„Man muss einfach den Weg nehmen, den der Sand einem lässt“
„Wer sich auf meinen Bruder einlässt, weiß nie, woran er ist. Etwas mit ihm zu unternehmen, hat schon immer geheißen, keine Ahnung zu haben, was als nächstes passiert.“ So ergeht es einem jungen Sänger, als er nur aufgrund einer SMS seines Bruders nach Marokko reist – ohne zu wissen, wo der sich genau aufhält. Er packt einen Koffer, lässt seine Freundin zurück und macht sich auf ins Ungewisse. Im fremden Land folgt er den Spuren seines Bruders wie bei einer Schnitzeljagd, er ist ihm dicht auf den Fersen – nur um ihn immer wieder um Haaresbreite zu verpassen. Ihn packt die Abenteuerlust, merkwürdige Dinge geschehen ihm, er schließt sich einem alten Hippie-Paar an und wagt sich in die Wüste. Stets stand er im Schatten des kleinen Bruders, dem alles mit Leichtigkeit zuflog und der ihn stets übertraf, weshalb sie in den letzten Jahren kaum Kontakt hatten. Auf der wilden, mystischen, geisterhaften Reise durch die Wüste erfährt er viel über ihn, was er nicht wusste – und über sich selbst.
Der österreichische Autor Wolfgang Popp hat eine Reise komprimiert und zwischen zwei Buchdeckel gepackt. „Eine Roadnovel vom Ende der Straße“ ist Wüste Welt laut dem Klappentext, „eine Geistergeschichte ohne Geister“ und „ein Wüstentagebuch“. Alles davon trifft zu auf diesen schmalen Band mit einem sympathischen Ich-Erzähler. Die Sprache gleicht der Art, auf die der Musiker reist: Sie ist geduldig und ruhig, nicht gehetzt, auch nicht kapriziös, einfach nur angenehm. Wolfgang Popp gibt Einblick in ein fernes Land und seine Sitten, in das Leben in einer so extremen Gegend wie der Wüste sowie in eine eher ungewöhnliche Geschwisterbeziehung, bei dem der Jüngere das Tempo vorgibt, dem der Ältere nicht folgen kann.
Für mich sind Geschwister etwas ganz Besonderes, und ich finde es sehr traurig, wenn jemand keinen Kontakt zu seinen Brüdern oder Schwestern hat – wie auch immer die Umstände im jeweiligen Fall sein mögen. In Wüste Welt geht es im Innersten um eine Geschwisterbeziehung, die nicht funktioniert und deshalb begraben wurde. Dennoch ist da ein einzigartiges, verbindendes Gefühl, das bewirkt, dass der eine Bruder dem anderen folgt – hinein ins Dunkle, ins Unklare, um aufzuspüren, was ihnen verloren ging. Das ist interessant, gut geschrieben, gut gemacht und lesenswert.
Wüste Welt von Wolfgang Popp ist erschienen bei Edition Atelier (ISBN 978-3-903005-14-3, 160 Seiten, 18,50 Euro). Eine Besprechung findet ihr bei Sophie von Literaturen.