„Aber Wissen und Wissenwollen sind sehr verschiedene Sachen“
„Entweder nämlich ist man hier in der Gegend redselig, sehr sogar. Oder man schweigt. Ein Dazwischen gibt es nicht.“
Die Männer, die sagen meistens nur Mhm. Sonst nichts, aber die Frauen können die unterschiedlichen Mhms deuten. Zwei Weißbärtige gibt es im Dorf, der eine ist Ilja, er sagt das Wetter aufgrund des Röhrchens voraus, der andere ist Pjotr, er sagt das Wetter aufgrund des Flusses voraus. Die Leute glauben entweder dem einen oder dem anderen, lesen und schreiben kann hier niemand. Das Dorf ist irgendwo in der Einöde Russlands, so abgeschieden, dass 1918 noch nicht einmal die Kunde vom Ende des Krieges dort angekommen ist. Was jedoch sehr wohl ankommt, ist ein junger Mann, und der entscheidet sich offenbar auch noch dazu, zu bleiben.
„Auch Annuschka hat ihre Geheimnisse, und es kommen täglich neue dazu. Mindestens ein Geheimnis pro Tag, darunter macht sie es neuerdings nicht.“
Iljas Enkelin Annuschka freundet sich mit dem geheimnisvollen Fremden an, und dann hat das Dorf nicht mehr viel Zeit, bis die Realität den Weg über den Fluss findet.
Yulia Marfutova, selbst in Moskau geboren, hat ein zartes, lieblich-schönes Buch geschrieben über das Ende einer Zeit. Der Himmel vor hundert Jahren erzählt von Aberglauben und Patriarchat, von harter Arbeit und längst vergangenen Ritualen, vom Widerstand gegen Veränderungen, es ist exakt an der Grenze zwischen Fiktion und Mystik, Realität und Fortschritt angesiedelt. Der poetische, fast schon kindlich-poetische Ton ist schön und besonders, macht das Buch zu einer erstaunlich leichtfüßigen Lektüre. An manchen Stellen hätte ich mir mehr Aussagekraft und weniger hochartifizielle Märchenhaftigkeit gewünscht, der Zauber hat bei mir nicht durchgehend gewirkt. Magische Elemente, politische Metaphern, Geheimnisvolles und Unheilvolles, dazu viel atmosphärisch angedeutete Befindlichkeiten: Das erwartet euch in diesem irgendwie aus der Zeit gefallenen Roman.
Das Wetter vor hundert Jahren von Yulia Marfutova ist erschienen bei Rowohlt.