Bücherwurmloch

Marina Abramović: Walk through walls

„The piece sprang from the question I’ve always asked, and am still asking: What is art?”
Als ich 2017 in der Schirn in Frankfurt eine Ausstellung mit Arbeiten von Ulay und Marina Abramović gesehen habe, wollte ich mehr über diese faszinierende Frau und ihre aufsehenerregenden Performances erfahren. Die kurzen Filme, die ich gesehen habe, von ihr und Ulay, die nackt am Eingang des Museums stehen, sodass jeder, der hineinmöchte, sich an ihnen entlangzwängen muss, die Bilder, auf denen sie voller Blut ist, nackt auf einem Eisblock, haben mich noch lange beschäftigt. Nun habe ich endlich ihre Autobiografie gelesen oder besser: verschlungen. Die Sache mit Autobiografien ist, dass ich ihnen nicht glaube. Denn wer von uns kann sich schon wirklich an alles erinnern, noch dazu an Erlebnisse, die Jahrzehnte her sind? Was aus meiner Kindheit, das ich für gesichert halte, hat sich wirklich so ereignet, ist die Erinnerung nicht vielmehr überlagert von Erzählungen, von dem, was ich glauben will? Das nur vorweg, weil ich finde, dass man Autobiografien immer mit Vorsicht begegnen sollte – das bestätigen in diesem Fall auch die Vorwürfe, Marina Abramović habe manches weggelassen und verändert. Aber das ist wieder die Wahrheit der anderen, und so oder so: Diese Künstlerin ist eine unheimlich beeindruckende, willensstarke, einzigartige Persönlichkeit.

Aufgewachsen im kommunistischen Belgrad, gelingt es ihr erst im Alter von 29 Jahren, der herrschsüchtigen Mutter zu entkommen. Die Kunst ihrer frühen Jahre ist fruchtlos, aber sie bleibt es nicht: In ihrer Zusammenarbeit mit Ulay, mit dem sie 12 Jahre lang in engster Symbiose lebt, wird Marina bekannt – und später, ohne ihn, wird sie berühmt. Sie erzählt in diesem Buch auf sehr persönliche Weise von diesem Weg, gibt viel Privates preis, stellt sich nie als unverletzbar dar, ganz im Gegenteil. Sie erklärt ihren Zugang zu den Performances, bei denen sie an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geht und die, ich habe sie nie erlebt, extrem verstörend gewesen sein müssen. Marina Abramović, mittlerweile über 70 Jahre alt, hat in ihrem Leben viel gefastet und gehungert, sich selbst Schmerz zugefügt, meditiert und fremde Kulturen erforscht, sie ist entlang der Chinesischen Mauer gewandert und hat mit tibetischen Mönchen gearbeitet, sie war im Dschungel und in der Wüste, sie hat gefragt und gelernt und zugehört. Wer dieses Buch liest, versteht die Intention ihrer Kunst (und auch, dass man daran nur Satanismus sieht, wenn man blind ist für andere Deutungen), versteht aber auch, dass sie mit Sicherheit ein schwieriger Mensch ist. Interessant finde ich, dass Marina als starke Frau erlebt, was alle starken Frauen erleben: dass die Männer schwächer sind als sie. Und sie dafür bestrafen. Mag sein, dass sie ein komplizierter Charakter ist, mag sein, dass sie ihre Biografie durch ihren eigenen Filter betrachtet hat (und ich denke: Es gibt wohl kaum einen anderen Weg). Unbestritten aber ist, dass Marina Abramović für viel Wind in der Kunstwelt gesorgt hat – ihre Performance The artist is present haben Zigtausende gesehen, die sich sonst vielleicht nicht für Museen interessieren, sie hat außerdem dafür gesorgt, dass Performances wiederaufführbar und auf Video reproduzierbar wurden. Ihr Vermächtnis ist auf jeden Fall gewaltig und hat einen lauten Nachhall.

Auf Deutsch ist Durch Mauern gehen bei Luchterhand erschienen.

 

2 Comments to “Marina Abramović: Walk through walls”

  1. Liebe Mareike

    Ja, Marina Abramović ist wirklich eine absolut beeindruckende Frau und in ihrer kompromisslosen und der Sache dienenden Art mein künstlerisches Vorbild. Ich verfolge sie und ihre Arbeit seit zehn Jahren und staune immer wieder…

    Ich hatte das Glück, 2019 in Florenz eine riesige Ausstellung über sie und ihre Kunst zu sehen. Viele Installationen, biografische Hinweise und auch live-Performances anderer Künstler*innen waren da zu sehen. Darunter die eine berühmte Performance, in der man zwischen einer nackten Frau und einem nackten Mann hinduchrgehen muss/kann, die du auch schilderst, und eine weitere sehr berühmte Performance, bei der die Künstlerin auf dem Rücken auf einer Matratze liegt und so lange schreit, bis die Stimme bricht. Das war enorm spannend und auch als Zuschauerin fordernd.

    Alles Liebe an dich und danke, dass du mich in den Erinnerungen an diese grandiose Lektüre hast schwelgen lassen
    Livia

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