Bücherwurmloch

Inès Bayard: Scham

„Sie sind nur Löcher. Riesige Lücken aus weichem Fleisch. Sündhafte, feuchte Wüsten, durch die sich der Mann wie Gott seinen Weg bahnt“
Ich habe lange überlegt, ob ich zu diesem Buch etwas sagen soll, und vor allem: was. Denn einerseits finde ich es gut, wenn über sexualisierte Gewalt gesprochen wird, ich finde es wichtig, von Vergewaltigung und Missbrauch zu erzählen, das Tabu aufzubrechen. Andererseits hatte ich mit diesem Roman so meine Probleme, die vor allem darin gründen, dass er arg schwarz-weiß gezeichnet ist. Überspitzt gesagt: die Frau das arme Opfer, die Männer die bösen Schweine. Das ist mir zu simpel, und schade finde ich auch, dass Inès Bayard ihre Charaktere nicht tiefer ausgelotet hat. Maries Leben ist angeblich perfekt, in Wahrheit ist sie schon vor der Vergewaltigung durch ihren Chef unglücklich, alles ist fad. Ihr Mann Laurent, von dem immer wieder gesagt wird, er liebe sie so sehr, nimmt sie nicht wahr. Auch nicht, als sie verletzt und zerschunden ist. Auch nicht, als sie dem Abgrund nah ist und schließlich hineinfällt, eher: hineinspringt.

„Manchmal fragt sie sich, wann ihrem Mann wohl auffallen wird, dass es ein Problem gibt. Vielleicht nie. Er verschließt die Augen vor den Tatsachen, liebt seine Frau von ganzem Herzen, ahnt nichts von ihrer Verzweiflung.“

Ja eh. Der ach so blinde Mann, und da hat es sich Inès Bayard in meinen Augen ein wenig zu einfach gemacht: Die Frau schweigt, nimmt ihre Opferrolle an, kuschelt sich richtig hinein in diese Opferrolle, richtet ihren Hass erst nach außen, dann nach innen, niemand hilft ihr, alle sind’s blind und bös. Da hätte ich mir mehr Differenzierung gewünscht, mehr Ambivalenz. Es ist zudem bei französischen Autor*innen oft so, dass sie kühl bleiben, ihre Figuren aus der Distanz beschreiben, wie in einem Bericht. Ich habe dann Schwierigkeiten, mich hineinzufühlen, und Marie hat mir das gaz besonders schwer gemacht. Ich weiß, dass es Frauen wie sie gibt. Ich kann sie verstehen. Ich kann alles an den Geschehnissen nachvollziehen. Und trotzdem haben die Klischees und Stereotype mich zum Teil wahnsinnig gemacht. Am besten zeigt das dieses Zitat:

„Während sie brav neben ihrem Mann sitzt, denkt sie plötzlich, dass sie das perfekte Beispiel für das ist, was die Gesellschaft missbilligt: eine schwache, dicke, feige Frau, die ihr Kind nicht liebt, ihre Familie im Stich lassen will, sexuell kaum aktiv ist, ineffizient und überfordert im Beruf, und schon zu alt.“

Das beschreibt diese Protagonistin perfekt, die sich selbst nur durch die Augen des Patriarchats wahrnimmt. Generell aber hoffe ich, dass Bücher wie dieses dazu beitragen, dass nicht mehr beschämt geschwiegen wird, sondern Geschichten über sexualisierte Gewalt ihren Platz finden. Dass darüber gesprochen wird und letztlich mehr dagegen getan wird. Das ist natürlich eine naive Hoffnung, doch was bleibt mir sonst? Scham ist laut Eigenbeschreibung ein Buch über eine Vergewaltigung und die „Frage, wie eine Frau damit umgeht“. Der Roman selbst als Antwort kann nur eins bedeuten: Nicht so. Bitte nicht so.

Scham von Inès Bayard ist erschienen bei Zsolnay/Hanser.

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