„Aber ich habe in letzter Zeit selbst vieles gemacht, was mich schockiert“
Es ist fast 30 Jahre her, dass die blutjunge Emilie vergewaltigt und erwürgt wurde. Nun hat man durch einen DNA-Abgleich den mutmaßlichen Täter gefunden. Der Journalist Marc Rappaport, bekannt für seine Aufdeckerreportagen, interessiert sich aufgrund einer undefinierbaren inneren Getriebenheit für die Geschichte und recherchiert, obwohl sein Freund, Chefredakteur Pierre, nicht dafür ist. Zuerst findet er lange nichts, doch dann stößt er auf ein wahres Wespennest: Politische Verstrickungen, ein skrupelloser Konzern, Antisemitismus, Arbeitsplätze und viel Geld spielen im Hintergrund eine Rolle. Marc will nun nicht mehr nur Emilies Tod aufklären, sondern auch den betroffenen Menschen helfen – und greift dafür zu einigermaßen radikalen Mitteln …
Die deutsche Autorin Gila Lustiger, die seit 1987 in Paris lebt, hat mit Die Schuld der anderen ein Buch geschrieben, das sich irgendwo zwischen Krimi, Thriller und Gesellschaftskritik befindet. Obwohl es darin um einen verjährten Mordfall mit politischer Brisanz geht, steht eigentlich Protagonist Marc im Vordergrund. Alles dreht sich um ihn, das Rätsel tritt zum Teil in den Hintergrund. Er ist ein verkopfter, komplizierter Mensch und kann praktisch keine Sekunde des Tages aufhören zu denken. Er seziert alles, seine Gefühle für Freundin Nora, seine Beziehung zum Großvater, der ein hohes, mächtiges Tier war, seine Freundschaft zu Pierre, die Gründe, warum er Journalist geworden ist … und so weiter. Es ist nicht möglich, dieses Gedankenkarussell abzustellen, und das ist für Marc und mich recht anstrengend. Für des Rätsels Lösung ist sein Getriebensein freilich ein Vorteil. Denn wie es immer ist in diesen Kriminalgeschichten: Nur wer unablässig bohrt, findet unter all den Dreckschichten die Antworten.
Die Schuld der anderen ist ein gut lesbares, flüssig geschriebenes und trotz der komplizierten Story auch schlüssiges Buch. Ich war sehr gespannt darauf, wer Emilies Mörder war und wie ihr Tod mit den anderen Ereignissen, die ich natürlich nicht verraten will, zusammenhängt. Insgesamt war mir das Buch aber einfach zu überladen, voller Baustellen, roter Fäden und Spekulationen. Dass es der Autorin da noch gelungen ist, den Überblick zu wahren, ist bewundernswert. Marc hätte ich mir ein wenig lässiger und nicht so bis zum Rand abgefüllt mit Moral gewünscht, aber das ist freilich sehr subjektiv – für andere ist er vielleicht der Traummann schlechthin. Das Ende ist ein schöner, stimmiger Schlag in sein selbstgefälliges Gesicht, auch wenn ich mir bis heute nicht sicher bin, ob ich der Autorin eine solche Wendung wirklich glauben soll.
Die Schuld der anderen von Gila Lustiger ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1227-2, 496 Seiten, 22,99 Euro).
Ich lese mich auch gerade durch den Roman, bin sehr neugierig, wie es weiter geht – und vermute sogar einmal, dass Marcs Familie involviert ist ? – , fühle mich bestens unterhalten und mag auch Marcs oft sehr kritische Sicht auf die Welt sehr. Im Moment stochern wir noch ein wenig im Dunkeln, niemand scheint die arme Emilie zu kennen. Und ich stimme dir zu, dass die Geschichte zwischen Roman – das würde auch für Marc und seine Entwicklung sprechen – und Krimi bzw. Thriller angesiedelt ist. Bisher also eine sehr angenehme Lektüre.
Viele Grüsse, Claudia
Bin sehr gespannt auf dein Fazit! Bis dahin noch viel Vergnügen 😉
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