen Varianten. Jovana hat sich einen Namen gemacht als Tussi-Feministin und zeigt, dass auch Barbie-Nägel und pinke Minikleider abgestaubt und befreit werden müssen: weil Frauen sich anziehen dürfen, wie sie wollen, weil sie Klischees erfüllen oder bekämpfen dürfen, damit spielen, sie brechen und aufzeigen, vor allem aber, dass sie sich wohlfühlen sollen und ihr Style nichts über ihre feministische Einstellung aussagt. Ihre Werke sind in ihrer Überspitzung herrlich entlarvend und in ihrem bitteren Witz nicht zu übertreffen. I very much enjoyed this book.

Bücherwurmloch

Dieses Buch hat zwei Erzählstränge, die zeitlich nicht übereinstimmen, am Ende aber zueinanderfinden: Zum einen gibt es Harry, den eher erfolglosen Künstler, der aus London hinaus in ein Haus auf dem Land fährt, als für ihn überraschend eine Pandemie ausbricht, die alle Menschen tötet. Sie geht zurück auf Keime, die durch den Klimawandel aus dem auftauenden Permafrostboden gekommen sind und gegen die kein heutiges Immunsystem bestehen kann. Zu ihm stoßen zwei junge Frauen, die eine davon war seine Nachbarin. Die drei scheinen die letzten verbliebenen Menschen zu sein und machen sich auf den weiten Weg raus aus Europa, weil sie fürchten, dass die unbetreuten Atomkraftwerke bald in die Luft fliegen werden. Zum anderen gibt es ein wissenschaftliches Zweierteam, bestehend aus Paul und Lisa, die an und mit der künstlichen Intelligenz Thalos XI arbeiten. Thalos soll, sobald fertig programmiert, berechnen und vorhersagen können, was der Menschheit so alles zustoßen könnte. Aber je mehr Thalos lernt, umso mehr verweigert er sich dem, was Paul und Lisa von ihm wollen.

„Under the blue“ ist ein beunruhigend realistischer Roman, der 2021 veröffentlicht wurde, also mitten in Zeiten der Pandemie. Die Autorin hat die realen Ereignisse verschärft – im Buch kann niemand überleben – und mit der Klimakatastrophe, die auf uns zukommt, kombiniert. Ich muss gestehen, dass ich Harry als Protagonisten sehr langweilig fand, er gibt als Figur wenig her und ist nicht sonderlich interessant. Dieser Erzählstrang ist stark geprägt von Bekanntem: der Roadtrip durch verseuchtes Gebiet, das haben wir bereits tausendmal gelesen und gesehen, da hab ich ehrlich gesagt einiges nur quergelesen. Interessanter fand ich die Dialoge und Gespräche zwischen der Wissenschaftlerin und der künstlichen Intelligenz Thaloy XI. Auch da kommen freilich die Aspekte durch, die wir gern erzählen: die menschliche Angst, einen Computer zu erschaffen, der am Ende klüger ist als wir. Insgesamt ergibt das keinen spektakulär neuen, aber doch einen ganz lesenswerten dystopischen Roman.

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„Sie denkt, dass nicht einmal die besten Mütter der Welt ihre Töchter immer retten können“

Jeanette und Gloria verbindet nichts, sie sind nur Nachbarinnen. Als Gloria eines Tages von der Einwanderungsbehörde abgeholt wird, steht ihre Tochter Ana verloren vor der Tür. Jeanette, die mit dem Drogenentzug und der Trennung von ihrem Mann kämpft, lässt sie herein, bereut diesen Samariter-Move jedoch sehr bald und verständigt die Polizei. Als Ana mitgenommen wird, versteckt Jeanette sich im Bad. Erzählt wird diese Geschichte abwechselnd von verschiedenen Frauen in unterschiedlichen Jahren, allerdings ist der Zeitsprung nur am Anfang groß: Als Erste berichtet Maria Isabel 1866 von ihrer Arbeit in der Zigarrenfabrik, vom Aufstand und der Geburt ihrer Tochter, die Geschichten der anderen Frauen, ihren Erbinnen, sind in den 2010er-Jahren angesiedelt. Es geht darin um Migration und Einsamkeit, um Familienverbände und die Last, die Mütter oft an ihre Töchter weitergeben.

