„Wir müssen unsere Eltern verraten, um zu wachsen“
„Da schläft man jahrelang neben einem Menschen und weiß noch immer nicht, wovon er träumt.“ Das sagt Yukikos Mutter, als ihr Mann Kaze spurlos verschwindet. Er ist ein Verflüchtigter, er hat sich in Luft aufgelöst, um seine Familie nicht mit hinunter zu ziehen in die Schande. Wer entlassen wird oder aus anderen Gründen sein Gesicht verliert, wird zu einem solchen Verflüchtigten, taucht unter, meldet sich nie mehr wieder. Doch Yukiko will das nicht hinnehmen. Sie kehrt aus den USA, wo sie seit vielen Jahren lebt, zurück nach Japan. Und sie nimmt Richard mit: Er ist Detektiv, Dichter und vor allem ist er über die Maßen in Yukiko verliebt. Sie hat ihm das Herz gebrochen, und doch folgt er ihr in ein Land, das er nicht kennt, um einen Mann zu suchen, der nicht gefunden werden will.
Dieses Buch ist für mich eine Reise an einen Sehnsuchtsort, denn nach Japan möchte ich schon lange. Vor zehn Jahren habe ich an der Universität sogar versucht, Japanisch zu lernen, und bin mit viel Verve daran gescheitert. Geblieben ist eine große Faszination für diese sonderbare Kultur mit ihren vielen Regeln und Gepflogenheiten, die mir so fremd erscheinen. Der französische Autor Thomas Reverdy hat diese Kultur aufgegriffen und in einen Roman verwandelt: Bevor ein Japaner sein Gesicht verliert, verliert er lieber sein Leben, gibt es auf, verbannt sich selbst. Das ist eine gute Idee für ein Buch, das ist eine gute Geschichte.
Sich ein Setting und interessante Figuren ausdenken, das kann Thomas Reverdy in meinen Augen besser als schreiben. Von seinen Formulierungen bin ich an manchen Stellen nicht überzeugt, im Allgemein wirkt sein Stil ein wenig hölzern und nicht so zugespitzt, wie er sein könnte. Eine solche Story sollte düsterer sein und schärfer, sie plätschert mir manchmal zu nah am Belanglosen dahin. Gut erzählt ist sie allemal, sie bietet eine betörende Mischung aus Fremdheit und Gefahr, aus Liebe, Sehnsucht und Verrat. Dieser Roman bietet Unterhaltung auf halbwegs hohem Niveau. Ich habe mich gefreut, wenigstens auf diese Weise nach Japan zu reisen und einzutauchen in die Fremdheit. Bestes Zitat:
„Die japanische Gesellschaft ist wie das Land: ein Vulkan mitten im Ozean, auf einer von Tausenden Bruchlinien durchzogenen Insel, wo es überall bebt und kracht. Wenn Sie das Land kennenlernen wollen, müssen Sie seine Verwerfungen studieren. Für die Gesellschaft gilt das Gleiche. Und für die Menschen übrigens auch.“
Die Verflüchtigten von Thomas Reverdy ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1222-7, 320 Seiten, 22 Euro).