Bücherwurmloch

Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß

„Ich passe mich den Ängsten der anderen an, wenn sie nützlich sind“
Gaias Mutter hat rote Haare und keine Lust mehr, sich vom Staat Italien wegignorieren und verarschen zu lassen. Gaias Mutter setzt durch, dass die Familie – der Vater, der nach einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt, der große Bruder Mariano und die kleinen Zwillinge – eine Sozialwohnung bekommt. Von Rom ziehen sie an den Lago di Bracciano, und Gaias Leben ist geprägt von dem Wissen, nichts zu besitzen, von dem Versuch, das vor den anderen zu verbergen, und von dem unbeugsamen Willen der Mutter, dass Gaia es einmal besser haben – und deshalb so viel wie möglich lernen soll. Doch ist das in einem Land, in dem es auch für fertig studierte Akademiker kaum Jobs gibt, sodass viele junge Italiener:innen nicht von zuhause ausziehen können, wirklich so sinnvoll? Und wie kann Gaia sich selbst finden in einer Gesellschaft, die ihr ständig vorgibt, wer sie zu sein hat?

„Ich bin die zerbrochene, undurchsichtige Frau, die, die sich an der Oberfläche spiegelt und die du immer nur zur Hälfte siehst.“

Giulia Caminito hat ein Buch geschrieben über Klasse und gesellschaftliche Unterschiede, das den renommierten Premio Campiello gewonnen hat und in zwanzig Sprachen übersetzt wird, ein Buch über Erwachsenwerden und Scham, über Armut, Bildung und Geschäftemacherei auf den Schultern jener, die benachteiligt sind. Es ist ein intensiver, sehr lebensnaher Roman, der sich sprachgenau und klug mit den Ungerechtigkeiten im heutigen Italien – die sich eins zu eins auf jedes andere Land übertragen lassen – auseinandersetzt. Protagonistin Gaia ist schonungslos mit sich selbst und so ehrlich, sie zeigt auch ihre hässlichen Seiten, wie sie zu Gewalt neigt, wie sie andere verrät, wie sie Freundschaften zerbrechen lässt aus Eifersucht und Missgunst. Nichts daran ist schön, alles daran ist menschlich – und authentisch. Wir sind ganz nah bei ihr, der Ich-Erzählerin. Stiller Zuseher ist der See, auf dessen Grund sich eine Weihnachtskrippe befinden soll, die die Autorin selbst, wie sie im Nachwort erzählt, nie gesehen hat. Nicht nur das Cover ist großartig, auch der Inhalt: Dieses Buch ist melancholisch, roh und bitter. Es hat mich nachhaltig beeindruckt, ich möchte es euch unbedingt empfehlen.

Das Wasser des Sees ist niemals süß von Giulia Caminito ist erschienen bei Wagenbach.

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