„Eine Familie ließ sich so leicht nicht loswerden“
Johannes ist geschwommen auf seiner Flucht nach Rumänien, durch die Donau, allein. So hätte es nicht sein sollen, David hätte mitkommen sollen, stattdessen hat Johannes sich ohne ihn auf den Weg gemacht, hat ohne ihn ein neues Leben begonnen. Es geht ihm gut jetzt, ein paar Jahre später, er hat eine beste Freundin und Arbeit, er ist Hörgeräteakustiker und immer noch erscheinen ihm viele Annehmlichkeiten im Westen wie kleine Wunder. Und dann muss er zurück. Dann kommt die unvermeidliche Nachricht, der Vater ist gestorben, und Johannes reist zum ersten Mal in die entgegengesetzte Richtung, in das Land, das er verlassen hat, zu der Familie, der er ausweichen wollte, zu der Frage, wo dieser Mann geblieben ist, den er nicht vergessen kann.
Nadine Schneider, die mit zahlreichen Preisen bedacht ist und dieses Jahr so mutig war, in Klagenfurt zu lesen, hat einen Roman geschrieben über einen, der geflohen ist und dabei mehr verloren hat als seine Heimat. Das Motiv ist altbekannt: der junge Mensch, der das Land verlässt, der junge Mensch, der in das Land zurückmuss. Wie immer ist es ein Todesfall, der das neu aufgebaute Leben durcheinanderwirft, der die Rückkehr erzwingt, und so gondelt der Protagonist mit dem ausgeliehenen Auto durch die Dörfer auf der Suche nach dem einen, aus dem er kommt. Schön finde ich die groß angelegte Metapher des Gehörverlusts, die sich durch das gesamte Buch zieht, einerseits weil Johannes schwerhörigen Menschen hilft, andererseits, weil der Vater durch den Hörverlust ins Stolpern kam, und letztlich, weil Johannes selbst Probleme hat, zu hören, was gesagt wird. Wie viel von dem, was wir wahrnehmen, möchten wir lieber nicht hören? Und was gab es unter Ceaușescu alles, was niemand hätte hören dürfen? Die Auflösung, was mit David geschehen ist, ist ebenso logisch wie brutal. Mit einem feinen Gespür für Zwischentöne und sehr sprachsicher erzählt Nadine Schneider eine Geschichte, die schon hundertfach erzählt ist, die aber an zeitloser Relevanz behält: weil unzählige Menschen Gewässer durchqueren auf der Suche nach einem besseren Leben, weil mein eigener Großvater einst durch die Mur geschwommen ist auf der Flucht vor Titos Regime, weil wir mehr Verständnis brauchen für diese Biografien. Und weil es irgendwann keine Liebe mehr geben soll, die „nicht sein darf“.