Bücherwurmloch

Mieko Kawakami: Heaven

„Wenn wir es schaffen würden, egal, was man mit uns macht, nichts zu sagen, für den Rest unseres Lebens zu schweigen, könnten wir dann – irgendwann – zu Dingen werden?“

Das fragt Kojima den namenlosen Ich-Erzähler, den sie Schielauge nennen, als sie gemeinsam unterwegs sind zum Heaven. Was das ist, weiß er nicht, die Klassenkameradin, die ihm zur Freundin geworden ist, will es ihm zeigen. Was sie verbindet, ist das Mobbing, das beide erleben. Der Ich-Erzähler, weil er schielt, Kojima, weil sie sich nicht wäscht und unmodisch kleidet. Welchen Grund sie dafür hat, erfährt er nach einer Weile – denn Kojima vertraut sich ihm an. Die beiden schreiben sich heimlich Briefe, kleben sie unter ihre Schultische, fiebern der Antwort des anderen entgegen, haben plötzlich etwas, für das es sich zu leben lohnt. Denn ansonsten ist da nicht viel: Sein Vater hat ihn bei der Stiefmutter zurückgelassen, ihre Mutter hat wieder geheiratet. Zuhause erfahren beide Kinder keinen Rückhalt und keine Liebe, sie werden nicht vernachlässigt, aber es gibt keine Kommunikationsebene, keine Möglichkeit, von ihrem Leid zu erzählen. Und die anderen Kinder sind brutal. Sie denken sich jeden Tag neue Grausamkeiten aus, mit einer erschreckenden Beiläufigkeit. Als der Ich-Erzähler wegen seiner Verletzungen ins Krankenhaus muss, erfährt er etwas, das sein Leben verändern könnte – aber Kojima reagiert darauf völlig unerwartet.

Mieko Kawakami, die mit „Brüste und Eier“ weltbekannt wurde, schlägt in „Heaven“ einen ganz anderen Ton an. Erzähltechnisch hat mir dieser Roman wesentlich besser gefallen, weil er nicht so ausufernd ist. Thematisch ist er erneut modern und am Punkt, greift wieder ein großes gesellschaftliches Problem auf, das es nicht nur in Japan gibt. Ungeschönt schildert sie das Verhalten mobbender Jugendlicher, und das zu lesen, bohrt sich tief rein. Ich muss gestehen, dass sie mich ab der Hälfte mehr und mehr verloren hat, weil der „Dawson’s Creek Effekt“ aufgetreten ist: wenn junge Menschen Gespräche führen, bei denen man kopfschüttelnd denkt, dass so doch wirklich niemand spricht. Die seitenlangen philosophischen Dialoge zwischen Opfer und Peiniger waren mir zu meta und unglaubwürdig, ich glaube nicht, dass sie derart reflektiert miteinander reden würden. Aber ich mag mich täuschen, vielleicht seht ihr das anders. So oder so ist „Heaven“ ein einprägsames, wichtiges, aufrüttelndes Buch, das wieder einmal zeigt, wie tiefgreifend seelische Verletzungen sind, selbst oder vor allem wenn sie unbemerkt bleiben.

Heaven von Mieko Kawakami ist erschienen bei Dumont.

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