„Eine Münze wird geworfen, und wir werden geboren.“

Mir hat die erste Erzählung von Maria Isabel so gut gefallen, dass ich gedacht habe: Wow, was für ein Buch! Und den Rest der Zeit habe ich darauf gewartet, dass die Autorin zu ihr zurückkehrt, aber das hat sie nicht getan – und ich war enttäuscht. Überhaupt war mir die Verknüpfung zur Ahnin, von der sie einfach nur abstammen, viel zu dünn nach diesen starken ersten 40 Seiten. Jeanette und Gloria haben es bei Weitem nicht geschafft, mich so zu fesseln wie ihre Vorfahrin aus Kuba, ich fand ihre Perspektiven gut geschrieben und ihre Gefühle legitim, wenn auch sehr auserzählt – das Mädchen, das aus Langeweile und wegen dem übergriffigen Stiefvater drogensüchtig wird, die Mutter, die ihr nicht glaubt und nicht hilft, die andere Mutter, die ein besseres Leben sucht … das ist alles wichtig und korrekt und genauso erzählt wie immer, und so hat der Roman mir ganz gut gefallen, mich aber nicht restlos überzeugt.

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„We don’t look like anybody in these books. And nobody looks like us“

Ich mag Bücher, die in der ersten Person Singular geschrieben sind. Dieses eingeschworene „Wir“ macht so einen angenehm gespensterhaften Eindruck – wir im Kollektiv, wir die Toten, die alles wissen – und scheint mich gleichzeitig miteinzuschließen. Daphne Palasi Andreades erzählt in ihrem wohl autofiktional gefärbten Buch vom Aufwachsen in Queens, New York. Die brown girls gehen dort zur Schule, werden ermahnt von ihren Müttern, probieren Klamotten in Umkleiden an, singen Mariah Carey und schwören einander ewige Freundschaft. Sie machen alles richtig, sie halten sich an die Regeln – damit sie ein gutes Leben haben, später. Sie gehen an die Uni und finden Jobs und ermordet wird nur eine von ihnen, sie bekommen Töchter und geben an sie weiter, was sie selbst gelernt haben.

„Brown Gils“ ist ein sprachmelodisches Buch mit kurzen Kapiteln, das in seinem eigenen Beat sehr straight geradeaus läuft. Abzweigungen gibt es keine, Überraschungen ebenfalls nicht. Und ehrlich gesagt auch kaum Handlung. Das ist aber nicht weiter dramatisch, weil Daphne Palasi Andreades uns einen Einblick verschafft in die Gefühlswelt und die erlebte Realität von Mädchen, die in den USA geboren sind und trotzdem dort nicht hinzugehören scheinen, die Rassismus erleben und Mikroaggression, die von weißen Jungs träumen und sich gleichzeitig dafür schämen. Es ist ein überbordendes, lebhaftes, rhythmisches Buch, sehr besonders.

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„Wenn man euch nur in Frieden leben und sterben lassen würde“

„Wale kümmern sich weder um Hoffnung noch um Hoffnungslosigkeit, und auch nicht um Stress. Sie kümmern sich darum zu leben, jeden Atemzug zu nehmen, wie er kommt. Sie bleiben in Bewegung.“

Als ihr Sohn Max zwei Jahre alt war, lebte Doreen Cunningham nach einem Sorgerechtsstreit mit ihm in einer Schutzunterkunft für Frauen. Sie versuchte, sich als freie Journalistin für Umweltthemen über Wasser zu halten, und dann tat sie plötzlich etwas Unerwartetes: Sie nahm einen Kredit auf, räumte das Zimmer im Frauenhaus und ging – in zwei Etappen – mit ihrem Sohn auf eine weite und durchaus gefährliche Reise. Sie wollte mit ihm die Wale sehen, den Walen folgen, sie singen hören.

„Wir haben dem Meer gelauscht. Dieses Buch ist das, was ich gehört habe.“

Doreens Bericht ist nicht unbedingt chronologisch, immer wieder dazwischen erzählt sie davon, wie sie bereits Jahre früher, als sie noch kinderlos und jung war, auf Reisen war und die Wale getroffen hat. Nicht nur sie, auch verschiedene Menschen, darunter einen Mann, mit dem sie nicht zusammensein konnte oder wollte, Angehörige der Inupiat, die seit jeher vom Walfang leben. Dies ist ein Buch über das Gleichgewicht der Natur, das vom Menschen zerstört wird, über Mutterschaft, über Scheitern und Hoffnung und dass wir alle nicht so genau wissen, wie wir es machen sollen, dass wir es aber versuchen, wieder und wieder. Ich fand „Der Gesang in den Wellen“ sehr schön und manchmal sehr langweilig, aber gerade das hat mir irgendwie gutgetan, es braucht nicht immer Action, Spannung und schnelle Schnitte. Vielmehr ist es ruhig und friedlich und klug wie die Wale selbst. Auf jeden Fall lesenswert.

