„I know what it’s like to be afraid“
Lydias gesamte Familie wird brutal hingerichtet: Als sie sich gerade mit ihrem Sohn Luca im Badezimmer befindet, erschießen die Handlanger des Drogenbarons Javier Crespo Fuentes ihren Mann, ihre Mutter und alle Verwandten. 16 tote Menschen. Lydia und Luca sind nicht nur plötzlich vollkommen allein, sie sind auch in Gefahr, denn natürlich sollten die beiden bei diesem Attentat ebenfalls sterben. Lydias Ehemann, der als Journalist gearbeitet hat, hat eine Enthüllungsstory über einen der gewalttätigsten Männer Mexikos geschrieben – ohne zu berücksichtigen, dass er damit sein eigenes Todesurteil und das seiner Familie unterzeichnet hat. Lydia muss sofort mit ihrem Sohn fliehen. Doch wo sollen sie hin? Sie haben ein wenig Geld, ja, und sie sollten die Stadt verlassen, am besten das Land. Können sie es über die Grenze schaffen, können sie in die USA einreisen und dort Zuflucht finden?
Jeanine Cummins hat einen Roman geschrieben, der a) sehr spannend b) sehr aufreibend c) sehr gehyped und d) vieldiskutiert ist. Aber der Reihe nach: Man folgt Lydia und Luca auf ihrer Flucht geradezu atemlos, und das Schlimme daran ist, all das geschieht wirklich. Jeden Tag, jede Nacht. Überall werden Menschen erschossen, ausgeraubt, vergewaltigt, grausam ermordet, ihnen wird Asyl verweigert und jede Hilfe. Sie sind arm, sie sehen keinen anderen Ausweg als „La Bestia“, die Fahrt mit den Güterzügen, und ja, das ist so gefährlich, wie es klingt. Die Autorin schildert die Route nach Norden, el norte, die Ausweglosigkeit, die Panik auf sehr eindringliche Art und Weise. Viele haben gesagt, der Roman sei zu sehr auf eine Verfilmung hin geschrieben, aber das ist eine verrückte, anmaßende Kritik, vielmehr macht das Szenische, Schnelle, Filmische das Leseerlebnis so eindrücklich. Die Diskussion hatte aber vielmehr zum Thema, dass Jeanine Cummins, die vier Jahre lang für diesen Roman recherchiert hat und auf das Schicksal der migrantes aufmerksam macht, das Leid der Migranten vermarktet. Kulturelle Aneignung wurde ihr vorgeworfen, und die Debatte ist in den USA derart eskaliert, dass es Morddrohungen gegen die Autorin gab und Lesungen abgesagt werden mussten. Ich kann verstehen, dass es Menschen aufregt, wenn eine erfolgreiche, gut situierte weiße Frau über das Schicksal von Flüchtenden schreibt – gleichzeitig aber nicht. Denn ich denke, es ist wichtig, dass eben über das Schicksal von Flüchtenden geschrieben wird, dass jemand mit dem Finger auf diese Probleme zeigt, dass sie erlebbar, lesbar, nachvollziehbar gemacht werden. Darum geht es doch: dass Literatur uns sensibilisiert für das, was in der Welt geschieht.