„Erst jetzt merkt sie, dass sie einen braunen und einen schwarzen Schuh anhat“
Eine Witwe findet in dem zweiten, identischen Koffer ihres Mannes, der während einer Flugreise verstorben ist, sein zweites Leben. Ein geschiedener Mann rollt jeden Abend seinen Schlafsack in einer der Wohnungen aus, die er als Makler vermieten soll, weil er keine eigene Bleibe hat. Die Figuren in den Kurzgeschichten von Claudia Piñeiro sind ganz gewöhnliche Menschen, denen etwas ganz Gewöhnliches passiert. Und trotzdem schafft es die Autorin aus Buenos Aires – die im Klappentext „Shootingstar der argentinischen Literatur“ genannt wird, ihr kennt sie vielleicht wegen der Donnerstagswitwen aus dem Jahr 2005 –, dass man diesen Menschen trotzdem für einen Augenblick folgen, zuhören, zuschauen möchte. Es geht in diesen Short Storys um kleinere und größere Geheimnisse, um absonderliche Ideen und Nachrichten, auf die man sehnsüchtig wartet.
Ich mag Kurzgeschichten, die das Versprechen in ihrem Namen halten, indem sie tatsächlich sehr kurz sind. Momentaufnahmen, kleine Szenen, fünf Seiten, mehr nicht, und im Idealfall ein verblüffendes Ende, so sind sie mir am liebsten. Die Storys von Piñeiro sind nicht alle interessant, nicht alle spannend, aber im Großen und Ganzen bietet dieses Buch lauter Kurz- und Kürzestgeschichten, die sich sehr angenehm zwischendurch wegzischen lassen. Sie lassen uns lächeln und nicken, sind manchmal pfiffig, manchmal alltäglich. Eine nette, unterhaltsame Sammlung voller Lügen und Betrug, illegale Abtreibung und die Notwendigkeit von Freiraum, erzählt in präzisem Stil, und man denkt unweigerlich: Ich kenn das, natürlich, wer nicht?