Das Bedrohliche an der Merkwürdigkeit
Eine Frau lebt mit ihrer Tochter in einem kleinen Ort, vier Stunden von der Hauptstadt entfernt, wo der Mann arbeitet. Die Tochter heißt Nina. Die Frau bleibt namenlos. Eine Nachbarin Carla erzählt ihr eine eigenartige Geschichte: Ihr kleiner Sohn David litt an einer schweren Vergiftung, an der das gesamte Vieh gestorben war. Um ihn zu retten, teilte die Heilerin Davids Vergiftung mit einem anderen Körper – wodurch er eine andere Persönlichkeit bekam. Carla fürchtet sich vor diesem unbekannten Sohn. Auch die Frau ist inzwischen krank und wird in Kürze sterben. Nur David ist bei ihr, spricht mit ihr, rekonstruiert mit ihr, was geschehen ist. Er redet von Würmern, von einem Moment der Ansteckung. Woran leidet die Frau? Warum berichtet sie David wieder und wieder dasselbe, ohne sich erinnern zu können? Wo ist Nina? Was ist geschehen mit den Kindern des Ortes? „Es sind merkwürdige Kinder. Es sind, keine Ahnung, meine Augen brennen so. Sie haben keine Wimpern und auch keine Augenbrauen, ihre Haut ist rot, sehr rot, und schuppig.“ Müssen sie etwa alle sterben?
Es gibt Bücher, die derart rätselhaft sind, dass man nicht das Geringste versteht. Dazu gehört für mich Das Gift von Samanta Schweblin, angeblich „die beste Erzählerin ihrer Generation“. Ihre drei Erzählbände wurden mit Preisen bedacht, ihr erster Roman erschien nun in 20 Ländern. Worum es darin geht? Um eine nicht greifbare Bedrohung, um ein Gift – womöglich in Zusammenhang mit einem Chemiekonzern der Gegend? – und um seltsame Heilmethoden sowie den Tod. Eine Mutter lässt ihr Kind von einer Heilerin behandeln und hat danach Angst vor ihm. Dieses Kind stellt der Protagonistin Fragen, redet immer wieder von Würmern und will die Ursache für eine mysteriöse tödliche Krankheit aufdecken. Aber wozu, wenn sie ohnehin nicht heilbar ist? Was soll das bringen? Und wenn er all das ohnehin schon mehrfach erzählt bekommen hat, wieso fragt er erneut?
Das Gift ist ein derart rätselhaftes Buch, dass man das Rätselhafte daran nicht einmal erklären kann. Genau das soll wohl die Bedrohung auslösen – was durchaus gelingt. All die kleinen Informationsfetzen, die keinen Sinn und kein großes Ganzes ergeben, sorgen für eine verrückt beklemmende Atmosphäre. Es ist zum Fürchten. Und überaus unheimlich. Ich bin angeekelt und fasziniert zugleich und kann am Ende nicht einmal sagen, ob ich den schmalen Roman mit gerade mal 126 Seiten gut oder schlecht fand, weil die üblichen Beurteilungsparameter überhaupt nicht anwendbar sind. Ich bin schlicht und ergreifend völlig verstört. Und beunruhigt. Ein wenig verängstigt. Und ratlos. Wer sich einmal so fühlen möchte, der greife zu diesem Buch.
Das Gift von Samanta Schweblin ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42503-9, 127 Seiten, 16,95 Euro), hier könnt ihr euch den gruseligen Buchtrailer ansehen.
Man merkt an der Rezenson, wie schwer diese Geschichte zu fassen oder einzugrenzen ist. Das fasziniert mich, denn von dieser Beklemmung und Verschleierung lebt der Grusel ja. Die Unsicherheit der Figuren erinnert mich an frühe Gothic Novels, in denen unklar bleibt, ob die Bedrohung nur eingebildet oder doch real ist.
Danke für diese Eindrücke, das Buch kommt sehr wahrscheinlich auf meine “Beobachtungsliste”!
Falls du es liest, musst du mir danach unbedingt von deinen Eindrücken berichten! Würde mich sehr interessieren.