„Die Zeit vergeht, aber wann beginnt das Leben?“
Sie ist immer mit einer Kamera um den Hals herumgelaufen: Vivian Maier. Als sie am Leben war, hat niemand sie gekannt, und die meisten ihrer Bilder hat sie nie entwickelt. Nach ihrem Tod, als in ihrer Wohnung 200.000 Fotografien gefunden wurden, hat sie es zu überraschender posthumer Berühmtheit gebracht. Sie wird als geniale Straßenfotografin bezeichnet, und offenbar hat sie tatsächlich ausschließlich auf der Straße fotografiert: im Vorbeigehen, mit einem entwaffnenden Blick für ein gutes Bild. Ich stelle mir vor, dass diese 200.000 Fotos Momentaufnahmen sind von Menschen, Gebäuden, Situationen in Chicago und New York, viele davon, vielleicht sogar alle, unwiederbringlich verloren. Über das Leben dieser Dokumentarin Vivian Maier gibt es offenbar wenig Informationen, doch die dänische Autorin Christina Hesselholdt hat sich ihr trotzdem literarisch genähert – indem sie ein Kaleidoskop an Stimmen entworfen hat, manche fiktiv, andere nicht.
Ich muss gestehen, dass die Lektüre von Vivian für mich kurios war: Ich mochte das Buch nicht, viele darin enthaltene Sätze aber schon. Die Idee an sich ist großartig, in kurzen, aufeinander wechselnden Monologen berichten Vivian selbst, ihre Arbeitgeber, bei denen sie als Kindermädchen angestellt war, sowie die eine oder andere Randfigur von dieser rastlosen Frau, die schnell ging, Bilder schoss, ohne zu fragen, mit einer unglücklichen Mutter aufwuchs, die den Bruder einfach abgegeben hat, ein Gespräch ist das nicht, alle diese Figuren reden nicht miteinander, eher aneinander vorbei. Immer wieder mischt sich der Erzähler ein, den ich am interessantesten fand, weil er einfach random facts von sich gibt – aber auf fast schon poetische Weise. Und ja, die Poesie: Einige Sätze hab ich mir rausgeschrieben, die hab ich goutiert, obwohl ich das große Ganze unzugänglich fand, ich hatte nicht das Gefühl, Vivian kennenzulernen. Christina Hesselholdt hat viel erzählt, aber wenig gesagt oder vielmehr hat sie gezeigt, dass diese Frau eben eine Unbekannte war, die für sich geblieben ist.
Wir öffnen den Mund, und heraus kommen – wir selbst.
Wenn man alt wird, hat man nur seinen Stahlhelm aus grauen Haaren, seinen Alterspanzer; und das schlechte Gewissen der anderen, das Schuldgefühl, in dem man herumstochern kann.
Seit Jahren hat mich niemand mehr berührt, und vermutlich wird es auch niemand mehr tun. Nicht, ehe meine Leiche gewaschen wird, ich hoffe auf sanfte Hände.
Die Kamera macht einsam, weil sie beschneidet, weil sie etwas (das Motiv) aus seinem Zusammenhang reißt. Sie ist brutal. Sie lügt. Die Kamera lügt immer.
Früher dachte ich, Einsamkeit würde bedeuten, endlich meine Ruhe zu haben, jetzt weiß ich, es bedeutet, dass niemand mehr da ist, der auch nur ein kleines bisschen über mich weiß.
Die Leute lieben Rätsel, das Unabgeschlossene und das Unerklärliche sind wahnsinnig anziehend. Ich bin die geheimnisvolle Dame, die durchgesägte Dame, deren Vergangenheit abgetrennt wurde.
Der Erzähler ist der eigentliche Verbrecher.
Wann fällt mein Vater vom Himmel, wann schießt meine Mutter aus dem Boden, ich bin allein und wohne in einer Nische meiner selbst.
Jeder, den man lange genug anstarrt, wird einem irgendwann befremdlich erscheinen.
Vivian von Cristina Hesselholdt ist erschienen bei Hanser.