„Wie soll ich denn etwas wollen, wie soll ich Spaß haben, wie soll ich überhaupt leben“
Da ist eine, die nach einem Verlust kaum aufstehen kann, weil alles so wehtut, jeden Tag tut es weh und in der Nacht sowieso, und sie nimmt den letzten Rest ihrer Kraft und fängt an zu laufen. Anfangs kommt sie nicht weit, weil der Körper nicht mitmacht, weil er sich verweigert, die Lunge brennt, die Beine schmerzen, sie kann nicht mehr, laufen nicht und lachen nicht und leben eigentlich auch nicht, aber sie muss. Es gibt keine Alternative, also rafft sie sich auf, wieder und wieder, und beim Laufen sprudeln die Gedanken, die Gefühle, ein einziger langer Monolog spult sich da ab, während sie rennt und schwitzt und weint und in den Dreck fällt, während sie sich wünscht, alles wäre anders gekommen, ganz anders. Wann war der Moment, als sie die Zeichen übersehen hat, wann hätte sie noch etwas ändern können und ist es ihre Schuld? Wie kann sie dieser Schuld davonlaufen, wenn sie doch in ihr drin ist, wie kann sie an seinem Geburtstag normale Dinge tun und am Jahrestag und am Todestag, an jedem Tag eigentlich, wie kann sie ihre Musik machen und arbeiten und knutschen, sich vielleicht sogar wieder neu verlieben, darf sie das, und wieso hat er sie dazu gezwungen, wieso hat er sich einfach davongemacht, wo sie doch noch so viel wollten? Tauchen lernen wollten sie und musizieren und streiten und einfach nebeneinander liegen, schweigend, aber das ist jetzt weg, die Zukunft ist weg und die Liebe und er sowieso.
Isabel Bogdan hat einen Roman geschrieben, der literally atemlos ist: Da rennt eine Frau um ihr Leben oder ihrem Leben davon. Nach einem schrecklichen Verlust ist da dieses riesige Loch, vor dem sie flüchten möchte, und sie läuft. Ein schier endloser Gedankenstrom schlägt dem Leser entgegen, und man kann nichts entgegensetzen, man muss sich ihm ergeben. Sich treiben lassen, hinein in den Monolog, hinein in das Gefühl, die Verzweiflung, die leise Hoffnung, die aufschimmert, da, zwischen den Tränen und der Wut. So zu schreiben, ist mutig von Isabel Bogdan, mutig aus mehreren Gründen: Sie löst sich ganz klar von ihrem Wunderbestseller Der Pfau, macht etwas völlig anderes. Sie greift ein Thema auf, das heikel ist und schmerzhaft und fies, weil man darum lieber einen Bogen machen möchte, statt die emotionalen Ohrfeigen anzunehmen, die das Buch austeilt. Und sie reiht Wort an Wort, bis die Sätze so lang sind, dass man kaum noch Luft bekommt – genau wie die Protagonistin. In Kombination ist es das, was Laufen so gut macht: Es ist anders, es tut weh, es ist hervorragend komponiert. Ein wichtiges, schönes, ironischerweise lebensbejahendes Buch.
Laufen von Isabel Bogdan ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-35005-0, 208 Seiten, 20 Euro).
Das Buch möchte ich auch noch unbedingt lesen. Danke für die tolle Besprechung, da wird meine Lust gleich nochmal größer (:
Liebe Grüße