„Die Angst ist nachhaltig und wendig. Sie erwischt dich im Alltag, bei der Familie, auf der Arbeit, in der Liebe“
„Es konnte nicht die Lösung sein, dass sich nur die wehren, die nicht mehr anders können, wir mussten es alle gemeinsam machen.“ Tekin weiß, dass Delek Angst hatte. Angst davor, dass jemand sie verraten könnte. Dass der Staat herausfinden könnte, wer hinter dem Profil von Kangal steckt, die kritische Dinge ins Internet geschrieben hat. Tekin findet aber auch, dass Delek nicht einfach hätte abhauen sollen nach Deutschland. Weil gar nicht gesagt ist, dass es eine Akte über sie gibt, dass sie verhaftet, vernommen, eingesperrt wird. Delek wollte weg, solange es mit ihrem Pass noch möglich war. In Deutschland besorgt sie sich eine Wohnung, meldet sich bei ihrer Cousine Ayla, die sie lange nicht gesehen hat, weil ihre Mütter, die Schwestern waren, sich zerstritten haben – die eine hat in Deutschland geheiratet, die andere ist in der Türkei geblieben. Delek vermutet hinter dem Zerwürfnis politische Motive und merkt, dass die Türk:innen, die in Deutschland leben, sich kaum ausmalen können, welche Zustände in der Heimat tatsächlich herrschen.
Anna Yeliz Schentke hat ein beeindruckendes Buch geschrieben über das Leben unter dem türkischen Regime, über Terror, Widerstand und Angst. Sie schildert eine ganz spezielle Sprachlosigkeit: jene von Menschen, die nicht über die Gewalt reden können, die sie erfahren, weil sie sich dann noch mehr in Gefahr bringen – und weil ihnen nicht geglaubt wird. In sehr kurzen Kapiteln mit schnellen, wendigen Sprüngen und Ortswechseln zwischen Ayla, Delek und Tekin zeichnet sie ein Bild der jungen türkischen Generation, die sich zwar vernetzt, um aufzubegehren, aber auf verlorenem Posten kämpft, weil das System so viel stärker ist. Ist Deutschland eine Zuflucht oder nur eine weitere Falle, in der vielleicht nicht Gefängnis droht, aber Ausländerfeindlichkeit, soziale Kälte, Perspektivenlosigkeit? Wie man es auch dreht, es scheint keinen richtigen Weg für Dilek zu geben. Was sie am Ende tut, hat mich überrascht und ich konnte es nicht ganz nachvollziehen, wie überhaupt das Buch eine weitere Ebene zu haben scheint, die für mich unzugänglich war, weil ich kein Türkisch spreche. Ich fand es schwermütig, auf melancholische Weise fremd, traurig, brandaktuell und sehr gut.
Kangal von Anna Yeliz Schentke ist erschienen bei S. Fischer.