Bücherwurmloch

Kim de l’Horizon: Blutbuch

„Eines Tages wirst du das alles erben“, sagte sie, und das war stets eine Drohung

Die Grossmeer, die Oma des Erzählenden, hat Demenz, sie beginnt, alles zu vergessen – und wer kann sich an ihrer Statt erinnern? Wie weit zurück erinnern, bis zu den Ahninnen vielleicht sogar, mit denen ihre Blutlinie begann? Kim de l’Horizon widmet sich in diesem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman interessanten Fragen – und die Suche nach Antworten geschieht in großen Teilen über die Sprache. Wie linear ist sie, wie geschlechtergerecht? In Spiralen und Kreisen, die sich immer wieder überschneiden, aber manchmal gar nicht begegnen, bricht Kim mit bekannten Erzähltraditionen, und das macht dieses Buch so gut: Es ist neu, es ist anders, es ist sanft und dennoch laut, es geht weit zurück und findet zugleich kein Ende, es dreht sich und wühlt und sucht, konzentriert sich dabei stark auf sprachliche Aspekte, im weiteren Verlauf auch auf Biografien von Frauen durch die Jahrhunderte. Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur hat Kim gesagt: „Es sollte ein queerer Text sein. Und queere Körper wachsen eben nicht linear. Viele von uns haben so zyklische, wiederholte spiralförmige Entwicklungen, in denen sie eben erst hetero aufwachsen und sich dann in verschiedenen Anläufen davon entfernen. Und das war mir auch wichtig, diese Entwicklung formal abbilden zu können.“

Dies ist ein autofiktionales Buch über das Erbe von Generationen und zugleich eine moderne Spiegelung weiblicher Lebensrealitäten, eingeordnet durch nichtbinäres Erzählen. Und das ist das Schöne an Literatur: dass Schreibende einen Raum öffnen für Lesende, bei diesem Roman hat es sich fast angefühlt wie eine Therapiestunde. Es geht um das Aufwachsen als nichtbinärer Mensch, um Geschlechterrollen und das Patriarchat, um Überlieferung und Ichwerdung, und dass immer erst eine sterben muss, damit die anderen anfangen zu reden.    

„Es ist naiv, zu denken, dass die Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen, nichts mit uns machen.“

„Blutbuch“ ist ein durchbrochener, aufgebrochener Roman, an dem nichts klassisch ist. Kim de l‘Horizon zeigt anhand eines Familienverbands auf, wie es sich anfühlt, nonbinary zu sein, macht dadurch auch das Private zum Überpersönlichen, zum Politischen, letztlich zu einer Frage an die gesamte Gesellschaft. Es ist an uns allen, Antworten zu finden.

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