„Wie schwer es ist, die Träume der Eltern zu erben“
Als Lydias Familie eines Morgens das Verschwinden der Sechzehnjährigen bemerkt, weiß noch niemand, dass Lydia tot ist. Sie, die nicht schwimmen konnte, liegt ertrunken am Ufer des Sees. Die Tragödie erschüttert jedes einzelne Familienmitglied auf eigene Weise: Die Mutter, eine Amerikanerin, muss sich fragen, ob ihr Lieblingskind tatsächlich so glücklich war wie gedacht. Sie selbst wollte stets Medizin studieren, bekam stattdessen Kinder und übertrug den unerfüllten Traum auf Lydia. Der Vater, der chinesischer Abstammung ist und sein Leben lang ausgegrenzt wurde, erstickt fast an den Details des Obduktionsberichts und an seinen Schuldgefühlen. Ihm war am wichtigsten, dass seine Kinder so sind wie alle anderen, dass ihr Aussehen sie nicht zu Außenseitern macht. Lydias großer Bruder verdächtigt den gleichaltrigen Jack, mit dem sie viel Zeit verbracht und der sie als Letzter gesehen hat. Ihre kleine Schwester, die wenig beachtet wird und gerade deshalb stets alles sieht und hört, ist ein Geheimnisgrab. Was ist geschehen? War es Mord? Oder Selbstmord? Und wie können die Übriggebliebenen ohne Lydia weiterleben?
Manche Bücher sind wie ein Botanischer Garten. Da blüht es und wurlt, alles wächst, ist ineinander verschlungen – und hat irgendwo einen gemeinsamen Ursprung. So ist auch Was ich euch nicht erzählte von Celeste Ng. Es ist ein komplexes und vielschichtiges Buch, verschlungen und düster – und irgendwo liegt die Wurzel, die alles begründet und alles zusammenhält. Die amerikanische Autorin mit chinesischen Vorfahren, die in Harvard studiert hat, hat mit ihrem ersten Roman einen großen Clou gelandet, der in 20 Sprachen übersetzt und verfilmt wird. Zu Recht, kann ich da nur sagen, denn ihr Debüt ist großartig: klug, melancholisch, berührend und unendlich traurig.
Ein Roman über die Geheimnisse einer Familie und über die ätzende Säure, die Unausgesprochenes verspritzt, ist nicht ungewöhnlich. Was ich euch nicht erzählte ist es aber doch. Weil die Geheimnisse an sich ungewöhnlich sind, scharfkantig und fremd. Nahm der Tod von Lydia seinen Anfang, als eine Amerikanerin und ein Chinese heirateten, als sie Kinder zeugten, die nicht aussahen wie ihre Klassenkameraden? Oder liegt sein Ursprung in den Träumen, die sich für die Eltern nicht erfüllt haben? Wo beginnt Schuld? Wer ist verantwortlich für die lähmenden Erwartungen, die Eltern an ihre Kinder haben – und umgekehrt? Die Antwort, die Celeste Ng auf alle diese Fragen gibt, ist auf stille und eindringliche Weise niederschmetternd. Manchmal wird aus bedingungsloser Liebe eine Liebe voller Forderungen. Niemand wollte, was geschehen ist, und doch hat jeder dazu beigetragen. Ein elegant geschriebenes, überaus beeindruckendes Buch.
Was ich euch nicht erzählte von Celeste Ng ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-28075-4, 288 Seiten, 19,90 Euro). Eine Besprechung dazu findet ihr auch bei Literaturen.
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Ich lese es gerade und bin begeistert!! Danke für diesen tollen Tipp!
Oh wie cool, das freut mich!
Wirklich ein sehr beeindruckendes Buch!
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