„All die Jahre, in denen ich hätte schreiben sollen, waren meine Hände, mein Selbst mit anderen unentrinnbaren Aufgaben beschäftigt“
Oft wird die Frage gestellt, WARUM denn die Stimmen der Frauen seit Jahrhunderten in der männlich dominierten Literatur fehlen. Wer nach Antworten sucht, stößt auf Tillie Olsen. Wer sich aber nicht mit dieser Thematik beschäftigt, hat wahrscheinlich noch nie von ihr gehört. Und da fängt die Ironie schon an: Diese Autorin, die sich mit dem Verschwinden weiblicher Schreibender beschäftigt hat, ist selbst verschwunden. Jetzt hat der Aufbau Verlag dankenswerterweise ihre Story-Sammlung „Ich steh hier und bügle“ sowie den Essay-Band „Was fehlt“ auf Deutsch herausgebracht (übersetzt von Adelheid und Jürgen Dormagen sowie von Nina Frey und Hans-Christian Oeser). Ich möchte euch beide Bücher dringend ans Herz legen. Vor allem in der Kombination ergeben sie ein stimmiges Bild, ergänzt werden sie von einem Nachwort von Jürgen Dormagen und einem Vorwort von Julia Wolf. Darin enthalten: Informationen zu Tillie Olsens Leben und eine Einordnung ihres vermeintlich schmalen Werks. Warum es bei „nur“ vier Geschichten geblieben ist, die erschienen sind, als Olsen beinahe 50 war, erklärt sich, wenn man ihren Erläuterungen in ihren Essays folgt, von selbst: Care-Arbeit, Lohnarbeit und aktivistische Arbeit (sie war Marxistin und eine Größe der Frauenbewegung) haben ihr die Zeit zum Schreiben genommen, regelrecht geraubt. Dabei hätte sie Erfolg gehabt und später hatte sie auch den Raum dafür, dank verschiedener Stipendien. „Das Schweigen, von dem ich spreche, ist unnatürlich“, schreibt sie 1962, und ja, vielleicht war ihre literarische Stimme tatsächlich verstummt, aber Tillie Olsen hat gelesen. Sie hat recherchiert und geforscht, sie hat gelehrt, unterrichtet und Vorträge gehalten. Flammende, feministische, intersektionale Reden, die ihr nun lesen könnt. Und ich denke nicht, dass das weniger wert ist als Dutzende Romane: Sie, die keinen Schulabschluss hatte, beweist in ihren Schriften Scharfsinn und Weitblick, kann in drei Sätzen brillant erklären, woran das deutsche Feuilleton immer noch scheitert, wenn es „es zählt die Qualität“ murmelt. Do the work!
„Die Wahrheit sagen über die eigenen Erfahrungen als Körper: verboten, unmöglich, jahrhundertelang.“
Lest Tillie Olsen. Lest die Bücher der Frauen, die sie zitiert. Hört hin, schaut hin, seid aufmerksam und offen für einen neuen Blick auf die Literaturgeschichte. Man hat uns nämlich immer nur die halbe Wahrheit erzählt.