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„niemand steht über den Dingen
wir stehen alle mittendrin“

Sirka war eine der Ersten, denen ich jemals auf Instagram gefolgt bin, ich mag seit Jahren ihren kreativen, ernsten, ehrlichen Content, die Postkarten, die sie macht, ihre Offenheit zu mental health, und wie das immer so ist bei virtuellen „Beziehungen“: Man hat irgendwie das Gefühl, der Person nahe zu sein, sie zu kennen. Das ist natürlich Blödsinn, und dennoch hab ich mich sehr auf Silkas Gedichtband gefreut. An ihrer Lyrik liebe ich, dass sie klar ist und konzentriert und gleichzeitig gewitzt: Wer glaubt, zu wissen, was in der nächsten Zeile steht, wird garantiert überrascht. Die Gedichte sind nicht rührselig und trotzdem emotional, können ein winziges Gefühl so gut in Worte fassen, dass ich vor Ehrfurcht staune. Sie sind bitter und hoffnungsfroh, unvorhersehbar und logisch. Ein Tanz mit Silben, bei dem Bilder entstehen und sich kleine Schmerzpunkte melden, von denen man längst vergessen hat, dass sie existieren. Ein schönes, schmales, liebenswertes Buch.

„wenn der apfel die umarmung ist
bin ich der wurm der ihn zerfrisst“

Bücherwurmloch

Ich hab dieses Buch nach meiner Lesung in Innsbruck von einer Zuhörerin geschenkt bekommen und gedacht: Matriarchale Märchen, aha? Herausgegeben hat es die Burschenschaft Furia, die aus Frauen besteht – und sich aufgemacht hat, das Patriarchat zu stürzen. Als ich dann beschlossen habe, die Märchen gemeinsam mit meinen Kindern zu lesen, hat für uns eine wirklich lustige und interessante Schlafenszeit begonnen: Jeden Abend haben wir uns zwei der Märchen gegönnt, und jedes Mal hatten wir dabei richtig viel zu bereden. Während meine Tochter viel gelacht hat, hatte mein Sohn sehr zu kämpfen, denn in „Die lodernde Lotte“ wird mit allem gebrochen, was wir kennen: Da gibt es Königinnenreiche und mutige Kämpferinnen, schwache Jünglinge und zarte Buben, die nur zum Gemahl genommen werden, wenn sie häusliches Geschick beweisen. Mehr als einmal hat mein Sohn gerufen: „Aber warum sollen die Männer denn immer nur heiraten und Gold spinnen und folgsam sein?“ Das war ein guter Anlass, um darüber zu sprechen, dass genau das (nicht nur im Märchen) von den Mädchen erwartet wird. Gestritten haben wir dabei auch, keine Sorge – und das ist okay. Wie patriarchal unsere altbekannten Märchen tatsächlich sind, fällt erst dann so richtig auf, wenn alles daran umgedreht wird – und wie hervorragend haben die Autorinnen das gemacht! Allein die erste Geschichte, angelehnt an das Sterntaler, hat mir sehr gefallen: Es ist nur drei Seiten lang, schließt aber ganz raffiniert den Gedanken der Selfcare ein und hält ein Augenzwinkern in Richtung Fettphobie bereit. Ich hatte großen Spaß, zum Beispiel mit dem Frosch, der Menstruationsneid hat, oder mit dem Titel „Gretel und ihr Bruder“. Dazu haben wir über die Medien gesprochen, die sehr oft „Herr xy und seine Frau“ schreiben – was meinen Kindern bis dahin gar nicht so bewusst war. In diesem Sinne bin ich der Burschenschaft Furia doppelt dankbar: zum einen für das wunderbare Lesevergnügen, zum anderen für die vielen Gesprächsanregungen. 

