„Ich bin kein Anhalter. Ich bin ein Wegweiser“
„Es ist merkwürdig, obwohl Isa so aufmerksam ist, kommt sie nicht auf die Idee, dass jemand, der etwas hinter seinen Rücken hält, womöglich etwas zu verbergen hat.“
So endet das erste Kapitel dieses Buchs, und das lässt den Leser aufhorchen und wachsam werden. Was soll hier verborgen werden, vor wem, von wem? Ist der Ich-Erzähler Tiddo, der mit seiner Frau Isa und dem gemeinsamen Sohn Jonathan Island bereist, verlässlich? Die drei wirken anfangs wie eine normale Familie. Ja, da gibt es die üblichen Reibereien, aber eigentlich scheint alles gut zu laufen. Doch dann nehmen sie einen Anhalter mit, den Isländer Svein, der ihnen ein paar schöne Plätze abseits der Touristenmassen zeigt – und den sie dann nicht mehr loswerden. Ist dieser tätowierte Hüne überhaupt, wer er vorgibt zu sein? Durch seine Anwesenheit zerbricht das ohnehin bereits fragile Gleichgewicht zwischen Tiddo und seiner Frau – und Tiddo sieht keinen anderen Ausweg, als etwas ebenso Verrücktes wie Lebensgefährliches zu tun.
„Es ist schön, dass ich meinen Gemütszustand so gut kontrollieren kann, selbst bei schlechtem Wetter und Problemen. Das ist gut für uns alle.“
Der niederländische Autor Gerwin van der Werf treibt in diesem Roman ein amüsantes Spiel mit dem Leser. Bei einem Ich-Erzähler hat man keinerlei Möglichkeit, anhand anderer Perspektiven zu überprüfen, ob er die Wahrheit sagt, man sieht nur durch seine Augen. Umso gefinkelter, wenn man langsam merkt, dass vielleicht nicht jede Darstellung der Realität entspricht. Ein spannendes Setting und dazu die wilde Landschaft Islands: Der Anhalter punktet mit einer originellen Story und zerlegt geradezu meisterhaft eine vermeintlich idyllische Familie. Es ist ebenso faszinierend wie erheiternd, dass der laut lachende, attraktive Anhalter innerhalb kürzester Zeit das Dreiergespann vollkommen sprengt – und dass Tiddo so typisch männlich reagiert: besitzergreifend, herrisch, unbedacht. Ich muss gestehen, dass mich das Cover überhaupt nicht anmacht und ich nie nach dem Buch gegriffen hätte, dann aber froh war, dieses Lesevergnügen nicht verpasst zu haben. Es hat mich gut unterhalten, ich bin ein großer Fan doppelbödiger Geschichten im Stil Herman Kochs, mit dem Gerwin van der Werf auf jeden Fall mithalten kann. Empfehlung!
Der Anhalter von Gerwin van der Werf ist erschienen bei Fischer.