„Wir standen einander gegenüber, mit hängenden Armen“
Grün arbeitet schon sehr lange als Pfleger auf der geschlossenen Station einer Psychiatrie: seit fast zwanzig Jahren. Einerseits kann man sagen: Er hat alles schon gesehen, schon erlebt, ihn kann nichts mehr überraschen. Andererseits muss man sagen: Es setzt ihm zu, er denkt viel über das nach, was er dort erlebt, versucht, den Rhythmus der Tages- und Nachtschichten zu vereinbaren mit dem Familienalltag, denn er hat eine Frau und eine kleine Tochter. Als eine neue Patientin auf Grüns Station kommt, verschwimmen sukzessive die Grenzen. Die beiden rauchen manchmal eine Zigarette miteinander, führen Gespräche, in denen sie irgendwie aneinander vorbeireden und die vielleicht deshalb so angezaubert klingen, und es stellt sich die Frage, ob sie einander etwas bedeuten können – oder ob alles nur Illusion ist.
Wo beginnt eine Grenzüberschreitung? Besteht sie sowieso automatisch, wenn zwei sich annähern, die zugeordnete Rollen bekleiden: Pfleger und Patientin? Annika Domainko untersucht in ihrem Debütroman eine Situation, bei der sich die Frage stellt, ob jemand übergriffig handelt oder ob es da einfach um zwei einsame Menschen gibt, die im anderen etwas finden, in dem sie sich wiedererkennen. Warum ist die Frau überhaupt in der Psychiatrie? Was ist mit Grüns früherer Freundin passiert? Wir tänzeln um diese Fragen herum in einer sanften, ausweichenden Prosa, die schöne Sätze formen und faszinierenderweise gleichzeitig verschwommen, unklar bleiben und dennoch präzise sein kann. Erzählt wird aus Grüns Sicht, die Patientin kommt nur durch seine Perspektive zu Wort, und am Ende stellt man fest, dass es offenbar große Lücken gibt in seinem Bericht. Ein seltsames, sehr starkes Buch über die Grenzen zwischen Machtausübung und Zuneigung, über einen, der andere pflegen soll, aber in Wahrheit selbst nicht gesund ist.
Ungefähre Tage von Annika Domainko ist erschienen bei C. H. Beck.