Bücherwurmloch

Lucia Leidenfrost: Wir verlassenen Kinder

„Die Langeweile ist wie der Hunger. Beide werden von Tag zu Tag größer“
Es hat einmal einen Krieg gegeben, und vielleicht gibt es bald wieder einen. Die Erwachsenen sind gegangen, um Geld zu verdienen, um Arbeit zu finden, aber die Kinder sind noch da. Die Kinder sind allein. Die Kinder sind auf sich gestellt. Die Schule ist geschlossen, das Wirtshaus auch. Der Laden macht zu, es gibt kein Essen mehr zu kaufen, auch Geld haben sie nicht. Was übrig ist, ist das Dorf mit seinen leeren Häusern, mit seinen wispernden Erinnerungen, mit seinen enttäuschenden Geschichten. Mila lebt hier mit ihren kleinen Schwestern, sie versucht, sich um sie zu kümmern, doch viel hat sie nicht zur Verfügung. Denn den verlassenen Kindern gehen nicht nur die Lebensmittel aus, sondern auch die Perspektiven.

In einer sehr eigenwilligen, schnörkellosen Sprache, die sich dem Leser regelrecht ins Hirn hämmert, erzählt die österreichische Autorin Lucia Leidenfrost, die mich bereits mit ihrem Erzählband Mir ist die Zunge so schwer beeindruckt hat, von Hoffnungslosigkeit und Anarchie. Was geschieht, wenn Kinder keine Regeln befolgen, weil keine Regeln mehr aufgestellt werden. Wie verhalten sie sich dann? Wer führt sie an und wohin? Warum wenden sie sich gegeneinander? Ist das die eine logische Konsequenz? Kurioserweise hatte ich kurz zuvor einen Artikel gelesen über Kinder in Ostblockstaaten, die tatsächlich so leben wie die Protagonist*innen in Lucia Leidenfrosts Roman. Sie bleiben bei den Großeltern, weil die Eltern zum Arbeiten woanders hingehen müssen, manchmal sterben diese Großeltern, und die Eltern können trotzdem nicht heimkommen. Das ist also nur bedingt Fiktion, für viele Menschen auf dieser Welt ist das Realität. Natürlich hat Lucia Leidenfrost die Lage mehr und mehr zugespitzt, sie treibt alles auf ein Ende, einen Höhepunkt zu, den es so in Wahrheit (hoffentlich) nicht geben muss. Dieses Buch ist eine ebenso bittere wie wichtige Lektüre, die rigorose Umsetzung einer großartigen Idee. Es geht um zerrüttete Familien, um den Druck des Kapitalismus, um die Unmöglichkeit, Zusammenhalt zu finden, weil immer das Recht des Stärkeren greift und jeder nur auf sich selbst schaut. Eine anstrengende, aber lohnenswerte Lektüre.

Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost ist erschienen bei Kremayr & Scheriau.

 

 

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