Bücherwurmloch

Megan Hunter: Die Harpyie

„Ein Loch, ein Nichts, ein Ort, an dem ich noch nie gewesen war“

„Manchmal schien mir das das Schlimmste an der Ehe zu sein: Man wusste so genau, was jeder Tonfall, jede Geste, jede einzelne Bewegung bedeuteten. Schon bevor all das passierte, hatte ich mich gelegentlich nach einem Missverständnis gesehnt, danach, keine Ahnung zu haben, was er gerade meinte.“

Missverständnis gibt es zwischen Lucy und Jake keines, vielmehr einen klassischen Betrug: Jake hatte Sex mit seiner Kollegin. Als Lucy das herausfindet, reagiert sie abgeklärt, kümmert sich weiter um die zwei Söhne, als wäre nichts geschehen. Und doch: Jake bietet ihr an, dass sie ihn zum Ausgleich dreimal bestrafen darf. Sie akzeptiert das Angebot, und schnell zeigt sich, dass ihre Abgeklärtheit nur äußerlich ist, innerlich brodelt es. Eine tiefgehende Unzufriedenheit, sein Verrat, die eigene miserable Kindheit – Lucy ist wie ein Kessel, der mehr und mehr unter Druck gerät. Einerseits spielt sie die liebevolle Mutter, die Weihnachtsfeiern und Kindergeburtstage organisiert, andererseits ist sie getrieben von einem Wunsch nach Vergeltung, der über Jakes Betrug hinausgeht. Und Lucy war immer schon fasziniert von den Harpyien, den Rachegöttinnen mit Krallen und Flügeln.

Dieses Buch ist schlichtweg großartig. Es ist perfekt austariert zwischen Düsternis und Alltäglichkeit, und sein Erfolg bezeugt, dass viele sich darin wiederfinden. Megan Hunter ist es faszinierend gut gelungen, ihre Protagonistin fühlbar zu machen: Ich glaube ihr jede Bewegung, jede Regung. So nah ist man an Lucy, dass Jake zum Statisten verkommt – keine Ahnung, was er eigentlich denkt und will. Und egal ist es irgendwie auch, wichtig ist nur Lucy. Ein heftiger Sog entwickelt sich, ich habe das Buch an einem einzigen Abend weggesaugt. So gut die Geschichte ist, so schlecht ist ihr Ende: Ab der dritten Bestrafung rutscht es, man muss es so gnadenlos sagen, vollkommen ab, der Schluss ist verschwurbelt, unverständlich und vage, sodass hinterher mehr Fragen offen sind als beantwortet. Das ist schade, denn mit einem konsequenten Ende – das ich mir wegen der aufgebauten Spannung spektakulär ausgemalt habe – könnte dies ein wahres literarisches Gourmetstück sein. Bis kurz vor Schluss ist es das aber auch, weshalb ich es euch dennoch absolut empfehlen möchte. Es hat mich nachhaltig beschäftigt und beeindruckt.

Die Harpyie von Megan Hunter ist erschienen bei C. H. Beck.

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