„Lügen machen die Leute glücklich, glaube ich, und deshalb lügen alle andauernd“
„Ich lausche jetzt an Türen. Nur so erfahre ich überhaupt irgendwas. Mir erzählt ja keiner was.“ Michael Murray ist elf Jahre alt, und seiner Ma ist abends im Park etwas Schreckliches passiert. Zuerst weiß Michael nicht genau, was, aber selbst wenn man erst elf ist, kann man sich das dann doch zusammenreimen. Seine Ma hat Angst, dass die Leute schlecht über sie reden, und geht deshalb nicht zur Polizei. Jetzt reden die Leute schlecht über Michaels Pa, weil sie denken, er habe seine Frau so übel zugerichtet. „Pa wird Granny den bösesten Blick zu, den ich je gesehen habe, und rennt wie üblich raus. Er ist hier sowieso nicht willkommen. Ma und Granny haben die Nase voll von ihm, und ich auch. Dauernd ist er wütend oder traurig, zu laut oder ganz still.“ Michael tut seine Ma ganz furchtbar leid, und er ist überfordert von den Erwachsenenproblemen. Er hat ohnehin selbst genug um die Ohren, er muss Ballhochhalten üben für Mariannes Talentshow und sich mit Dirty Alice prügeln. „Man darf sich nicht zu sehr für Mädchen interessieren. Ich meine, es ist okay, wenn man irgendwohin geht, weil sie dort vielleicht sind, aber man kann nicht bei ihnen zu Hause an der Tür klingeln und fragen, ob sie für eine Weile rauskommen, das geht einfach nicht.“ Man könnte also sagen: Michael hat genug eigene Sorgen. Doch da seine Ma den Vergewaltiger nicht angezeigt hat, kann er jederzeit wieder zuschlagen – und das sind die wirklichen Sorgen, die die Familie umtreiben.
Lisa O’Donnell ist eine Autorin, die mit ihren Büchern zuschlägt, als stünde sie im Ring. Sie hat eine freche Schnauze, einen harten Faustschlag und die Sturheit derer, denen alles egal ist. In ihrem Erstling Bienensterben war sie derart rotzig, fies und sarkastisch, dass sie mich tatsächlich umgehauen hat. Nun hab ich mir, das muss ich gestehen, für das zweite Buch eine Steigerung erwartet. In Wahrheit aber hat die schottische Schriftstellerin einen Schritt zurück gemacht. Die Geheimnisse der Welt ist ein guter, solide geschriebener Roman, aber im Vergleich zum Vorgänger viel schwächer. Die Schreibe ist zurückhaltender, nicht so abgefuckt und direkt, die Story ist weniger krass – was zynisch klingt, schließlich geht es um eine Vergewaltigung, aber in Bienensterben mussten die Kinder die verwesenden Leichen der Eltern im Garten vergraben. Gut, vielleicht kann man sowas auch einfach nicht toppen. Schade finde ich jedoch, dass Lisa O’Donnell sich in ihrem zweiten Buch am Offensichtlichen nicht gestört hat: Alles ist erwartbar. Dass der Mann der häuslichen Gewalt verdächtigt wird. Dass Michael in das Mädchen, mit dem er dauernd streitet, am Ende dann verliebt ist. Dass der Täter erneut zuschlägt. Und dass die Frauen sich schließlich dazu überwinden, ihn anzuklagen. Alles davon ist schlüssig und gut lesbar, aber nichts davon ist überraschend und originell. Michael ist ein ganz normaler, lieber, elfjähriger Protagonist, dem sehr daran gelegen ist, cool zu sein und als stärkster Junge der Siedlung zu gelten. Was seiner Ma zustößt, zündet eine Bombe in der ganzen Familie – und ihr ganzes Leben fliegt ihnen um die Ohren. Ein Buch mit kleinen Schockeffekten, aber ohne die erwartete abgrundtiefe Schlangengrube.
Die Geheimnisse der Welt von Lisa O’Donnell ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-9779-7, 256 Seiten, 18,99 Euro).