„Lachen oder weinen, die ewige Frage“
„Dreißig Jahre Wiedervereinigung und keiner der ehemaligen Nachbarn war zurückgekommen.“ Jan lebt mit seinem Vater dort, wo sonst kaum noch jemand lebt: am Rand der alten Plattenbauten, am Dänischen Bettenlager, und das Krankenhaus, in dem er arbeitet, wird geschlossen. Doch bevor es soweit ist, bekommt er von einem Patienten eine geheimnisvolle Kiste voller Dokumente und Briefe, die mit dem berühmten Maler Georg Baselitz zu tun haben. Und, so behauptet der alte Mann, mit Jans Familie. Ist das wahr? Welche Geheimnisse hat Jans verstorbene Mutter mit ins Grab genommen? Was weiß er nicht über die DDR-Vergangenheit seiner Eltern? Während Jan sich weigert, sich damit auseinanderzusetzen, entspinnt sich rückblickend die Geschichte von Georg Baselitz und seinem Bruder, von Bespitzelung und Verrat in einer längst vergangenen Zeit.
Als Österreicherin habe ich ein seltsames Verhältnis zur DDR: Sie kommt mir vor wie Fiktion. Weil ich so viel über sie gelesen habe, und immer nur in Büchern. Es fasziniert mich, dieses Eingesperrtsein hinter einer Mauer, dieses Getrenntwerden durch eine willkürliche Grenze – stets aufs Neue überlege ich mir das, male ich es mir aus. Und jetzt erneut ein DDR-Roman, ich muss schon fast schmunzeln, dass einer, der so jung ist wie Lukas Rietzschel, aber eben selbst in Ostsachsen geboren, ihn geschrieben hat, wo das doch als Ritterschlag gilt in der deutschen Literaturwelt. Einen melancholischen, getragenen, resignierten Ton hat er gefunden für sein Buch, in dem der Generationenwechsel mitschwingt: Ja, es betrifft uns noch. Aber es ist halt jetzt doch schon lange her. Nicht ganz erschlossen hat sich mir, wozu der Autor Jan als Figur einführt, wenn der sich gar nicht beschäftigen mag mit den Unterlagen, sodass seine Perspektive zur Rahmenhandlung verkommt, während sowieso auktorial von Georg Baselitz‘ Bruder und später von Jans Eltern erzählt wird. Jans Verweigerung steht vielleicht für die Einstellung der jungen Generation: Geht uns weg mit dem alten Kram, und die Eltern, die wollen nichts preisgeben. Die Geschichte ist gut, das Buch ist wohltemperiert, alle Infos sind da, die Mischung aus Fiktion und Realität gelungen. Und offenbar beschäftigt die DDR die Schreibenden auf lange Sicht, auch jene, die wie Lukas Ritzschel nach dem Mauerfall geboren sind, müssen sie aufarbeiten. Das hat er sehr gewissenhaft getan, und er hat Worte gefunden für das große deutsche Schweigen.
Raumfahrer von Lukas Rietzschel ist erschienen bei dtv.