„Die Erinnerung ist ein Problem, weil sie uns erzählt, was wir hören wollen“
„Galen mochte keine Umarmungen. Seine Familie bestand nur aus Frauen, und dauernd umarmten sie ihn, viele Male am Tag. Er hätte es vorgezogen, in seinem ganzen Leben nie wieder umarmt zu werden.“ Dabei sind die Umarmungen Galens geringstes Problem: Er ist 22 und lebt, statt aufs College zu gehen, mit seiner Mutter auf einer einsamen Walnussfarm in Kalifornien. Die Frauen in seiner Familie, das sind: die demente Großmutter, Galens Mutter Suzie-Q, deren Schwester Helen sowie Galens Cousine Jennifer. Dass sie einander stets umarmen, ist blanker Hohn, denn sie hegen ausschließlich negative Gefühle füreinander: Der Hass zwischen Suzie und Helen geht zurück auf eine freudlose Kindheit in einem gewalttätigen Elternhaus, die Bindung zwischen Galen und seiner Mutter ist unnatürlich eng, und Jennifer nutzt Galens sexuelle Unerfahrenheit für sich aus, obwohl sie ihn verachtet. Galen versucht, in eine Art sanften Esoterik-Fanatismus zu flüchten und sich von seinem irdischen Dasein zu lösen: „Hier in der Hütte auf dieser alten Matratze im Dunkeln hatte er das Gefühl, für etwas bestimmt zu sein. Womöglich nahm sein Leben eine Gestalt an, die auch Größe verhieß, wenngleich es zu früh war, um Genaueres zu wissen.“ Doch: „Seine Mutter eine ständige Störung, ein Riss in der Textur von Raum und Zeit. In ihrer Nähe konnte es keinen Frieden geben.“ Und während der Sommer sich aufheizt, schlagen die negativen Gefühle von Galen und seiner Familie in handfeste Gewalt um, die gerade groteske Ausmaße annimmt …
Dreck von David Vann ist nicht einfach nur Dreck. Es ist Morast, Sumpfgebiet, Treibsand. Dieses Buch ist wie eine Schlingpflanze, die sich um meinen Knöchel windet und mich hineinzieht in eine überaus verstörende Geschichte über einen jungen Mann, der eines Tages – aufgestachelt von Provokationen, Hass und pseudospirituellem Gedankengut – eine Grenze überschreitet und nicht mehr zurück kann. Der preisgekrönte Autor entwirft ein spannungsgeladenes Umfeld, in dem von Anfang an die Blitze fliegen. Es ist völlig logisch, dass sich das Unwetter, das sich zusammenbraut, entladen wird. Doch als es das schließlich tut, geschieht es auf dermaßen heftige Weise, dass ich mich ungläubig aufgerissenen Augen dastehe und es nicht fassen kann. Natürlich weiß ich, dass Menschen so etwas tun. Aber obwohl David Vann sich alle Mühe gegeben hat, Galens Motivation deutlich zu machen, bleibt dieser als Gesamtfigur ein Rätsel für mich. Wenn er das Leben an der Seite seiner Mutter derart hasst, warum geht er nicht einfach weg? Was soll die halbherzige Beschäftigung mit Raum, Zeit und dem Körper als Hülle unseres Geistes? Ist er zurechnungsfähig oder einfach nur wahnsinnig? Hass und Liebe mischen sich zu einem explosiven Cocktail in Galen, und während mir sehr wohl bewusst ist, dass beide Empfindungen nebeneinander existieren können, habe ich in diesem Fall das Gefühl, die eine mache die andere unglaubwürdig. David Vann ist es auf jeden Fall gelungen, mich zu fesseln, mich versinken zu lassen in menschlichem Dreck und mich zu schockieren. Sein Buch hat mich auf äußerst negative Weise beschäftigt und bewegt – aber es hat mich nicht kaltgelassen, und das ist die wichtigste Forderung, die ich an einen Roman stelle. Wer sich amüsieren will, gehe woanders hin. Wer einen Blick in jene vielzitierten menschlichen Abgründe werfen will – bitte sehr.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: sehr simpel, sehr passend.
… fürs Hirn: jede Menge – Entschuldigung – ziemlich kranker Scheiß.
… fürs Herz: eine Liebesgeschichte wäre hier fehl am Platz, und jede Liebe, die es gibt, ist verseucht von Neid, Missgunst und Verachtung.
… fürs Gedächtnis: pures Entsetzen.
Dreck von David Vann ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42367-7, 296 Seiten, 19,99 Euro).
Ich habe die ersten beiden Bücher von David Vann gelesen, auch diese schockieren komplett. Dann habe ich gesehen, dass “Dreck” auf dem Markt ist und ich habe gezögert und das Buch gekauft. Wahrscheinlich habe ich richtig entschieden. Ich glaube, David Vanns Stoff für Romane haben immer etwas mit seiner Vergangenheit zu tun, die er auf die eine oder andere Weise in seinen Büchern einfliessen lässt.
LG buechermaniac
Das finde ich interessant, dass seine anderen Bücher ebenfalls so schockierend sind. Mir blieb tatsächlich ein bisschen die Spucke weg! Bin gespannt, was du dazu sagen wirst!
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