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„Es war kein beklemmendes Nichtssagen, sondern vielmehr ein zartes Denken im Duett“

Ich möchte eines gleich vorwegschicken: Die in diesem Band versammelten Erzählungen gehören zu den besten, die ich seit langer Zeit gelesen habe. Sie sind wundervoll, lustig, anrührend und einfach großartig. Ich mag es, wenn gute Short Storys für sich stehen, mit einer Verwirrung aufhören und mich verblüfft stehenlassen, genauso mag ich es aber auch, wenn ich in einem Buch mit Kurzgeschichten immer mal wieder zu den Figuren zurückkehren und erfahren darf, was weiter mit ihnen geschieht – das ist hier teilweise der Fall, und die subtile Verstrickung ist absolut gelungen. Da gibt es beispielsweise Barbara, die den Kühlschrank putzt und über ihren Sauhund von Ehmann nachdenkt, Kirsten, die es bereut, Kinder bekommen zu haben, Maxi, die sich die Haare blau färbt und ihrem Freund was sagen muss, und Paula, die einen Schrank vom Balkon wirft, während vielleicht jemand drunter steht. Verschiedene Frauenperspektiven, Frauenstimmen, Frauenblicke auf die Welt – die manchmal aneinander vorbeigehen und sich manchmal treffen. Es geht um Trennungen, Abschiede und das Älterwerden, es geht um Mutterschaft und das Alleinsein, um Hoffnung und das Schwimmen in kaltem Wasser. Es ist eines dieser Bücher, das so nah an den Frauen bleibt, dass ich mehrmals gedacht habe: Danke dafür. Danke, dass das geschrieben und verlegt wurde, denn das sind exakt die weiblichen Storys, die sonst so oft fehlen. Ich war begeistert, weil ich so einen Spaß beim Lesen hatte, oft geschmunzelt habe und die Geschichten auf angenehmste Weise nett, aber auch herrlich ironisch fand. Etwas Sarkastisches blitzt immer durch, und sprachlich sind sie fein ausbalanciert. Ich möchte jetzt auch unbedingt Sybil Schreibers ersten Erzählband „Sophie hat die Gruppe verlassen“ lesen und hoffe, er ist genauso gut. Große Empfehlung meinerseits!

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„Das Frausein verschmolz mit dem weiblichen Geschlecht und wird darauf reduziert“

Als ich dieses Buch das erste Mal in der Hand hielt, dachte ich: Oha, ganz schön dick. Als ich anfing, es zu lesen, dachte ich: Ja, natürlich ist das dick. Denn Elinor Cleghorn – promovierte Kulturhistorikerin und Feministin – beginnt ganz am Anfang, und die Geschichte der sexistischen Medizin geht genauso weit zurück wie die Geschichte der Medizin an sich. Die Autorin hat selbst ein Autoimmunerkrankung und beschäftigt sich aus dieser persönlichen Motivation heraus mit dem Leidensweg kranker Frauen, die von Ärzt:innen nicht ernstgenommen, falsch diagnostiziert oder gar nicht behandelt werden. Die Reise ins Innere der misogynen menschlichen Medizin beginnt im antiken Griechenland, geht durch das Mittelalter und das 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit, in der sich manches geändert hat, aber so viel dann auch wieder nicht. Von Anfang an wurde der weibliche Körper auf das einzige Organ reduziert, das ihn für die Gesellschaft „interessant“ machte: den Uterus. Was Frauen durch die Jahrhunderte Schreckliches zugeschrieben und Furchtbares angetan wurde, ist kaum zu ertragen.

„Wenn die Bevölkerung wieder wachsen sollte, galt es, Frauen – deren Körper ein „schwaches Werkzeug“ für Empfängnis, Geburt und neues Leben war – zu prüfen, zu regulieren und zu kontrollieren.“

Dies ist ein umfassendes, wichtiges Werk, das zeigt, dass wir nicht irgendwo falsch abgebogen sind, sondern von Anfang an in die falsche Richtung unterwegs waren. Das zu lesen, ist heftig, schmerzhaft, nervenaufreibend und macht wütend. Es ist aber auch ganz simpel ein Beweis für alle Frauen, ein schriftlicher Beweis, dass wir nicht verrückt sind, dass die Ungleichbehandlung, die wir erleben, real ist. Sich zu wünschen, es könnte ein Standardwerk in der Ausbildung von medizinischem Personal werden, ist natürlich müßig, aber ich denke, dass alle diese Bücher, die nun erscheinen, zumindest an den patriarchalen Strukturen nagen. Sie legen schriftlich Zeugnis ab, schreiben die Geschichte so, wie sie wirklich war – und geben uns vor, was wir ändern müssen. Sehr lesenswert!