„Die Toten haben viel mehr Macht als diejenigen, die auf der Erde zurückbleiben“
Es beginnt mit Giacomo und Viollca im Jahr 1800: Er gehört zu den Bewohnern von Stellata, sie zum fahrenden Volk, das wegen sintflutartiger Regenströme nicht weiterziehen kann. Die beiden verlieben sich und bekommen einen Sohn, der oft zum Friedhof geht, weil er mit den Toten sprechen kann. Hier nimmt die Geschichte der Casadios ihren Anfang, denn nachdem der schwermütige Giacomo auch von der wilden Viollca nicht am Leben erhalten werden kann, sieht sie in ihren Karten noch mehr Unglück für die Familie voraus. In den Jahrhunderten, die folgen, werden sich viele Nachkommen fragen, ob an Viollcas Vorahnung etwas dran ist, ob die Casadios verflucht sind – oder ob das, was ihnen zustößt, schlicht den jeweiligen Umständen geschuldet ist. Viele werden geboren und andere sterben, es gibt schlechte Zeiten und Krieg, Hunger, Ausgrenzung und Neid, aber auch Liebe, Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung.
„Was sollen wir armen Alten denn sonst noch hier machen, als an Märchen zu glauben?“
In diesem ausufernden, recht gewitzten Schmöker entfaltet Daniela Raimondi anhand einer Familie aus dem kleinen Ort Stellata die italienisch-europäische Geschichte von 1800 bis 2013. Beide Weltkriege, Faschismus und Kommunismus im Großen, Eheschließungen, Affären und Familiendramen im Kleinen: Aus diesem Stoff ist ein Buch entstanden, das ich – obwohl es so dick ist – richtig gern gelesen habe. Nichts daran ist neu oder originell, aber zum einen ist das Figurenensemble sympathisch und wächst einem ans Herz, zum anderen ist der Stil der Autorin schön rund, feinsinnig und flüssig. Ich hatte mit „An den Ufern von Stellata“ den idealen Roman für den Start in den Sommer gefunden, gute Unterhaltung mit Niveau für den Strand und fürs Freibad. Am Ende hatte ich längst vergessen, wie die Urahnen vom Anfang hießen, die Sache mit der Vorahnung fand ich unnötig, weil sie immer nur zur Sprache gebracht wurde, wenn es grade gepasst hat, doch ansonsten hat diese Familiengeschichte mit einem starken Fokus auf den Frauenfiguren mich absolut zufriedengestellt.
An den Ufern von Stellata von Daniela Raimondi ist erschienen bei Ullstein.
Ich höre den Roman gerade als Hörbuch, und deine Rezension bestätigt meinen bisherigen Eindruck (bin etwas bei der Hälfte): Eine einfach schöne, flüssige und tatsächlich gewitzte Lektüre. Die Sprecherin des Hörbüchs – Simone Kabst – passt übrigens hervorragend zum unverwüstlichen Pragmatismus der Casadios.