„Kein Volk darf ein anderes unterdrücken und selbst in Sicherheit und Frieden leben“
Wie weit kann ein Mensch zählen, wie viele Perspektiven hat ein und dieselbe Geschichte, beispielsweise der Konflikt zwischen Israel und Palästina? So viel ist geschehen. So viele sind gestorben. So unwahrscheinlich ist es, dass jemals Frieden herrschen wird. Ein Apeirogon ist eine mathematische Form mit einer zählbaren Anzahl unendlicher Seiten. Und zugleich der Titel von Colum McCanns neuem Roman, jenem irischen Schriftsteller, der sich in seinen Bestsellern bereits zuvor realer Figuren angenommen hat (in „Der Tänzer“ und „Die große Welt“ etwa, mein absolutes Lieblingsbuch von ihm ist „Zoli“). Rami Elhanan und Bassam Aramin gibt es wirklich, sie sind zwei Männer, die das Schicksal eint: Beide haben ihre Tochter verloren. Abir ist im Alter von zehn Jahren durch ein Gummigeschoss im Kopf gestorben, Smadar war dreizehn, als Selbstmordattentäter sie in den Tod gerissen haben. Rami ist Israeli, Bassam Palästinenser. Und sie sind Freunde. Sie suchen nicht Vergeltung, nicht Rache. Sie bemühen sich um Versöhnung.
Apeirogon ist ein Wahnsinn von einem Buch. Es ist messerscharf und bitter, traurig, verstörend, überfordernd, poetisch, schmerzhaft und großartig. Wie erzählt man eine Geschichte, die so oft schon erzählt wurde? Die so viele Seiten hat und so viele Wahrheiten, jede davon berechtigt? Colum McCann hat 1000 Mini-Kapitel geschrieben, er zählt bis 500 und dann wieder bis 1. Manche bestehen nur aus einem Satz, einem wiederkehrenden Gedanken, einer Beobachtung, andere sind gefüllt mit historischen Fakten oder Informationen über das Bauen von Bomben, Vögel, Seiltänzer, die Vergangenheit, den Krieg. Es fühlt sich an, als steckten tausend Bücher in diesem einen. Selten hat mich ein Roman in seiner unbestechlich klugen Machart derart fasziniert. Apeirogon ist so durchdacht, dass ich verblüfft und respektvoll meinen Hut ziehe. Und das, wo ich dicke Bücher sonst meide, weil sie mich träge machen und zermürben. Aber ich konnte nicht aufhören zu lesen, ich war regelrecht süchtig. Apeirogon ist für mich, und das erstaunt mich selbst, das beste Buch des Jahres. Ein Mosaik aus Worten, ein Kaleidoskop aus Reue, Sehnsucht und Gewalt. Ein Meisterwerk, das zu schreiben sehr mutig war. Eine Chronik dessen, was Menschen einander antun – und wie schwer es ist, der Spirale aus gegenseitigem Hass den Frieden entgegenzusetzen. Israel und Palästina sind eine Wunde, die nicht aufhört zu bluten. Der Schmerz ist zählbar unendlich.